Von Claudia Nierste

Es ist mitten in der Nacht, als seine Hand neben ihm auf dem Kissen so heftig vibriert, dass er es noch bis in die Schläfen fühlt. Reflexartig hebt er den Arm und sieht nichts als die schwachen Ringe vor seinen Augen, denn im Zimmer ist es stockdunkel dank der Jalousien, die das ewige Dämmerlicht der nächtlichen Stadt draußen halten. Die Hand vibriert weiter. Einen Moment lang überlegt er, den Anruf abzulehnen, aber am Ende ist es noch sein Chef und das Beharren auf seiner Nachtruhe kostet ihn den Job.

„Hallo?“

Am anderen Ende erklingt ein Husten, und zeitgleich blinkt auf seinem Handrücken ein Avatar auf. Er braucht die Stimme gar nicht zu hören, um den Mann zu erkennen, dessen Username-Änderungen er über fünfzehn Jahre auf seiner Freundesliste am rechten unteren Rand des Bildschirms verfolgt hat. In den letzten zwei Jahren ist ihr Takt ruhiger geworden, aber einige der Namen haben ihm einen Schrecken eingejagt.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab.“

Darauf weiß er lange nichts zu erwidern. Belanglose Floskeln scheinen ihm fehl am Platz, aber es ist Ewigkeiten her, dass es zwischen ihnen ungezwungen und vertraut war.

„Bist du noch da?“

„Wie sollte ich es nicht sein? Es ist nicht eben einfach, diese Hand abzuschrauben.“

„Diebstahlgeschützt?“

„Natürlich.“

Am anderen Ende ertönt ein müdes Lachen.

„Du wusstest schon immer, was wichtig ist. Ich hab‘s erst vor ein paar Jahr‘n auf die harte Tour gelernt, als mir in der Bahn einer drei Finger abgeknöpft hat, während ich gepennt hab. Und das in der ersten Klasse!“

„Erste? Dir scheint es ja nicht schlecht zu gehen.“

„Kann nich‘ klagen.“

Er überlegt schon, ob er aufstehen und Licht machen soll, da dringt aus seiner Hand ein angestrengtes Räuspern.

„Na ja, wenn ich ehrlich bin, dann doch. Deswegen ruf ich dich auch an. Hör mal, es tut mir wirklich leid, dass ich dich einfach so bitte, aber…“

In der anschließenden Stille hört er nur seinen Atem.

„Juri?“

„Kommst du morgen mit ins Krankenhaus?“

„Um was zu tun?“

„Mir Händchen zu halten, was denn sonst?“ Der klägliche Sarkasmus scheitert an der Nervosität in seiner Stimme. „Begleitperson, du weißt schon.“

„So schlimm?“

„Schlimm genug, dass sie mir die Birne benebeln woll‘n, und nach dem Reinfall beim letzten Mal is‘ mir dabei nicht mehr ganz wohl.“

Vor seinen Augen blitzen die Bilder auf, die Juri gepostet hat, und die unzähligen Nachrichten in seiner Timeline über die gescheiterte Klage gegen das Krankenhaus.

„Kann ich verstehen.“

„Also?“

Er reibt sich die Stirn mit der freien Hand.

„Ich habe morgen zwei Schichten, direkt hintereinander, und wenn ich da nicht auftauche…“

„Ich lass‘ dir eine Bescheinigung machen. Mit Stempel und allem.“

„Wenn das mal so einfach wäre.“

„Ist es.“

Er weiß, dass das Ausstellen selbst nicht das Problem sein wird.

