Von Daniel Büttrich

Es war im Juli. Bald würde meine Zivildienstzeit enden. Einen kurzen Moment machte mich diese Aussicht wehmütig. Es war nicht die schlechteste Zeit meines Lebens! Nach einer verstörend unruhigen Schulzeit, an deren Ende ich immerhin entdeckte dass die Literatur mich zu begeistern vermochte, fand ich einen Sinn in meiner Aufgabe alten und kranken Menschen zu helfen. Meine in Kürze beginnende Ausbildung für eine Tätigkeit im Büro erschien mir wie ein Rückschlag auf einem Weg in ein selbstbestimmtes, glückliches Leben. Hatte ich nicht im Zivildienst bewiesen, dass ich neben meiner verborgenen Phantasie auch eine soziale Ader hatte? Und nun stand mir diese trockene Ausbildung bevor, weil meine Mutter das wollte! Die Wehmut vermischte sich mit Traurigkeit. Einen Augenblick später wählte ich den falschen Gang und würgte den VW Jetta des Sozialdienstes jäh in der Kurve ab. Die Schwierigkeiten mit der hakeligen Gangschaltung der alten Karre rissen mich des Öfteren aus meinen Gefühlen und Gedanken in die praktische Welt des Straßenverkehrs zurück. So auch jetzt. Ich ließ das Auto ausrollen und kam vor dem Reihenhaus meines „Betreuten“, wie wir Zivis das in den Supervisionen ausdrückten, zum Stehen.

 

Mein heutiger Besuch bei Herrn Kerschenstein versprach ein besonderer zu werden. Erwartungsvoll klingelte ich. Ich war gespannt, in welchem Zustand sich der alte Mann befinden würde. Ich hoffte, dass er gut geschlafen hatte und  sinnesklar genug für das Treffen war. Ich hörte die emsigen Schritte der Nachbarin nahen. „Hallo, kommen Sie herein!“ Ich trat ein, hängte meine Jacke an den Nagel und zog die Schuhe aus. Wortlos folgte ich der Nachbarin vom Flur über den Gang in das Wohnzimmer. Dort saß, mit dem Rücken zu uns, regungslos Herr Kerschenstein.

 

„Es geht ihm gut. Er ist bereit!“, sagte die Nachbarin mit einem verhaltenen Lächeln.

 

Es gibt für mich so etwas wie eine tiefe, ohne Worte auskommende Religiosität, die sich zwischen zwei Menschen entfaltet, die selbstlos ihren Dienst am Menschen tun. So eine Verbindung bestand zwischen der Nachbarin und mir. Diese stille Religiosität, deren Bibelverse die tägliche liebevolle und herzliche Behandlung von Mitmenschen sind, habe ich erstaunlicherweise bisher nur in altmodisch und schlicht eingerichteten Wohnungen, deren Regale mit Büchern gefüllt waren, erlebt. Ich habe eine Sehnsucht nach diesen Wohnungen, sie sind für mich wie Gotteshäuser.

 

Ich ging um den Sessel von Herrn Kerschenstein herum und begrüßte ihn.

 

„Hallo!“, antwortete er vergnügt und mit einem schmatzenden Lächeln.

 

„Magst Du noch ein Stück Kuchen und einen Tee, Kurt, bevor Ihr zu Anneliese fahrt?“, fragte die Nachbarin.

 

Herr Kerschenstein schien überrascht zu sein, dass die Nachbarin noch da war, und drehte seinen Kopf leicht zur Seite. Er hatte nicht nur Parkinson, er war auch fast blind.

 

„Ja, Anneliese!“

 

„Magst Du noch ein Stück Rosinenkuchen und einen Tee, bevor Ihr zu Anneliese fahrt? Du möchtest doch gestärkt sein, wenn Du Anneliese besuchst!“

 

„Ja, ich mag Tee und Kuchen“, gab Herr Kerschenstein grummelnd von sich.

 

Daraufhin zeigte mir die Nachbarin den Blumenstrauß und den Kuchen in der Küche. Sie bot mir an, auch ein Stück zu nehmen. Schließlich verabschiedete sie sich von uns mit den Worten:

 

„Kurt, morgen früh erzählst Du mir von Anneliese!“

Aber Kurt war in seinen Gedanken versunken.

 

Die Kunst beim Trinken aus der Schnabeltasse bestand darin, genauestens auf seine Schluck- und Kopfbewegungen zu achten.

