Von Barbara Hennermann

Sie hätte nie schwanger werden dürfen.

Aber nun war es eben passiert.

Sie hätte das Kind nie austragen dürfen.

Aber bis ihnen klar wurde, dass sie schwanger war, war die Frist für einen mögliche Abtreibung verstrichen.

Sie lebten in einer Zweckgemeinschaft.

Er besorgte die Drogen. Sie bezahlte mit Sex.

Das Kind kam in einer Bahnhofstoilette zur Welt.

Ein Mädchen.

Sie wickelten es in ein T-Shirt und betteten es in einen alten Bambuskorb.

Den stellten sie  bei den Barmherzigen Schwestern an die Klosterpforte.

***

„Das darf doch nicht wahr sein!“ 

Schwester Aurelia stieg die Zornesröte ins Gesicht, als sie den versifften Bambuskorb vor der Tür entdeckte. 

„Jetzt stellen die Leute schon ihren Sperrmüll bei uns am Kloster ab!“ Resolut packte sie den Gegenstand ihres Ärgers, um ihn zu entsorgen. 

Ein leises Wimmern ließ sie jäh innehalten. 

„O mein Gott! Was ist das denn?“

Vorsichtig hob sie den Säugling aus dem Korb. 

„O mein Gott!“, rief sie noch einmal.

Dann packte sie das Bündel Mensch und brachte es in die Klinik.

Die Ärztin schüttelte bedenklich den Kopf.

„Wir müssen abwarten, Schwester Aurelia. Die Kleine ist in einem schlechten Zustand. Wir haben sie erst einmal richtig abgenabelt und in einem Inkubator versorgt. Wie es aussieht, leidet der Säugling unter Drogenentzug. Furchtbar. Wir tun, was wir können. Aber, wie gesagt, wir müssen abwarten, ob wir sie durchbringen.“

Die Mitschwestern hatten ihre Rückkehr bereits ungeduldig erwartet.

„Was ist mit der Kleinen?“

 Schwester Agathe übertönte wie üblich alle anderen.

Aurelia berichtete, was sie wusste.

Schwester Euphemia, die Priorin, dachte die Dinge bereits etwas weiter: „Was soll mit dem Mädchen geschehen, wenn es überlebt?“

„Wir adoptieren sie!“ Das kam von Schwester Sofia, der Jüngsten in der Runde.

Es herrschte kurz Stille.

Dann klatschten alle Beifall. 

„Das ist eine gute Idee! Lasst uns in die Kapelle gehen und Gottes Beistand für die Kleine erbitten!“

Ob es am Gebet gelegen haben mag oder am unbändigen Lebenswillen des Säuglings – das Kind erholte sich erstaunlicherweise gut, die Schwestern konnten sie nach wenigen Wochen zu sich ins Kloster holen.

Noch in der Klinik war das Mädchen auf den Namen Rosalie getauft worden.

Die Adoption erwies sich allerdings als schwierig, da unzählige bürokratische Hürden genommen werden mussten. 

Letztendlich ging sie mit viel Ausdauer und noch mehr guten irdischen Beziehungen doch über die Bühne. 

Rosi, wie sie genannt wurde, hatte nun mit einem Schlag sechs Mütter: Aurelia, Agathe, Euphemia, Sofia, Maria und Celestine.

So wuchs sie wohl behütet zu einem ernsthaften jungen Mädchen heran.

Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern lebte ein Dasein der tätigen Nächstenliebe und persönlichen Bescheidenheit. (Die sie umgebende laute Umwelt bezeichnete das gerne als „altmodisch“ oder „aus der Zeit gefallen“.)

Ohnehin geschrumpft auf die noch verbliebenen sechs Schwestern sollte nun auch Rosi diesen Weg gehen.

Vorerst im weltlichen Bereich sollte sie ausgebildet werden zur Kranken-Schwester, wie die übrigen auch.

Mit Hingabe und Verantwortungsbewusstsein stellte sie sich dieser Ausbildung.

Bald war „Schwester Rosi“ mit den wunderschönen blonden Zöpfen, dem immer freundlichen Lachen und der sanften Stimme der Liebling auf allen Stationen.