„Was ist mit Kim? Seid ihr nicht noch zusammen?“

„Hast du etwa meine Timeline gestalkt?“ Juris gezwungenes Lachen steigt aus der Dunkelheit empor. „Ja, sind wir. Aber sie muss ja nicht alles wissen. Vor allem nicht, dass ihr Freund ein Feigling ist.“

„Und ich darf das wissen?“

„Du weißt genau, dass du das darfst. Hast du etwa unser Versteck hinterm Bunker vergessen?“

Das hat er nicht, weder die Sprünge im Beton, die sie nachgefahren sind, bis sich ihre Finger berührten, noch die dunkle Erde, die ihm hinterher an Knien und Handballen klebte. Er erinnert sich an die Berührung seiner Hände im Nacken, damals noch warm und mit echten Fingernägeln, und an den süßlichen Geruch aus der Ampulle, die Juri ihm an einem heißen Sommertag hinhielt. Ein kleiner Schluck SynthiLove nur, um etwas Schwung in die Sache zu bringen. Erst viel später hatte er den Post gefunden, auf den Juri am Abend zuvor mit einer wütenden Tirade geantwortet hatte. Realistisch gesehen sei es unmöglich, dass sie ernsthafte Gefühle füreinander hätten, denn das habe die Natur so nicht vorgesehen. Eine Beziehung wie ihre habe keine Zukunft, weil sie immer unfruchtbar bleiben werde. Bevor er die Antwort gelesen hatte, eine Kette von fünfzehn Nachrichten knapp unter dem Zeichenlimit, war ihm nicht bewusst gewesen, wie tief Juri die Meinung von ein paar Idioten im Netz getroffen hatte, und wie viel von seinen gewagten Witzen nur Fassade war.

„Also gut, ich komme. Wann?“

„Morgens um zehn. Weißt du, wo das neue Optizentrum ist, draußen vor der Ringstraße?“

„Ja.“

„Gut. Dann seh‘n wir uns dort. Ich kündige dich an.“

Er will schon auflegen, als aus der Dunkelheit noch ein verlegenes Räuspern kommt.

„Danke. Wirklich.“

 

Im Wartezimmer riecht es schon so durchdringend nach Desinfektionsmitteln, dass ihm sein karges Frühstück in der Magengrube rumort und er auf der Schwelle innehält. Der Mann an der gegenüberliegenden Wand hebt im selben Moment den Kopf und lächelt ihm zu. Juri. Außer ihnen ist niemand im Raum.

„Hallo. Ich hab mich schon gefragt, ob du ‘nen Rückzieher gemacht hast.“

Er schüttelt nur den Kopf und setzt sich neben ihn. Die Bewegung ist ihm so vertraut, als lägen keine fünfzehn Jahre zwischen ihnen.

„Anschluss verpasst.“

„Hättest du mal was gesagt! Ich hätt‘ dich abholen können.“

„Darfst du denn noch fahren?“

„Gleich nicht mehr.“ Juri nickt zur Tür hinüber, durch die eben ein untersetzter Pfleger tritt. „Perfektes Timing, wie immer.“

„Herr Kaminski, wir wären dann so weit. Ist das Ihre Begleitperson?“

„Da haben Sie aber gut geraten!“

Der Pfleger schnauft genervt und reicht ihm ein Haarnetz und OP-Kleidung. „Ziehen Sie das über. Wir fangen in fünf Minuten an.“

Unter den grellen Leuchten im Operationssaal erscheint ihm Juris Haut weiß wie Papier, und seine Hand umfasst seinen Arm so fest, dass die Drähte leise knirschen.

„Du kannst es jederzeit unterbrechen, wenn dir was komisch vorkommt“, flüstert er hastig, bevor die Anästhesistin ihn bittet, rückwärts zu zählen. „Das machst du doch, oder? Versprich‘s mir.“