 

Ein Nicken bedeutete: Ich möchte mehr trinken!

 

Kopfschütteln hieß: Es reicht!

 

Ein Murren: Noch zu heiß!

 

Ein Lächeln: Heute schmeckt der Tee besonders gut!

 

Zu Beginn meiner Zivildienstzeit hatte sich der alte, gütige Mann einmal heftig verschluckt. Er hatte mir in diesem Moment in seiner Hilflosigkeit unbeschreiblich leid getan. Seitdem war das nie wieder passiert.

„Ich nehme die Süddeutsche Zeitung mit!“

 

„Dann lesen Sie uns beiden einen interessanten Artikel vor! Das wird Anneliese freuen!“, erwiderte Herr Kerschenstein begeistert.

 

Bevor wir das Haus verließen, bat mich Herr Kerschenstein um einen Kamm.

 

„Die Frisur ist das Wichtigste, wenn Sie eine Frau treffen! Besonders, wenn Sie Ihre Frau treffen!“, meinte der alte Herr zu mir.

 

„Diese Erfahrung werden Sie bald machen! Eine Frau schaut als Erstes auf Ihre Frisur, dann auf Ihr Gesicht und schließlich auf Ihre Kleidung! Wenn eines von den drei Dingen nicht passt, wenn Sie ungekämmt oder unrasiert sind oder eine ungebügelte Hose oder ein knitteriges Hemd anhaben, können Sie es schon vergessen!“

 

Bei Herrn Kerschenstein passten die drei Dinge dank der Vorarbeiten der Nachbarin perfekt.

Als wir das Häuschen verließen, dachte ich an meinen verstorbenen Großvater, der unter Herz- und Lungenproblemen litt. Ich hatte ihm nie wirklich helfen können, er wohnte zu weit weg.

 

„Vorsicht, der Spalt zum Bordstein“, mahnte ich, während ich ihn behutsam am rechten Arm stützte und Herr Kerschenstein in das Fahrzeug einstieg.

 

„Lassen Sie nur, das kann ich selbst, vielen Dank! Sehr nett von Ihnen, bemühen Sie sich nicht!“

 

Da war er wieder: Der alte Herr Kerschenstein, Münchner Rechtsanwalt, Familienvater, Bürger mit guten Umgangsformen, einem starken Willen und liebenswerter Eigensinnigkeit.

 

„Haben wir den Blumenstrauß dabei?“, fragte Herr Kerschenstein, als er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.  

 

„Ja, der liegt auf dem Rücksitz“, beruhigte ich ihn.

 

„Gut, sonst hätten wir noch welche kaufen müssen.“

 

Wir parkten auf dem Schwerbehindertenparkplatz am Pasinger Bahnhof.

 

Kaum war ich ausgestiegen, traute ich meinen Augen kaum. Herr Kerschenstein stand bereits mit federnden Beinen, scheinbar um einige Jahre verjüngt, auf dem Gehsteig.

„Hätten Sie doch gewartet, ich hätte Ihnen beim Aussteigen helfen können!“

 

„Kein Problem. Aussteigen geht prima. Und auch wenn ich fast nichts sehe, höre ich umso besser! Ich höre zum Beispiel, wenn mir ein Fußgänger entgegenkommt!“

 

„Aber Sie hören nicht, wo ein Straßenschild steht!“

 

„Das nicht!“, lachte er und hakte sich bei mir unter.

 

„Das wird heute anstrengend. Wenn wir eine Pause machen sollen, sagen Sie es mir bitte!“

 

„Ja, natürlich. Ich fühle mich gut. In der S-Bahn erwischen wir hoffentlich einen Sitzplatz, dann bin ich zufrieden.“

Wir hatten Glück und fanden Sitzplätze.

 

„Am Hauptbahnhof in die U-Bahn umsteigen?“

 

„Ja“, sagte ich.

 

Dann schwiegen wir.

 

An den Rolltreppen folgte der alte Mann meinen Anweisungen exakt und hob in der richtigen Hundertstelsekunde die Beine. Mich erstaunte, wie gut sein Körper an manchen Tagen funktionierte, wie er sich fast blind intuitiv in seiner Umgebung orientieren konnte, während an anderen Tagen jede Feinabstimmung an und in ihm versagte und er in sich gefangen zu sein schien.

 

„Sind wir da?“, fragte er während der U-Bahnfahrt an jeder Haltestelle wie ein Kind auf einer langen Reise zu den geliebten Großeltern.  

