Von Angelika Brox

Im letzten Moment entschied Jana sich anders. Ein Blick zum Himmel zeigte ihr dunkle Wolken am Horizont. Deshalb ließ sie das Motorrad stehen und nahm das Auto.

Auf der Landstraße glitzerte gesprenkeltes Licht durch die Baumkronen. Jana klappte die Sonnenblende herunter. In diesem Augenblick preschte ein Reh zwischen den Bäumen hervor und rannte über die Straße. Jana riss das Lenkrad herum. Hilflos starrte sie auf den heranrasenden Baumstamm, es knallte, der Airbag flog ihr entgegen, der Gurt riss sie zurück, das Gas zischte aus dem Ballon, im Auto stank es wie nach einem Feuerwerk.
Es brennt!, dachte Jana. Ich muss hier raus!
Mit zitternden Fingern löste sie den Sicherheitsgurt und rüttelte an der Tür. Sie klemmte.
Ein dunkel gekleideter Mann schaute durch das Fenster herein. Er zerrte am Griff. Schließlich bekam er die Tür auf und half Jana beim Aussteigen.
Woher kam der eigentlich so plötzlich? Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen.
„Hast du Schmerzen?“, fragte er.
Jana spürte in sich hinein. Ihre Lippen fühlten sich taub an, ihre Ohren hörten leicht gedämpft und ihre Beine standen etwas unsicher auf dem Boden, doch ansonsten schien alles mit ihr in Ordnung zu sein.
„Bisher nicht“, antwortete sie.
„Darf ich dich umarmen?“
Verblüfft sah sie ihn an.
„Sonst kann ich dich nicht mitnehmen“, erklärte er.
„Mitnehmen?“, wiederholte sie verwirrt.
„Bitte nicht erschrecken, ich muss dich abholen, weil du jetzt stirbst.“
Heftig schüttelte Jana den Kopf. Das konnte er nicht wirklich gesagt haben! Wahrscheinlich hatte sie einen Schock.
„Wie du siehst, bin ich sehr lebendig“, sagte sie fast trotzig.
In einer bedauernden Geste hob er die Arme. „Irgendwas ist schiefgegangen. Tut mir leid, du bist meine erste Klientin. Ich habe gerade erst meine Ausbildung beendet.“
„Was soll der Quatsch?“ Allmählich wurde sie ärgerlich.
Mit sanfter Stimme antwortete er: „Hast du es noch nicht erraten? Ich bin der Tod.“
„Ach du Scheiße“, entfuhr es ihr. Das Ganze erschien ihr völlig bizarr. Was passierte ihr da gerade? War er durchgeknallt oder sie?

Sie betrachtete ihn genauer. Er war jung, trug das dichte, dunkle Haar zurückgekämmt, ein paar Fransen fielen ihm in die Stirn, seine Augen leuchteten blau, er hatte ein schmales, markantes Gesicht.
„Du erinnerst mich an einen Schauspieler, den ich früher toll fand“, sagte sie, „aber ich komme nicht drauf, wie er hieß.“
Der Tod lächelte. „Wir wählen möglichst immer eine Gestalt, mit der die Klienten sich wohlfühlen – zumindest, wenn sie es verdient haben. Du kannst mich Alain nennen.“
„Wer ist WIR? Gibt es mehrere von euch?“
„Ja sicher. Einer allein könnte die Arbeit gar nicht schaffen.“
„Und was ist bei mir schiefgegangen?“
Alain zuckte die Achseln und deutete auf den Baum mit der zerfetzten Rinde.
„An dieser Stelle hättest du sterben sollen.“
Nachdenklich betrachtete Jana das Autowrack.
„Zuerst wollte ich mit dem Motorrad fahren“, sagte sie leise. „Damit hätte es sicher geklappt.“
Alain wippte von einem Fuß auf den anderen.
„Lass uns von hier verschwinden“, drängte er. „Mein Chef darf nicht wissen, dass du noch lebst. Falls er zur Kontrolle kommt, soll er glauben, du wärst schon abtransportiert worden.“
„Wohin willst du denn?“
„Wir müssen uns verstecken. Am besten bleiben wir die ganze Zeit in Bewegung, dann sind wir schwerer zu finden.“

Ohne ein weiteres Wort marschierte er in den Wald hinein. Zu ihrem eigenen Erstaunen folgte Jana ihm. Sie wunderte sich über sich selbst. Müsste sie nicht in Panik geraten? Weglaufen wollen? Stattdessen übte Alain eine derart beruhigende Wirkung auf sie aus, dass sie den Lauf der Dinge akzeptierte, wie er sich nun einmal entwickelte. Einfach so. Völlig selbstverständlich. Sie fühlte sich wie in einer Blase aus Traum und Schwebezustand. Als hätte er sie hypnotisiert oder ihr heimlich Valium verabreicht. Wie schaffte er das nur?