„Versprochen.“

Dann ist er weg, und so sehr ihm nach einer Weile auch der Nacken schmerzt, wagt er es doch nicht, den Arm wegzuziehen und sich aufzurichten. Zusammengesunken sitzt er da und sieht den blitzenden Instrumenten zu, wie sie seine Haut zurückschlagen und Teile zum Vorschein bringen, die vorher nicht da waren. Zumindest nicht, als er ihn das letzte Mal so gesehen hat. Juris Hand lässt ihn nicht los, bis sie seinen Körper aus dem Raum rollen und ihm bedeuten, im Zimmer nebenan zu warten. Er streift die OP-Kleidung ab und wünscht sich eine Dusche. Es ist so still, dass sich jede Sekunde wie eine Ewigkeit anfühlt. Dann endlich öffnet der Pfleger die Tür und winkt ihm. Er hat einen Stuhl neben das Bett gestellt und die Jalousien heruntergelassen. An das Dämmerlicht im Zimmer müssen sich seine Augen erst gewöhnen, und er denkt nicht zum ersten Mal darüber nach, ob sie den gleichen Weg gehen sollten wie seine Hände.

„Hey.“

Juris Stimme ist so schwach, dass es ihm Angst macht.

„Alles okay?“

„Ich glaub schon. Verlang aber in nächster Zeit keinen Stepptanz von mir.“

„Dann eben erst morgen. Einen Walzer vielleicht. Kannst du noch tanzen?“

„Lange nicht mehr versucht.“

Er wartet auf den nächsten Witz, der nicht kommt. Im Dämmerlicht des kleinen Raumes sieht er, wie schwer Juris Kopf auf dem Kissen liegt.

„Weißt du, worüber ich nachgedacht hab, nach uns‘rem Gespräch gestern?“

„Erzähl es mir.“

„Hätten wir das Synthi gebraucht?“

Also sind ihm dieselben Erinnerungen durch den Kopf gegangen.

„Schwer zu sagen, nach so vielen Jahren.“

„Bitte jetzt keinen Vortrag darüber, wie wir uns uns‘re eigene Vergangenheit schaffen und eigentlich gar nicht mehr wissen, was früher passiert ist. Ich will nur wissen, ob du darüber nachgedacht hast.“

Er blinzelt.

„Manchmal.“

„Ich auch.“

Sie schweigen lange.

„Wusstest du, dass sie das Zeug immer noch verkaufen? Unter ‘nem neuen Namen.“

„Hast du es seit damals noch einmal benutzt?“

„Nein. Nur dieses eine Mal.“

Juris Stimme verliert sich.

 

„Da hinten liegt meine Tasche.“

Die plötzliche Ansprache lässt ihn zusammenfahren, beinahe wäre er auf seinem Stuhl eingenickt. Am Fenster fahren die Jalousien lautlos nach oben und warmes Sonnenlicht dringt in den Raum. Es muss früher Abend sein. Seltsam, dass seit dem nächtlichen Anruf noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen sind.

„Tasche?“

Juri hatte schon immer die Gewohnheit, mitten im Gedanken anzufangen.

„Da sind zwei Flaschen drin. Ich dachte mir, wir könnten unser Wiedersehen feiern.“

„Darfst du denn schon wieder trinken?“, fragt er, ist aber bereits auf halbem Weg zur anderen Seite des Raumes.

„Ach, dürfen. Wen kümmert das schon?“

Es sind Glasflaschen mit Schraubverschluss. Das Siegel ist gebrochen.

„Hier.“

Juri sitzt schon wieder aufrecht im Bett, auf einen Arm gestützt, und lächelt schwach, fast verschmitzt. Sein Haar ist noch immer so schwarz wie Teer, ohne die Spur einer hellen Strähne.

„Danke. Machst du‘s mir auf?“

Unter seinen Händen knirscht der Deckel leise. Er öffnet auch die andere, und riecht deutlich das süßliche Aroma, das ihm aus dem schlanken Flaschenhals in die Nase steigt.

„Auf alte Zeiten!“

Der Geruch nach Desinfektionsmittel ist noch immer stark, aber darunter liegt etwas Vertrautes, das er so heftig vermisst hat. Beim Anstoßen gibt das Glas ein leises Klirren von sich.

„Prost.“

Er setzt die Flasche an die Lippen und nimmt den ersten Schluck.