Es ging das Gerücht – aber bitte, das war wirklich nur ein Gerücht! – ,dass sich vor allem junge Männer freiwillig als Patienten auf die Station einweisen ließen, wo Rosi Dienst hatte.

Diese Entwicklung beunruhigte ihre „Mütter“.

„Was, wenn sie doch schlechte, schwache Gene ihrer Eltern hat? Wenn sie ins ´Milieu´ abrutscht?“ Aurelia hatte den Augenblick noch vor Augen, als sie Rosi vor der Pforte fand.

„Bis jetzt gibt’s dafür aber keinerlei Anzeichen!“ Der Einwand kam von Sofia.

„Hinterher ist man immer schlauer!“ Celestine war die Einzige von ihnen, die sich ein wenig in „souschel media“ auskannte und daher einen Einblick ins aktuelle Jugendgeschehen hatte.

„Dann müssen wir eben besonders gut auf sie aufpassen“, meinte Euphemia. 

Von da an wachte stets ein unsichtbares Auge über Rosis Tagesablauf.

Leise öffnete Rosi die Türe zum Krankenzimmer 315 und schloss sie geräuschlos hinter sich.

Einzelzimmer. Privatstation.

Der Patient war jung, männlich, Abkömmling einer  bekannten Industriellenfamilie  und hatte einen komplizierten Beinbruch von der Skipiste mitgebracht.

Bei Rosis Anblick erstrahlte sein Gesicht und er öffnete die Arme.

Ja. Es stimmte, was sie heimlich gelesen hatte. 

Nähe. Vertrauen. Miteinander.

Es war GANZ ANDERS als mit den „Müttern“.

Voller. Eindringlicher. Ausfüllender.

SCHÖNER.

Es war nicht nötig, viel zu wissen. Es genügte, zu fühlen.

Sie warf sich in seine Arme und kuschelte sich an ihn.

Als er sie küsste, stand die Welt still.

Es war eine heimliche Zusammenkunft, als die sechs Schwestern sich trafen.

Rosi durfte das nicht mitbekommen, nicht das Vertrauen verlieren.

Sechs von Sorge gezeichnete Mienen standen beisammen.

Agathe hatte es zuerst gesehen, als Rosi sich in Zimmer 315 schlich.

Maria hatte dann vor der Tür gehorcht und „verdächtige Geräusche“ wahrgenommen. 

Euphemia sprach aus, was alle befürchteten: „Wir müssen Rosi von hier wegbringen, bevor wieder ein Unglück geschieht.“

 

Die Verbindungen der Kongregation der Barmherzigen Schwestern funktionierten stabil.

Zwei Tage später packten Celestine und Sofia die überraschte Rosi mitsamt Gepäck in den alten Opel und brachten sie nach Tschechien zu ihren verbrüderten Schwestern.

Zurück blieben vier weinende Klosterschwestern und ein nichts wissender verliebter Patient.

Was zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, war, dass das „Unglück“ bereits geschehen war …

Die Schwestern litten bitterlich unter der Trennung.

Aber sie hielten sie für das Beste für Rosi. Trennung als Schutz. 

Keine Kontakte, um nicht „rückfällig“ zu werden.

Der Anruf der tschechischen Schwestern kam darum aus heiterem Himmel.

Aurelia nahm das Gespräch entgegen.

„No, habt ihr gedacht, Schicksal ist lenkbar? Mensch denkt, Gott lenkt!“

Aurelia wurde erst blass, dann rot im Gesicht.

Die zufällig anwesenden fünf Schwestern bestürmten sie:

„Was ist los? Was hat sie gesagt? Wie geht es unserer Rosi?“

Aurelia stellte den Lautsprecher an.

Nun hörten alle die muntere Stimme ihrer Mitschwester, die sich offenbar köstlich amüsierte:

„No, seid ihr jetzt Großmutter alle miteinander! Gleich doppelte! Rosi ist gut, Zwillinge auch.“ 

Es dauerte eine Weile, bis das Stimmengewirr einzelne, erkennbare Sätze preisgab. 

Letztendlich lief es darauf hinaus:

„Wir haben nicht gut genug aufgepasst“ und „jetzt ist es halt so“.

Schon am nächsten Tag setzte sich der alte Opel in Bewegung und Rosi wurde mitsamt den Zwillingen zurückgebracht.

