Von Rosalie Adams

Es war ein grauer Dezembertag. Graue Dezembertage unterscheiden sich erheblich von grauen Novembertagen. Ein grauer Dezembertag zeichnet sich durch sein klirrend kaltes, fast steriles Grau aus. Es sieht harmloser aus, als ein verregnetes Novembergrau, aber erst wenn die eisige Luft in sämtlichen Atemwegen beißt, versteht man die Kälte eines wahren Dezembertages.

Doch Herr M. nahm an jenem Tag das Dezembergrau anders wahr als sonst. Erst seit wenigen Stunden befand er sich wieder im Land, seit Minuten erst in seiner Heimatstadt. Jene Stadt in die er seit vier Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hatte. „Heimkommen ist wie immer, nur anders“ dachte er noch, dann schloss er die Haustür hinter sich. Die vertrauten Silhouetten der elterlichen Einrichtung, sowie das altbekannte Knarren der untersten Treppenstufen beruhigten ihn auf angenehme Weise.                                                                         

Am darauffolgenden Tag ereignete sich ein bemerkenswerter Vorfall: Beim morgendlichen Blick aus dem Fenster fiel Herrn M. etwas Orangefarbenes am Rande seines Hofes auf. Aufgrund seiner Kurzsichtigkeit entschloss er sich, das Objekt aus der Nähe zu betrachten. Aber statt wie erwartet, eine angefahrene Katze, oder Ähnliches, vorzufinden, schien es sich vielmehr um einen Strauß Blumen zu handeln. Verstohlen sah er sich um. Ein Willkommensgruß? Kein Mensch war zu sehen. Lediglich ein eisiger Windstoß jagte durch die Straße und ließ Herrn M. fröstelnd zurück. Etwas überrascht und erstaunt über das unerwartete Geschenk, nahm er die Blumen an sich und brachte sie in die Wohnung. Erstaunlicherweise befand sich am nächsten Tag ein andersfarbiger Blumenstrauß an eben derselben Stelle. Und selbst am darauffolgenden Tag wiederholte sich dieses Phänomen. Geranien, Rosen und Magnolien, ihren Duft in der Nase und mit einem schwer zu unterdrückendem Lächeln auf den Lippen, stieg Herr M. von nun an täglich die Treppenstufen hinauf.

In der Ferne hatte er sich wie ein Fremdkörper gefühlt, versehentlich ausgesetzt in einem Land dessen Sprache er nie hätte sprechen können, in einer Großstadt dessen Puls er nie fühlen konnte, in einer Umgebung in der er nur ein Niemand war.      

Es wäre ein Leichtes, dem Blumenübermittler aufzulauern. Doch Herr M. scheute sich, die verführerische Illusion der faszinierenden Ungewissheit gegen eine schrecklich gewöhnliche, womöglich sogar enttäuschend reale Erscheinung einzutauschen. Es war diese prickelnde Erregung, die ihn jeden Tag beim Anblick eines frischen Blumenstraußes überfiel, fast ein Flirt mit der Gefahr, denn welches Motiv hat jemand, derart häufig Blumen zu schicken? Vielleicht ein Stalker oder eine Verrückte? Vielleicht eine teuflische Intrige? Oder einfach nur freundliche Nachbarn, aufmerksame Menschen die ihn herzlich willkommen heißen? Ja, wahrscheinlich sind es einfach die Nachbarn, schließlich ist es ja in derartigen Kleinstädten schon ein größeres Ereignis, wenn jemand nach einigen Jahren aus dem Ausland zurückkehrt. Aber was, wenn es vielleicht eine Verehrerin ist? Er dachte zurück, an die Frauen in seinem Leben. Viele waren es zwar nicht, aber vielleicht war doch eine darunter, die ihn niemals vergessen konnte und versucht auf sich aufmerksam zu machen?

 

Die Blumensträuße werden Herrn M nicht länger erfreuen können. Er hatte es vor kurzem in der Zeitung gelesen. Irgendein tragischer Unfall hatte sich wohl während seiner Abwesenheit vor seiner Einfahrt ereignet. Die Mutter war tot, das Kind lebte noch. die Blumen stammten von Angehörigen des Unfallopfers.

In Gedanken ging er all die verlockenden Möglichkeiten einer unvergesslichen Begegnung durch. Ein Gefühl, als hätten ihn all jene potentiellen Erscheinungen gemeinsam betrogen, beschlich ihn. Die freundliche Nachbarin verschränkte höhnisch die Arme, der alte Schulfreund hob spöttisch eine Augenbraue und die Lippen der Jugendliebe formten sich zu einem hämischen Grinsen.

Als hätte das Verschwinden seiner tagtäglichen Selbsttäuschung ihm jegliche Ambition des Weiterlebens geraubt, erklomm Herr M. mit schleifendem Schritt und trübem Blick die letzten Stufen der Treppe.