Von Simone Tröger
„Kommt, Ihr beiden Klavierspielerinnen! Dort drüben ist ein Spielplatz.“
„Au ja, Mama, dürfen wir? Wir rutschen, und Papa fängt uns auf!“
Eine kleine Abwechslung vor ihrem morgigen Auftritt in der zweckentfremdeten Sporthalle war für die Kleinen sicher förderlich, ehe sie wieder vom Applaus ihrer Zuhörer verwöhnt wurden. Mit ihren fünf Jahren waren sie virtuos und notenkundig an ihrem Tasteninstrument unterwegs. Ein Schmaus fürs Publikum.
„Da, schau mal – ein Klettergerüst!“
„Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht!!!“
„Aua, mein Arm; meine Hand…“
*
„Wir müssen mindestens drei Finger amputieren.“
„Herr Doktor, kann man das nicht wieder hinkriegen? Meine Tochter ist eine exzellente Pianistin. Ihr steht großes bevor!“
„Ausgeschlossen! Tut mir leid, Herr Bergmann! Ihre Tochter wird es verkraften. Sie ist noch jung – und Möglichkeiten gibt es viele, sein Leben lebenswert zu gestalten. Den Spielplatzbetreiber werden Sie ja wohl verklagen…“
Die Türen zum OP waren mit dieser Aussage bereits geöffnet. Die Kleine wusste nicht, was nun folgte. Man eröffnete es ihr, aber in dem Alter verstand man das noch nicht. Außerdem war ein Krankenhaus schließlich zum Gesundmachen da. Der Vater der Mädchen musste sich dem beugen.
*
„Nein, Henni, deine Schwester kann nicht mitspielen. Du schaffst das allein, sie wird zuhören. Ihre Finger sind nicht mehr heil, das weißt du doch.“
Es gab standing ovations für die Darbietung des Musikstückes. Auch ohne die Begleitung ihrer Schwester badete Henni im Beifall und dem lautstarken Jubel der Zuhörer.
Im Laufe der Zeit folgten Konzerte im Kulturhaus der Stadt; in der nächstgrößeren Stadt; in der Landeshauptstadt; in der Hauptstadt der Republik, sogar im Ausland. Es gab viele anerkennende Auszeichnungen. Henni fühlte sich großartig. So zu spielen wie Lang Lang, war ihr Ziel. Schon in ihrem zarten Alter war sie ehrgeizig genug, um durch beharrliches Üben diesen Zustand herbeizuführen. Ihre Eltern überhäuften sie mit Spielsachen, die sie nicht brauchte. „Disney World“ besuchte sie mal eben so. Nur selten kümmerte sich einer oder sie selbst um das Wohl ihrer einstigen Partnerin am Flügel: „Deine Schwester bleibt daheim bei der Oma.“
So ging das jahrein, jahraus; bis beide zu jungen Frauen herangewachsen waren. Henni spielte inzwischen im „London Symphony Orchestra“. Ihre Zwillingsschwester übte daheim einen Beruf aus, bei dem man weitgehend nur einen Arm und eine Hand benötigte. Sie litt nicht an Frust und gönnte Henni ihren Erfolg. Im Fernsehen und den Klatschzeitungen konnte sie ihre Laufbahn verfolgen, live sah sie Henni nicht.
*
Bei einem Streifzug durch die Konzerthallen des Landes traf Kati, die am Spielgerät Verunglückte, eine ebenfalls junge Frau. Beide verstanden sich fabelhaft, unterhielten sich hauptsächlich über Klaviermusik und unternahmen gelegentlich Besuche, die derartige Klänge hören ließen. Sehr private Dinge erzählten sich die zwei immer einmal, jedoch selten und nicht so innig wie Freundinnen… Kati behandelte als Ärztin hochrangige Politiker, da schlossen sich Plaudereien, wie es die Waschweiber am Bach taten, aus. Zumindest Anekdoten aus dem Arbeitsleben. Aus diesem Grund durfte auch keiner erfahren, in welcher Stadt sich die Praxis befand. Eines Tages offenbarte Kati ihrer Begleiterin Lena, dass es einen jungen Mann gab bzw. gibt, der in einem Forschungsinstitut arbeitet und sie zum Relaxen auf die Malediven einlud.
Lena lernte diesen jungen Mann noch nicht kennen, da die Bande zart und nicht gefestigt waren. Aus diesem Grund wollte Kati diese Urlaubsreise nicht antreten.
Im Fortgang der Treffen der beiden Frauen vertraute Kati an, außer einer Schwester noch einen Bruder gehabt zu haben, der aber leider als Kind ertrunken war.
