Von Thomas Gärtner

Rapunzel hatte geübt. Sie war gut vorbereitet auf ihren großen, brutalen Freund, der sie in seinen Pranken hielt und nicht mehr losließ. Und da stand er auch schon vor ihrer Tür.
“Rapunzel-Püppchen!” rief es mit dunkler Stimme von dort, und eine Faust bummerte zwar sanft, aber unüberhörbar gegen das Holz. “Rapunzel-Püppchen, mach auf!”
Aber sie wollte nicht mehr sein Püppchen sein. Wollte nicht mehr mitfahren in seinem frisierten Angeberauto. Wollte nicht mehr mitreden bei seinen hirnlosen Gesprächsthemen. Wollte nicht mehr mitgehen in seine dummbrutalen Kinofilme. Und wollte nicht mehr mitmachen bei seinen idiotischen Sex-Spielchen.
Rapunzel öffnete. “Bevor du reinkommst…”sagte sie zu Bodo hinauf.
“Mach Platz, Rapunzel-Püppchen, wir unterhalten uns drinnen.”
“Bevor du hereinkommst“, wiederholte Rapunzel und lehnte sich bequem an den Türpfosten. Bodo gefiel diese Pose überhaupt nicht.
“Ich habe erstens einen neuen Freund. Mit dem ich zweitens schon geschlafen habe. Und drittens hat es mir sogar Spaß gemacht.”
“Sag das noch einmal!”
Bodos Augen wurden groß und rund wie Wagenräder.
“Es ist aus. Schluss, vorbei, Schicht, Feierabend, Sense. Begriffen?”
Rapunzel wandte sich zum Gehen. Sie war es leid, herumgeschubst zu werden, zu springen, wenn andere mit den Fingern schnippten und zu gehorchen, wenn irgendwelche aufgeblasenen Möchtegern-Prinzen sagten: “Rapunzel, lass‘ dein Haar herunter!”

Damit war jetzt Schluss, und zwar ein für allemal.
“Das finde ich aber gar nicht komisch, Rapunzel-Püppchen”, sagte Bodo und ergriff sie hart am Handgelenk, als nehme er sich nur, was ihm ohnehin gehörte.
Da begann Rapunzel, sich zu konzentrieren. Sie fühlte seinen Griff lockerer, seinen Blick unsicherer werden; seine breiten Worte waren ihm wohl im fetten Hals steckengeblieben.
Dann setzte der Schrumpfungsprozess ein.
Schon konnte sie ihm in die Augen sehen, ohne zu ihm aufschauen zu müssen, aber es war ihr nicht genug. Vor ihr schrumpfte Bodo, der den ganzen Vorgang offenbar nicht begriff, mit offenem Mund, wurde kleiner und kleiner, in dem Maße, wie Rapunzels Selbstbewusstsein wuchs, reichte ihr bis zum Rockansatz, dann nur noch bis an die Knöchel, um schließlich vor Höhe und Breite der Sohle zu verschwinden.
“Es ist endgültig aus”, sagte Rapunzel und trat mit dem Absatz nach. Ihr erster freier Tag würde ein Tag ohne Bodo sein.