Von Jannis Coenen

Gleißendes Licht empfing Efim, als seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen durch die sich öffnenden Waggontüren blickten. Im selben Moment brach die Stille, die sich während der Zugfahrt nach und nach ausgebreitet hatte, von anfänglicher Hektik, zu heiseren Flüstern, bis zum vollkommenen Stillschweigen jedes Passagiers, und es waren eine Menge Fahrgäste, so war es Efim aufgefallen. Doch nun brach eben jene Hektik erneut aus, machte sich unter den Menschen wie eine Seuche im Zug breit, angetrieben von den Schaffnern, deren Stimmen der kleine Junge lediglich vernahm, die jedoch bereits draußen warteten, um ihrer Arbeit, dem Leeren der Waggons, nachzugehen.

Und sie waren schnell. Schon spürte Efim einen festen Griff an seinem linken Oberarm, der ihn und seinen Zwillingsbruder Jonathan, den Efim wiederum an der Hand hielt, aus dem Abteil und ins Licht riss. Sogleich spürten die Brüder ihre Füße im matschigen Morast einsinken. Zwar reichte Efim aufgrund seines jungen Alters von nur sechs Jahren kaum bis zur Hüfte der meisten Ausgestiegenen, doch konnte er, sobald sich seine Augen ans Tageslicht gewöhnt hatten, nun die Szenerie erstmalig etwas besser überblicken. Der Bahnhof war seltsam. Zwar herrschte ähnlich reges Treiben wie auf anderen Bahnhöfen, auf denen der Junge bereits gewesen ist, allerdings irritierte ihn auch so manches, was er sah. So hob sich die Uniform der Schaffner eindeutig von denen ab, die er früher betrachten durfte, und auch die stacheldrahtbesetzten Zäune, welche sich im Hintergrund wie stumme Wächter erhoben, waren ihm suspekt. All dies ließ jedoch der Anblick eines Mannes vergessen. Er stand mittig, flankiert von bewaffneten und ebenso uniformierten Männern. Seine Stiefel zeugten von allmorgendlicher Politur und mit den weißen Handschuhen formte er Bewegungen in die eine oder andere Richtung, sodass Efim unmerklich an einen Dirigenten denken musste. Dann, als die Brüder Stück für Stück nach vorne gedrängt wurden, traf ihn der Blick des Dirigenten. Seine Augen schienen zugleich eisig und glühend. Was dieser Ausdruck bedeuten mochte, konnte Efim jedoch zum jetzigen Zeitpunkt lediglich erahnen.

Der Kopf des Dirigenten drehte sich zu einem seiner Beimänner, woraufhin der Angesprochene sich aus seiner Position löste und geradewegs auf die zwei Jungen zuschritt.  Wieder einmal spürte Efim den eisenharten Griff um den Oberarm und die Brüder wurden hinweggeschleift.

Der Ort, zu dem sie gebracht wurden, unterschied sich eindeutig von Efims letztem Zuhause. Seine Mutter hatte ihm angesichts des bevorstehenden Umzugs unter Tränen das Versprechen abverlangt, stark zu sein, doch musste sich Efim alle Mühe geben beim Anblick der trostlosen, kahlen Wände, nicht in Entmutigung zu verfallen. Außer den vielen Stockbetten befand sich nur ein Eimer im Zimmer, bei dem es der kleine Junge tunlichst vermeiden wollte, in die Nähe zu kommen, da er ihn bereits als Quelle des bestialischen Gestanks, der in der Luft schwebte, einzuordnen vermochte. Kaum hatten er und sein Bruder das Zimmer betreten, tat sich etwas im spärlich beleuchteten, spartanischen Raum. Kleine Gesichter tauchten aus den Betten auf und schauten teils neugierig, teils resigniert auf, um die Neuankömmlinge zu begutachten. Niemand allerdings traute sich mit den Brüdern zu reden und so taten sie es ihnen gleich. In der ersten Nacht schlief Efim schlecht. Dabei sollte Schlaf die einzige Zuflucht aus der Wirklichkeit sein.