Es gehörte mittlerweile der Vergangenheit an: ihre berühmte Schwester hatte ihr einmal den Freund ausgespannt, der jetzt ebenfalls berühmt war, und zwar, bevor Kati den ägyptischen Arzt heiratete, der in seiner Heimat praktizierte und nicht zurückzukehren gedachte. Deutschland war ihm in jeder Hinsicht ein zu kaltes Land. Er meinte, sich wie gefrorener Lachs aus dem entsprechenden Ladengeschäft zu fühlen. Außerdem hatte Kati eine Beförderung zur Oberärztin eines Klinikums abgelehnt, da ihr der momentane Job in der Praxis genügte und Wohlergehen bedeutete. Deshalb lehnte sie auch die Mitarbeit bei „Ärzte ohne Grenzen“ ab.
Auf die Frage nach Katis und Hennis Eltern erhielt Lena eine Antwort, so kurz wie sich ein Sekundenzeiger auf der Uhr bewegt – sie wurden vor Jahren ermordet. Offensichtlich war es, dass Kati noch immer traurig war und damit nicht abgeschlossen hatte. Das war einleuchtend und machte sichtlich betroffen.
*
Eines Tages ließen die Klaviermusik-Liebhaberinnen den Eisbecher in einem Straßencafé in der Sonne zerlaufen, weil dort die berühmte Henni vorbeikam und ihre Schwester erkannte, auch wenn man sich ewig nicht sah. Nicht so zögerlich und vorsichtig, wie in einem eiskalten Bergsee zu baden, setzte sie sich dazu.
Henni fragte Kati einige Dinge. „Bist du verheiratet? Arbeitest du immer noch in deinem Beruf als Beraterin im Callcenter? Macht es dort noch Spaß?“
Der Eisbecher beinhaltete inzwischen nur noch cremiges Wasser, und der Bergsee fror zu.
Die Blicke wechselten vom einen zum anderen und nahmen die Runde zurück. Es entstand eine Stille, als wenn man auf den Beginn eines Konzertes in den nächsten zwei Minuten wartete. Kati haspelte „Äähh…, hmmm…, ja… naja, …, also…“ Wieder einmal war sie der Lüge ertappt worden. Das geschah nicht zum ersten Mal.
Lena kam sich korrekterweise verarscht vor. Beziehungsweise glaubte sie zunächst, Kati wurde mit jemandem verwechselt, die ihr ähnlichsah. Aber die Gene versicherten ihr etwas anderes. Die Möglichkeit, Kati hatte die Anstrengung eines Studiums unternommen, bestand ebenfalls. Doch, Medizin? Mit gehandicappter Hand?
Katis Gesicht hatte die Farbe des Teppichs angenommen, auf dem die Schönen, Reichen und Berühmten der Welt zur Oscar-Verleihung schreiten. Ohne weitere und erklärende Worte nahm sie ihre Tasche und ging. Die im Eiscafé zurück gelassenen Frauen hoben ihre Schultern an, legten ihr Gesicht in Falten, schüttelten den Kopf und sahen Kati nach. Sie hofften auf ihre Rückkehr zum Tisch.
Nichts dergleichen geschah. Das Antlitz von Katis Schwester sah nicht minder verfärbt aus, und sie erklärte kurz, dass ihr Zwilling früher öfter dieses Versteckspiel gespielt, die Unwahrheit gesprochen und nicht mit Offenheit den Menschen gegenübergetreten wäre.
Da sich die Geschwister bald aus den Augen verloren, wusste sie die weitere Entwicklung des ganzen nicht. Außerdem musste sie jetzt los und konnte sich keine weiteren Gedanken machen. Sie wollte sich damit auch nicht weiter beschäftigen, da es ohnehin nichts brachte und immer denselben Weg nahm.
Lena fragte sich nun, was an Kati wahr und was gelogen war. War ihr Name überhaupt „Kati“? Das hätte sie Henni noch fragen sollen. Sie sprach den Namen nie aus.
Daheim bemühte sie den Laptop und suchte einen Begriff für notorisches Lügen bzw. für das mit verdeckten Karten spielen. Sie wollte mehr darüber erfahren, wollte wissen, ob es andere Leute gab, die ebenso gehörnt worden waren. Möglicherweise war sie zu kleingläubig und leicht zu überzeugen gewesen. Das Wort „Mythomanie“ las sie dabei sehr oft. Lügensucht, deren Ursprung bei der Ablehnung in der Kindheit lag. Allerdings wusste sie nicht, was in Katis Vergangenheit den Anstoß dazu gab.
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