Von Ursula Riedinger

Die Idee kam Irene eines Morgens, als Lilly wieder mal Diva spielte. Zuerst mochte sie nicht aufstehen. Dann der ganze Leidensweg, bis Lilly fertig angekleidet war. Nicht nur, dass ihre pinkfarbenen Strumpfhosen heute zu kratzen schienen, auch der Pullover war der Prinzessin nicht genehm. Die Masche für ihr Haar passte ihr nicht, ohne wollte sie aber auch nicht aus dem Haus. Lilly konnte ihre Schuhe binden, aber es dauerte immer endlos lang.

„Ich mach‘ das schnell, Lilly, wir müssen bald gehen.“

Lilly stampfte mit dem Fuss und verzog den Mund. Dann das Frühstück. Die Milch mit dem Schokopulver schmeckte nicht, mit dem Brot spielte sie herum, bis der Honig überall auf dem Teller und ihren Händen verschmiert war. Endlich waren sie bereit.

Seit sich Irene von Horst getrennt hatte, spielte Lilly verrückt. Sie hatte ihren Vater verehrt, wohl weil dieser ihr vieles durchgehen liess und nur für die schönen Sachen da war, Ausflüge, Geschenke. Irene war bewusst, dass es nicht einfach würde, aber sie konnte mit Horst einfach nicht mehr leben. Ein aufgeblasener Gockel, der sie allerdings auch mal beeindruckt hatte mit seinem Gehabe. Dumm war es gewesen, sich gleich zu binden. Aber nun war Lilly da und sie liebte das Mädchen über alles. Wenn es im Moment nur nicht so schwierig wäre mit ihr.

Zweimal pro Woche durfte Lilly den Tag bei ihrer Freundin Laura verbringen, damit Irene arbeiten gehen konnte. Lilly meinte, dort sei es sowieso viel schöner. Laura öffnete die Tür, als Irene bei Girolamos klingelte.

„Lilly, komm, ich muss dir was zeigen.“

Und schon waren die beiden im Kinderzimmer verschwunden. Laura schien nichts vom italienischen Temperament ihrer Eltern geerbt zu haben. Sie war ein braves, eher stilles Kind. Lauras Mutter Giovanna aber fand Lilly reizend, aufgeweckt und fröhlich. Mit Laura käme sie im Moment überhaupt nicht klar, das Mädchen sei abweisend, trotzig und unfolgsam.

„Hör mal, Giovanna, was meinst du, wenn wir unsere Kinder tauschen würden? Nur für ein paar Wochen. Laura wohnt bei mir und wenn ich arbeiten gehe, hole ich sie abends ab und bringe sie morgens zurück. Du behältst Lilly die ganze Zeit.“

Giovanna überlegte.

„Ja, das wäre sicher ein spannendes Experiment, würde beiden gut tun.“

„Das nächste Mal bringe ich dir Lillys Kleider und die Sachen, die sie braucht, und du gibst mir alles für Laura mit. Ab nächster Woche wird Laura meine Tochter und Lilly deine.“

Irene sprach mit Lilly und erklärte es ihr. Ganz so unvorbereitet wollte sie sie doch nicht ins kalte Wasser werfen. Und so kalt war es auch wieder nicht, das Wasser. Lilly kannte Laura und ihre Mutter seit langem. Lilly nickte.

„Mir gefällt es bei Giovanna!“

Am Montagabend holte Irene Laura ab.

„Jetzt machen wir uns erst mal eine feine Pizza, was meinst du?“

Laura rümpfte die Nase. „Pizza mag ich nicht.“

„Wieso denn nicht?“

„Ich hasse Käse!“

Irene kochte dann Spaghetti mit Tomatensauce. Laura schmollte.

„Was ist los, Laura, gefällt es dir nicht bei mir?“

Laura zuckte mit den Achseln. „Doch, doch, aber es ist nicht wie zu Hause.“

Irene brachte Laura früh zu Bett und erzählte ihr eine Geschichte. Es dauerte lange, aber endlich fielen Laura die Augen zu. Als sie später selbst schlafen ging, dachte sie an Lilly. Wie es ihrem Schatz wohl ging?

In den folgenden Tagen wurde Laura zunehmend lebhafter und zugänglicher.

„Du hast es schön hier, nicht so viel Zeugs wie bei Mama.“

Besonders liebte sie die Gute-Nacht-Geschichten. Das gab es zuhause nicht. Irene zog alle Register und las ihr die besten Geschichten vor, die sie zur Hand hatte. Laura sog alles in sich auf.

Wenn Irene bei Giovanna klingelte, versuchte sie nicht allzu besorgt zu erscheinen. Sie begrüsste Lilly jeweils herzlich, diese zeigte ihr jedoch die kalte Schulter. Sicher schmollte sie. Irene sagte laut zu Giovanna, so dass die Mädchen es hören konnten:

„Ich glaube fast, wir haben die falschen Kinder bekommen? Was meinst du? Möchtest du Lilly behalten?“ „Wieso nicht, ich mag Lilly und überlasse dir Laura gerne.“

Am Anfang genoss Lilly die lebhafte Atmosphäre bei Girolamos zu Hause, aber mit der Zeit bekam sie sichtbar Heimweh. Giovanna bemühte sich um Lilly, aber Lillys Begeisterung liess langsam nach. Die beiden Mädchen sprachen über ihre neuen Mütter, wenn sie zusammen spielten, Giovanna hatte es einmal mitbekommen. Lilly meinte:

„Ich würde meine Mutter schon wieder nehmen, aber sie will mich sicher nicht mehr.“

„Ich auch.“ Beide schluckten, dann spielten sie weiter.

„Ist es nicht grausam, was wir da machen?“ fragte Giovanna.

„Doch, schon ein wenig, es bricht mir auch fast das Herz. Aber es ist ja nur ein Experiment. Nur noch für kurze Zeit. Die Kinder vergessen das nachher rasch wieder.“

Nach zwei Wochen sprang Lilly in die Arme ihrer Mutter.

„Mama, darf ich mal zu dir zu Besuch kommen?“

„Natürlich Lilly, du darfst gerne zu Besuch kommen.“

Lilly seufzte und sagte tapfer: „Dann komme ich heute Abend mal zu dir.“

Irene machte den beiden Mädchen zu Hause einen gemütlichen Abend. Dann brachte sie Lilly wieder zurück. Sie nahm sie in den Arm.

„Ich liebe dich, Lilly!“

Lilly hatte Tränen in den Augen. Es war fast nicht auszuhalten, aber bald würden sie den Versuch beenden. Auch Laura war etwas niedergeschlagen.

Irene und Giovanna sprachen mit den Mädchen.

„Seid ihr den nicht glücklich in eurem neuen Zuhause?“

Laura seufzte. „Meine neue Mama ist sehr lieb, sie liest mir immer Geschichten vor.“

Lilly fügte hinzu: „Meine neue Mama kocht immer ganz fein, nicht so Spinat und Zeugs.“

„Und würdet ihr denn gerne zurück zu eurer richtigen Mama gehen?“

„Für immer?“ fragte Lilly und sah ungläubig aus. „Geht das denn?“

„Ich möchte auch gerne wieder nach Hause“, rief Laura.  

Der Moment war gekommen. Am Samstag luden die Mütter ihre beiden Mädchen zu einer Kuchenparty ein. Feierlich verkündete Irene:

„Weil ihr es euch wirklich wünscht, sind Giovanna und ich bereit, unsere eigenen Kinder zurückzunehmen.“

Es dauerte einige Sekunden, dann begannen Laura und Lilly zu strahlen.  

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