Von Klaus Helfrich

„AAL, AAL, AAL …!!!“ mit Gebrüll hetzt die ganze Klasse über den Schulhof, vorneweg – flink wie immer – Franz Glatt der AAL.

Und dann erwischen wir ihn doch. Der Hubermax schneidet den Weg ab. Ein ausgestrecktes Bein, Sturz und  Klassenkeile für den AAL. Ich darf ihm auch eine reinhauen. Ich spucke ihm ins Gesicht. Ich bin zufrieden.

Den Spitznamen AAL verpasste ich ihm damals, als das Aufsatzthema war: „Aalglatt“.  Aalglatt? Der Franz Glatt ist der AAL – und schon hat Franz sein Fett weg. Ich bin geschickt.

Dabei hat der Franz so gar nichts von einem Aal an sich. Das Pickelgesicht mit der Nickelbrille auf der Boxernase, dunkles Kraushaar wie mein Vater, immer schmuddelige und abgetragene Klamotten.

Franz fürchtet Spott und ist jähzornig. Mit seinem neuen Spitznamen löst er mich als Prügelknaben ab. Mal da und dort ein Gerücht, eine Lüge zum Thema: Franz Glatt ist der AAL. Das habe ich schlau eingefädelt.

 

Ich denke nur selten an die Schulzeit und Klassenkeile, bis am Sonntagmorgen das Telefon schrillt.

Mutter, ich erkenne ihre Anrufe schon am Klingelton: Aggressiv, fordernd, weinerlich. Und außerdem, nur Mutter stört am Sonntagmorgen.

Heute ist weinerlich angesagt: „Jungchen komm schnell vorbei. Der Franz ist tot, der liebe Junge – komm sofort Peter!“

Franz, welcher verdammte Franz? Ich komme partout nicht drauf. Wen meint Mutter? Doch nicht Franz Glatt den AAL. Mutter kennt den doch gar nicht.

 

Die Haustür steht offen und schon im Flur höre ich das Geheule der Alten. Weinerlich mag ich gar nicht. Mir liegt die herrische Mutter eher.

Am Küchentisch hockt sie, buchstäblich das heulende Elend.

Vor ihr die Sonntagsausgabe, aufgeschlagen sind die Todesanzeigen. Ganz oben lese ich: Franz Glatt plötzlich und unerwartet blablabla…

Wirklich Franz der AAL ist tot. Na und, irgendwann gibt jeder den Löffel ab. Die Einen – wie Franz – früher, die Anderen – zum Beispiel ich – später. Was soll das Geheule, als ob Mutter der Sohn gestorben wäre.

 

„Ach Jungchen – ach Jungchen – was habe ich bloss getan. Du warst so schön glänzend und schier und er so mager und schrumpelig – es war doch bloss ein kleines Armband – und alle erkennen trotzdem die Ähnlichkeit in der Nasenpartie zwischen uns beiden – nur Papas Haar haste nun wirklich nicht…! “

Mutter schaut von der Zeitung auf und jammert wieder los:

„Ach der arme Franz Glatt, ihr wart ja gleich alt – seine Mutter Doris und ich haben damals im selben Zimmer gelegen und ihr im selben Säuglingszimmer  und da, und da..“

Das Geheule wird lauter. Es dauert ganze zwanzig Minuten, bis ich sie ins Bett geschafft habe und die zwei Schlaftabletten wirken.

Endlich kann ich wieder nach Hause. Sicherheitshalber habe ich ihre Haarbürste mitgehen lassen. Ich bin neugierig.

 

Heute ist der Brief vom Institut da. Jetzt erfahre ich die ganze Wahrheit:

Sehr geehrter Herr Peter Jung,

die DNA-Analyse der von ihnen eingesandten Haarproben hat mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent ergeben, dass….

Dieses amtliche Schreiben gibt mir Gewissheit. Ich bin ein vertauschtes Baby. Welche Mutter macht so etwas? 

Ich bin nicht Peter Luft!

Nie wieder Zuneigung heucheln, wo doch nur Gleichgültigkeit ist – Nie wieder mit meinem glatten Äusseren, an dem alles Böse abgleitet, abschirmen – Nie wieder ein ständig schlechtes Gewissen. Ich bin befreit. Ich atme tief durch.

Ich bin Franz Glatt!

 

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