Es schien, als sei die Weltordnung nun doch wiederhergestellt.

Rosi liebte ihre Ersatzmütter. Und noch mehr ihre Kinder.

Aber der Gedanke an deren Vater ließ sie nicht los.

Er fehlte ihr.

Sie brauchte ihn. Seine Kinder brauchten ihn auch.

Doch im Grunde wusste sie kaum etwas über ihn.

Es hatte sich damals alles einfach so ergeben. Und so rasch.

Schicksal. Gottes Wille …?

Arne. Irgendwas mit Autos … Das war’s dann schon.

Celestine musste ihr helfen … social media … ?

 

Das Internet ist ein Ozean voller Daten.

Einzelne Informationen irrlichtern darin herum wie winzige Fische.

Kaum sichtbar. Kaum aufzuspüren.

Der Quälgeist hinter dem Bildschirm fordert „mehr, gib mehr ein, grenze ein, sei genauer“.

Rosi wäre längst verzweifelt.

Aber Celestine war mittlerweile vom Ehrgeiz gepackt.

Stunde um Stunde, Tag um Tag, Monat für Monat arbeitete sie sich weiter durch den Datendschungel.

Die Zwillinge hatten längst ihre ersten Schritte gemacht, als sie Rosi strahlend zum Computer rief.

Und tatsächlich.

Das war er. Arne. Unverwechselbar.

Lachend lagen sich Rosi und Celestine in den Armen.

Jetzt galt es, die anderen Schwestern zu überzeugen.

„Einen Versuch ist es wert“, meinte Aurelia.

„Schon wegen der Kinder“, schloss sich Euphemia an.

„Wer weiß, vielleicht hat er Rosi längst vergessen?“ Sofia war skeptisch.

Maria schob das Kinn energisch nach vorn und sagte: „Das Gerede bringt uns nicht weiter. Wir müssen ihn ansprechen!“

„Dezent. Wir müssen dezent vorgehen.“ Agathe war die Diplomatin der Klostergemeinschaft.

So setzte Celestine eine Mail an die Internetadresse des Autokonzerns von Arnes Familie ab, die außer einem Bild von Rosi keine weiteren Botschaften enthielt.

 

In der darauf folgenden Nacht schlief außer den Zwillingen keiner im Kloster gut.

Die Sonne hatte sich noch nicht entschlossen, das letzte Grau der Nacht durch ein fahles Licht zu ergänzen, als es heftig an der Pforte klingelte.

Wie eine Schar aufgeschreckter Enten flatterten alle Schwestern auf einmal zum Tor.

Tatsächlich! Da stand er! Rosis weißer Ritter.

Ihn interessierten keine Schwestern.

„Wo ist sie? Wo ist Rosi?“

Er stürmte durch die Pforte.

„Moment, junger Mann!“ Euphemia hielt ihn am Ärmel fest.

„Warum haben Sie sich denn all die Zeit nicht hier gemeldet?“

Arne drehte sich zu ihr herum.

„Ja du liebe Güte, SIE haben mir doch verboten, nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hier noch einmal aufzutauchen! Ich habe mich daran gehalten, weil ich Rosi nicht in Schwierigkeiten bringen wollte.“

Er schüttelte ihre Hand ab und lief den Gang zur Kapelle hinunter.

Denn was er da sah, raubte ihm den Atem: Seine wunderschöne, blond bezopfte, sanfte Rosi stand da. Aber nicht alleine – an jeder Hand zerrte ein kleiner Mensch. Beide wollten sichtlich mehr Bewegungsfreiheit … die sie erhielten, als Rosi mit einem Freudenschrei die Händchen losließ und mit ausgebreiteten Armen auf Arne zu rannte.

 

***

So schloss sich der Kreis.

Rosi fand ihre Liebe wieder und ihre eigene Familie.

Die sechs Ersatzmütter der Barmherzigen Schwestern erhielten neben ihren caritativen Tätigkeiten zusätzlich ein reiches Betätigungsfeld als Omas. Denn Arne und Rosi erhöhten die Anzahl ihrer reizenden Kinder auf sechs, für jede Oma eines sozusagen.

 

Das ist für unsere Zeit schon sehr märchenhaft!

 

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