Von Miklos Muhi

Die Wohnung war zu jener Tageszeit leer. Josef wusste das und deshalb führte er Sara hierher. Unterwegs sprachen sie kein einziges Wort, sie gingen auf der Straße, wie zufällig, fast nebeneinander.

 

In der Wohnung war düster. Durch die kleinen Fenster fiel wenig Licht ein, nicht genug, um zu lesen, aber Lesen war das Letzte, woran sie in jenem Moment dachten. Viel wichtiger für sie waren der Tisch, die Stühle und das kleine Bett in der Ecke. Als die Tür hinter ihnen zufiel, blieben sie zuerst genauso stumm, wie auf der Straße. Sie schauten sich tief in die Augen, dann versanken sie ineinander mit Wort und Tat.

 

Sie bemühten sich, leise zu sein.

 

Lange blieben die beiden da. Erst am Nachmittag machten sie sich auf, um nach Hause zu gehen. Zuerst verließ Sara die Wohnung, dann Josef. Abschließen war zwecklos.

 

Das ging schon seit Dezember letzten Jahres so. Unter anderen Umständen wären sie einander nie begegnet und selbst wenn sie einander begegnet wären, hätten ihre Familien nicht einmal eine Schwärmerei wischen ihnen zugelassen. Momentan hatten aber alle andere Sorgen.

 

Da war zum Beispiel die banale aber nicht unerhebliche Frage der Nahrung. Alle hungerten, es gab wenig zu essen und auch wenig Geld, um etwas zu kaufen. Was man für die harte Arbeit erhielt, konnte man nicht als Lohn bezeichnen, aber wenn es kaum Waren gab, half selbst die beste Bezahlung nicht.

 

Den Bezirk, wo sie wohnen mussten, teilten sie mit vielen anderen Menschen, viel zu viele, gemessen an der Zahl der verfügbaren Wohnungen. Überall herrschte Gedränge, überall suchten abgemagerte Menschen (hauptsächlich Kinder) nach etwas Essbarem. Nur wenige Wohnungen standen tagsüber leer. Nach Feierabend kamen aber die Bewohner wieder.

 

Josef und Sara mussten noch nicht arbeiten. Sie waren zu jung, um in den Fabriken zu schuften. In einigen Monaten wird Josef auch mittun müssen, Sara erst nach etwas mehr als zwei Jahren. Das alles war aber nur eine Vorstellung. Das gute Leben vor einigen Jahren war nur eine Erinnerung. Ihre gelegentlichen Treffen und Zärtlichkeiten waren die Gegenwart und somit die einzige Realität für sie.

 

Der Hunger störte sie nicht. Wann immer sie etwas Essbares fanden, teilten sie und die jeweiligen Eltern taten auch ihr Bestes, um sie zu ernähren. Manchmal fragte sich Josef, ob seine Eltern über diese Verbindung wussten. Er dachte, dass das der Fall war.

 

Man hätte blind sein müssen, um nicht zu sehen, wie die beiden sich auf der Chanukka-Feier im Gemeindehaus fanden und ansahen, wie Sara sich an Josef schmiegte, wie Josef sie umwarb, wie Sara unsicher, aber mächtig stolz errötete, wenn Josef nur in ihrer Nähe war. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick und als die zwei für eine Weile von der Feier verschwanden, entging das ihrem Bekanntenkreis sicherlich auch nicht.

 

Seitdem war Josef wie ausgewechselt. Er interessierte sich nicht mehr für seine Freunde, die ihren Mut damit bewiesen hatten, dass sie in den wirren Kämpfen im Januar gefallen waren. Josef bekam diese Kämpfe nur am Rande mit. Die tägliche Nahrungssuche, die Suche nach Liebesnestern und seine Anstrengungen, sein Jiddisch zu verbessern (er sprach Deutsch als Muttersprache, sein Jiddisch war eher passiv und bei Sara war das genau umgekehrt) ließen keinen Platz für Heldentum und halfen ihm, den Spott der anderen zu ertragen. Als Feigling beschimpft zu werden, machte nicht viel aus, wenn er wusste, dass er bald wieder mit Sara zusammen sein konnte.

 

Diese Treffen zu organisieren wurde immer schwieriger. Die Bewohner bereiteten sich auf einen völlig aussichtslosen Aufstand vor. Die Alternative dazu war die erzwungene Abreise. Niemand wusste genau, wo das Ziel im geografischen Sinne lag, aber die Endstation dieser Reise war der sichere Tod, da waren sich alle einig.