Beim morgendlichen Weckruf lag Efim bereits mit offenen Augen in seinem Bett. Die anderen Kinder stürmten aus der Baracke, die, so erfuhr es der Junge im Nachhinein, Kindergarten genannt wurde. Die Brüder folgten ihnen etwas überrumpelt. Nun wurde jeder einzelne Name der Bewohner aufgerufen, um deren Anwesenheit zu prüfen. Die Zeit verstrich und Efims Beine wurden schwach. Sein Magen rumorte empört und ihm fiel auf, dass er seit über einem Tag nichts mehr gegessen hatte. Beim Warten im hellen Tageslicht ergab sich nun die Gelegenheit, alles genauer zu betrachten. Die anderen Kinder seines Zimmers standen mit nackten Oberkörpern im Freien, auch die Mädchen. Bei allen zeichnete sich unter ledriger Haut jede einzelne Rippe deutlich ab, das Becken stand hervor und nun registrierte Efim erst, wie ausgemergelt die kleinen Gesichter waren. Außerdem, und dies verdutzte den Jungen enorm, waren die jeweils beieinanderstehenden Pärchen absolut identisch. Noch nie hatte Efim so viele Zwillinge auf einem Haufen gesehen.

„Efim Blumenthal?“, der Schrei des Mannes, der die Namen vorlas, riss den Jungen jäh aus seinen Gedanken. Ruckartig stemmte er den Arm empor und der Vorleser fuhr mit dem Namen seines Bruders fort. Als Efim so dastand, fiel ihm eine weitere Merkwürdigkeit auf. Die aufgehende Sonne strahlte hell vom Horizont auf den Hof und keine Wolke tat sich auf. Doch der Himmel war grau.

Nach der Zählung ging es in ein anderes Gebäude. Anscheinend kannten die anderen Kinder den Weg. Sie warteten einen Augenblick gemeinsam in einem befremdlich steril wirkenden Raum, dann schlug die Tür auf. Heraus trat der Mann vom Vortag, der Dirigent. Wieder trug er die glänzenden Stiefel, wieder die weißen Handschuhe und wieder lag in seinen Augen dieser unerfindliche Ausdruck von Eis und Feuer. Der weiße Finger richtete sich auf die Gebrüder Blumenthal und das Feuer loderte. Fachmännisch, analytisch, methodisch untersuchte der Dirigent die äußerlichen Merkmale der Jungen. Maß den einen Arm ab oder leuchtete in das andere Ohr.

Dieser Vorgang wiederholte sich, wurde zum Alltag. So wurden jeden Tag alle Zwillinge eingehend inspiziert. Braune Brühe zum Frühstück und Abendessen, dazwischen gab es nichts. Jeden Morgen die Zählung unterm Grau, jeden Mittag die Forschung des Dirigenten, jeden Abend vorm zu Bett gehen der Hunger, der einen unerbittlich jagte, bis man endlich schlief und dem eigentlichen Leben, zumindest für ein paar Stunden, entkam. Irgendwann wurden die Inspektionen durch Blutabnahmen ersetzt. Es kam vor, dass ein Kind dabei zu Boden fiel, dann wurde es vom eisenharten Griff weggeschleppt. Manchmal kamen sie nicht wieder. Die Blutabnahmen wichen Injektionen. Efim wusste nicht, was die Spritze, die in seinen Arm stach, enthielt, doch einmal wurde es ihm sehr heiß davon. So brachte man ihn in ein Lager mit hustenden Leuten, von denen sich manche eines Tages schlichtweg nicht mehr bewegten. Auch sie ereilte der Eisengriff und man brachte sie fort. Tatsächlich hatte Efim das Gefühl, der Himmel würde jeden Morgen unaufhörlich weiter ergrauen, doch war sich der kleine Junge nicht sicher, ob dies Einbildung oder Wirklichkeit war.

Als ihn die Hitze verließ, kehrte er zu seinem Bruder und den anderen Zwillingen aus dem Kindergarten zurück. Nun, nicht unbedingt alle waren noch normale Geschwister. Der Dirigent hatte aus Rena und Melina eins gemacht. Rücken an Rücken, durch Nähte, an denen eine dickflüssige, gelbe Substanz klebte, waren sie fortan auf ewig aneinander gebunden. Zwei Menschen, ein Körper. Sie schrie. Und eines Morgens bewegte auch sie sich nicht mehr.

Ein paar Tage später stand Jonathan Seite an Seite mit Efim während der Zählung auf dem Hof. Efim spürte, wie sein Bruder ihm auf die Schultern tippte. „Denkst du, Mama kommt noch?“, fragte ihn Jonathan. Seine Augen waren so grau, wie der Himmel darüber.