„Wie ist es eigentlich, der Tod zu sein?“, fragte Jana, während sie neben ihm herging.
„Lieber wäre ich ein Schutzengel geworden, doch da habe ich leider keinen Ausbildungsplatz mehr bekommen.“
„Und warum müssen wir uns verstecken? Dein Chef kann wohl kaum von mir verlangen, dass ich nochmal gegen einen Baum fahre.“
„Wenn er merkt, dass ich es vermasselt habe, werde ich in irgendein Kriegsgebiet strafversetzt.“
„Du Ärmster“, sagte Jana mit ironischem Unterton. „Was soll denn ich erst sagen?“
Sie rieb sich das rechte Handgelenk. Ein leichtes Brennen machte sich auf der Haut bemerkbar, weil der Airbag dagegen geprallt war. „Und wie soll ich nun sterben? Schon eine Idee?“
„Gib mir ein bisschen Zeit“, brummte der Tod. „Inzwischen könntest du irgendwas machen, was du dir immer schon gewünscht hast.“
Jana ließ sich die Möglichkeiten durch den Kopf gehen.
„Eine Motorradtour zu meiner Lieblingsstelle“, sagte sie. „Schade, dass meine Guzzi so weit weg steht.“

Alain nahm ihre Hände.
„Schließ die Augen“, empfahl er, „damit dir nicht schwindelig wird.“
Sie gehorchte. Ihre Haut begann zu kribbeln, sie fühlte sich federleicht.
Als sie die Augen wieder öffnete, stand sie Hand in Hand mit Alain vor ihrer geliebten Guzzi.
Sie holte einen Helm aus der Packtasche und reichte dem Tod einen zweiten.
„Danke, brauch ich nicht“, winkte er ab, „ich kann sowieso nicht sterben.“
„Aber wenn die Polizei dich sieht …“
„Tut sie nicht. Mich sehen nur Todgeweihte.“
„Aha.“ Jana setzte ihren Helm auf. „Im Grunde brauch ich den auch nicht mehr“, dachte sie in einem Anflug von Wehmut. Doch sie beschloss, negative Gedanken beiseite zu schieben und die Fahrt zu genießen. Immerhin könnte es ihre letzte sein.
Die beiden nahmen auf der Sitzbank Platz und Jana brauste los. Hinaus aus der Stadt. 
Auf der Landstraße gab sie richtig Gas. Der Motor blubberte.
„Motorcycle Mama“, sang Alain begeistert hinter ihr. Jana musste grinsen. Ja, das würde eine schöne Abschiedsfahrt. Je schneller sie durch die Gegend rasten, umso weniger sichtbar waren sie für den Chef.
„Highway To Hell!”, schmetterte Jana und Alain stimmte ein.
Verstecken spielen mit dem Tod macht Spaß, dachte sie.

Janas Ziel war das Meer. Ab und zu schloss sie die Augen, genoss die Fahrt und hörte auf zu denken.
Nach einer Weile erreichten sie die Steilküste. Sie stiegen ab und Jana führte Alain an den Rand einer Klippe.
„Ich habe mich nie getraut, hier runterzuspringen. Jetzt aber!“
Sie ging rückwärts, nahm Anlauf, rief „Jippiiieh!“ und sprang.
Es war wie Fliegen. Ein Rausch. Dann tauchte sie tief ins Wasser ein, strampelte sich zur Oberfläche empor, legte sich auf den Rücken und ließ sich von den Wellen wiegen. So könnte es bleiben!
Gerade jetzt, wo ihr Leben zu Ende gehen sollte, begann es, so richtig Spaß zu machen. Wie unfair war das denn?

Energisch drehte sie sich auf den Bauch und schwamm zum Ufer. Im flachen Wasser wartete Alain auf sie. Seine Hosenbeine waren nass.
Sie baute sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ich finde, wir sollten meinen Tod verschieben. Dieser missglückte Versuch mit dem Baum reicht doch wohl erstmal.“
Langsam schüttelte Alain den Kopf. „Es tut mir wirklich leid, aber es ist verboten, einen Tod ausfallen zu lassen, weil alles mit allem zusammenhängt. Eine Änderung hätte ungeahnte, weitreichende Folgen.“
Sanft wischte er die Tränen von Janas Wangen.
„Eines möchte ich dir verraten, was dich vielleicht trösten wird“, sagte er. „Das Schicksal hatte schwierige Zeiten für dich vorgesehen. Die bleiben dir nun erspart. Sei gespannt, was dich stattdessen erwartet.“

Jana atmete tief ein und aus. Dann schaute sie in seine meerblauen Augen.
„Okay, du darfst mich umarmen“, sagte sie leise.
„Du weißt, was das bedeutet?“, fragte er.
„Ja, ich weiß.“

 

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