 

Die Januarkämpfe hatten die Deportation zwar verzögert, aber keiner war so naiv zu glauben, dass sie jetzt gesiegt hätten. In diesem Krieg war bis jetzt nur die Wehrmacht immer wieder siegreich und wenn die Wehrmacht nicht ausreichte, da war noch die SS. Niemand wollte aussprechen, trotzdem wusste jeder: Sie werden zurückkommen und dann wird man gar nicht in die Züge steigen müssen, um zu sterben.

 

Am Sonntagabend vor Pessach stieg die Spannung ins Unermessliche. Josef und Sara trafen sich während des Tages nur kurz, denn es gab noch viel zu tun für das Fest. Seit Jahren war der Tisch nicht mehr reich gedeckt. Die wenige Mazzen musste man backen und die Wohnungen, in denen mehrere Familien zusammenlebten, mussten gründlich gesäubert werden, damit nichts Saures für das Pessach da blieb.

 

Josef tat, was er tun musste, ertrug, wenn er beschimpft oder sogar geschlagen wurde und dachte nur ans nächste Treffen mit Sara. Er legte sich genau mit dem gleichen Gedanken zum Schlafen hin, wie jeden Abend: Das nächste Treffen war nur eine Nacht entfernt.

 

Diesmal musste er nicht einmal eine ganze Nacht warten.

 

Kurz nach drei Uhr morgens wurde er aus dem Schlaf gerissen. Von draußen drang Kampflärm herein. Er hörte die deutschen Befehle, die Geräusche der Panzerketten, jiddische Schreie und Schüsse mit den Waffen aus dem kümmerlichen Waffenarsenal der Aufständischen. Sobald er wach genug war, um zu verstehen, dass die Deutschen das Getto räumen wollten, stand er auf, zog seine Lumpen an, die er als Kleid und Mantel nannte und rannte los.

 

Die Schreie seiner Eltern, Geschwister und Mitbewohnern berührten nur sein Trommelfell.

 

Er dachte an Sara und Sara dachte an ihn. Sie trafen sich auf dem kleinen Platz vor der ehemaligen Glaserei, ungefähr auf dem halben Weg zwischen ihren Wohnungen. Auf den Straßen war die Hölle los. Es krachte, die Menschen rannten herum und schrien. Sie sahen sich kurz an, dann nahm Josef Saras Hand. Sie liefen durch das Getto, in die Ecke, die am weitesten vom Eingang entfernt lag. Je weiter sie kamen, desto leiser wurde es und desto weniger Menschen rannten ihnen entgegen.

 

Das Versteck war schnell gefunden. Dieser Teil des Warschauer Gettos war wie leer gefegt. Viele versteckten sich in der Kanalisation oder stellten sich aus Verzweiflung und mit bloßen Händen dem Kampf gegen eine hochgerüstete und gut ausgebildete Armee.

 

Josef und Sara verbrachten zwei Tage zusammen, die glücklichsten, seit dieser heillose Krieg ausgebrochen war. Am zweiten Tag waren beide vom Hunger so geschwächt, dass sie sich kaum mehr bewegen konnten. Zum Trinken gab es auch nicht viel. Das bisschen Regen verdampfte schnell und aus dem Wasserhahn kam seit Jahren kein Wasser mehr.

 

Hunger und Durst tat ihrem Glück keinen Abbruch, aber ihr Körper ertrug das nicht. Irgendwann starb Sara. Sie war lautlos und glücklich entschlafen. Da waren die Soldaten schon ganz nah und man hörte kaum etwas von den Aufständischen. Josef trauerte und fühlte sich schwach.

 

Sein austrocknendes Gehirn schickte ihm Halluzinationen: Er sah sich und Sara auf ihrer Hochzeit unter dem Chuppa, sie tranken Wein, tauschten die Ringe, der Rabbi und alle andere gaben ihren Segen. Als er auf das ins Tuch gewickelte Glas trat, klirrte es sehr laut und noch bevor die Menge die Mazel-Tov-Rufen loswerden konnte, lag Josef wieder in der Wohnung im Getto.

 

Er öffnete die Augen und sah, wie das Fenster des Zimmers, in dem sie lagen, zerbrochen war. Vielleicht durch Schüsse oder irgendein Trümmerteil schlug die Scheibe ein. Draußen hörte er die SS-Männer:

 

»Flammenwerfer zum Einsatz vorbereiten!«

»Jawohl, Herr Gruppenführer!«

Klirren und Poltern drang ein. Schüsse oder Schreie waren kaum mehr zu hören. Dann wurde still, wie in einem Grab. Josef schloss seine Augen zum letzten Mal.

 

»Herr Gruppenführer Stroop, melde gehorsam, die Flammenwerfer sind einsatzbereit!«

»Los, brennt hier alles nieder. Sollen die Ratten doch aus ihren Löchern kommen oder verbrennen.«

 

Das Fauchen der Flammenwerfer hörte Josef nicht mehr.