 

Ich bemerkte in seinem meistens maskenhaften Gesicht eine Veränderung.

Ein sanftes Lächeln breitete sich um die Mundwinkel herum aus.

 

Ich hatte Herrn Kerschenstein verschwiegen, dass wir nach der U-Bahnstation noch eine kurze Strecke mit dem Bus zurück legen mussten. Leicht verärgert fragte er mich, ob ich das bewusst gemacht hätte um für ihn die Fahrt kürzer und weniger strapaziös erscheinen zu lassen. Ich bejahte.

 

„Wenigstens ehrlich!“, rief er aus.  

 

Die fünf Minuten Fußmarsch zogen sich endlos. Herr Kerschenstein wirkte auf einmal ermüdet.

Ich fühlte mich schuldig, schließlich war ich auf Herrn Kerschensteins Angebot, ab München-Pasing mit den Öffentlichen zu fahren sofort eingegangen, nachdem ich ihm erzählt hatte dass ich Fahranfänger bin.

 

„Zurück fahren wir mit dem Taxi!“

Dann waren wir da. Kreszentia-Stift, Wohnstift und Pflegeheim in der Münchner Isarvorstadt.

 

„Grüßgott!“, sagte ich zu der Dame am Eingang.

 

Bevor sie ihrerseits ein „Grüßgott!“ hervorbringen konnte, richtete sich Herr Kerschenstein auf und stieß ein kraftvolles und lautstarkes „Grüßgott!“ hervor.

 

Weil zufällig ein Geistlicher auf dem Gang unterwegs war und sich angesprochen fühlte, kam auch dieser der Empfangsdame mit einem fast psalmenhaft gesungenen „Grüßgott“ zuvor.

 

Das folgende „Grüßgott“ der Empfangsdame wirkte auf mich fast ein wenig verärgert.

 

„Wir möchten zu Frau Anneliese Kerschenstein.“

 

Die Dame nannte uns auswendig Stockwerk und Zimmernummer.

 

Wortlos fuhren wir mit dem Lift in den 2. Stock und öffneten die Tür zu dem Zimmer von Anneliese Kerschenstein.

 

Eine kleine Frau mit weißen Haaren und einem freundlichen Gesicht mit weichen Zügen saß an einem kleinen Tisch, vor sich ein Glas Wasser. Sie blickte uns erstaunt an und sprach verwundert:

 

„Grüßgott!?!“

 

„Hallo!“, sagte ich.

 

Wir traten langsam ein. Ich schloss leise die Tür hinter uns.

 

Ich tat einen Schritt zur Seite, denn ich realisierte blitzschnell dass es nicht um mich ging.

 

„Anneliese?“

 

„Hmm?“

 

„Anneliese!“

 

„Hmm!“

 

„Ich bin es! Kurt“

 

„Hmm…“

 

Anneliese betrachtete das Glas Wasser.

 

Kurt ging drei Schritte auf den Tisch zu, hinter dem Anneliese saß.

 

„Ich bin es! Kurt! Dein Mann!“

 

„Kurt? Kurt! Ach, Kurt, Du bist’s! Mei, bin ich froh, dass Du gekommen bist! Ich hab schon so lang gewartet!“

 

„Gell, das ist lang her!“

 

„Oh mei, ist das lang her! Der Sepp war dabeii!“

 

„Anneliese!“

 

„Hm.“

 


 

Nun griff ich ein und führte Herrn Kerschenstein um den Tisch herum zu seiner Frau. Die beiden fassten sich an den Händen. Herr Kerschenstein berührte seine Frau zärtlich am Gesicht, dann setzte er sich neben sie.

„Kurt! Du bist’s!“

 

„Ja, ich bin’s. Der Kurt. Dein Mann. Deine Jugendliebe! Weißt Du noch?“

 

„Ja, ich weiß. Du warst meine Jugendliebe!“

 

„Meine erste und meine einzige Liebe warst Du! Für die Marianne habe ich zwar geschwärmt, aber geliebt habe ich nur Dich.“

 

„Ach, die Marianne! Jaja, Du warst ja auch meine Jugendliebe.“

 

Später las ich mit ruhiger Stimme einen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vor. Es war ein Bericht über Bob Dylan. Ich erntete zustimmendes Nicken von meinen beiden Zuhörern.  

Wir sind die gesamte Strecke schweigsam und glücklich mit dem Taxi zurück gefahren.

 

Ich denke oft an Kurt und Anneliese.


– 2. Version –