Von Ruth Loseke

Keiner wusste, woher der Nebel gekommen war; plötzlich war er da. Sie fuhren durch die aufkommende Dämmerung eines Spätsommertages. W. hatte das Licht des alten R4 angeschaltet. Er war der einzige aus der Clique, der schon einen Führerschein und ein Auto besaß. Er war 2 Jahre älter als die anderen und erst vor einem Jahr auf die Schule gekommen, um sein Abi zu machen. Irgendjemand hatte die Geschichte erzählt, er sei als Kind zu Hause vom Garagendach gestürzt und habe einen bleibenden Gehirnschaden davon getragen. Deswegen sei er schon zweimal sitzen geblieben. Aber Mira zweifelte an der Geschichte. Da wollte sich wohl nur jemand wichtig machen. W. saß in der Klasse ihr schräg gegenüber und sie hatte noch nichts von diesem angeblichen Schaden bemerkt.

 

Aus dem Kassettenrecorder tönte Musik von den Stones. W. hatte immer seinen Kassettenrecorder vorne zwischen den Sitzen liegen; eigentlich hörte er meistens Jazz, aber heute Abend auf dem Weg zur Fete hatte er sich wohl gedacht, etwas Rockiges passe besser.

 

Bevor der Nebel aufgekommen war, hatten noch alle über die Fete geredet, die irgendwo draußen im Moor stattfinden sollte; einer aus der Clique hatte von der Fete gehört; genau das Richtige für eine Samstagabendaktion. Es wurde gelacht, aber W. hatte auch die Befürchtung geäußert, dass er durchs Abi rasseln könne; das hatte Miras Stimmung ein bisschen gedrückt, denn W. war einer ihrer besten Kumpels. Sie gingen oft lange miteinander spazieren, bei Wind und Wetter und redeten über Gott und die Welt.

 

Ein Joint hatte im Auto die Runde gemacht und Mira hatte ein bisschen mit Lenny geknutscht und sich dann an ihn geschmiegt; sie tranken aus einer großen Orangensaftflasche Wodka O-Saft, halbe/habe. Den Orangensaft hatten Lenny und Mira im Supermarkt gekauft, den Wodka hatte Lenny unter seinem Parka mitgehen lassen. Das machten sie oft samstags; dann konnte man den guten, teuren Wodka nehmen und der Diebstahl mit der damit verbundenen inneren Anspannung und Aufregung war der ideale Auftakt für ein gelungenes Wochenende. Und bis jetzt waren sie auch noch nie erwischt worden.

 

Mit Auftauchen des Nebels war es still im Auto geworden. Keiner sagte mehr ein Wort. W. starrte konzentriert auf das bisschen Landstraße, das noch zu sehen war, ohne das Tempo zu verringern. Nur aus Onnos Mund kam ein unbewusst gesprochenes „Wahnsinn!“. Er und die drei hinten im Fond blickten gebannt nach draußen, so als versuchten sie etwas im Nebel zu erkennen, erwartungsvoll, angestrengt. Der Nebel verdichtete sich zusehends und umhüllte alles dermaßen, dass für die Insassen im Auto kaum noch etwas von der Umgebung zu erkennen war; nur märchenhafte, fantastische Umrisse. Es war, als wären sie allein auf der Welt, als wäre die Zeit stehengeblieben. Mira fragt sich, wo sie überhaupt waren und ob sie jemals an ihrem Ziel ankommen würden.

 

Die Straße, eine dieser kleinen Landstraßen ohne jegliche Markierung, weder Mittelstreifen noch Leitpfosten, war zu eng für zwei entgegenkommende Fahrzeuge. W. behielt derweil das Tempo bei. Warum fuhr er nicht langsamer, vorsichtiger? War das nicht gerade so eine Art russisches Roulette? Eben noch, kurz vor Auftauchen des Nebels, war ihnen ein anderes Fahrzeug entgegengekommen…

 

Aber dann verstand Mira, was in W. vorging; warum er einfach mit voller Fahrt weiter durch den Nebel fuhr. Sicher empfanden das alle im Auto so: Ihnen würde bestimmt nichts passieren. Sie waren jung, sie waren unverletzlich; sie hatten ihr Leben noch vor sich, sie waren unschuldig. In ihnen war so eine Art innere Gewissheit, dass mit Tempo 80 durch den Nebel ein Abenteuer war, das gut gehen würde; das Auto wie eine Gebärmutter; der Moment hatte etwas von Unendlichkeit. Lennys Arm um Miras Schulter, die Musik, die Gefahr…Mira fühlte sich lebendig und frei.

 

Ein neuer Song tönte aus dem Recorder. It´s all over now, baby blue von Bob Dylan; kurz drangen einige Textzeilen in Miras Bewusstsein.

 

You must leave now, take what you need, you think will last

but whatever you wish to keep, you better grap it fast

…the highway is for gamblers, better use your sense

Take what you have gathered from coincidence

 

In Gedanken versuchte Mira die Worte zu übersetzen; irgendwie hatte sie das Gefühl, die Worte seien wichtig, hätten etwas mit ihr, mit Lenny und den anderen Jungs zu tun; eine Art Botschaft.

Du musst jetzt gehen, nimm mit, was du brauchst, was bleiben wird; was auch immer du behalten möchtest, halte es ganz fest; der Highway ist etwas für Spieler; benutze deine Sinne; nimm was du zufällig zusammengesammelt hast…

 

Sie spürte, wie Lenny neben ihr atmete. Sie liebte Lennys Körper, seine ganze Körperlichkeit, wie er sich bewegte, sein T-Shirt in die Jeans steckte, auf seiner Gitarre spielte, wie er lachte und zu ihr sagte, Jimi Hendrix hätte sich auch in sie verliebt, wenn er sie tanzen gesehen hätte. Sie liebte es, wenn er sie küsste; schon bei ihrem ersten Kuss war ihr klar gewesen, dass sie zusammen passten, dass sie zusammen gehörten. So etwas merkte man beim Küssen. Es war auf der Schulfaschingsfeier gewesen; sie waren nach draußen auf den Schulhof gegangen; und das intensive Küssen hatte ihr fast die Sinne geraubt, erst scheu und zögerlich und dann immer sicherer und voller Erotik. Selten hatte sie sich mit jemandem so wohl gefühlt. Sie würden für immer zusammen bleiben; sie würde alles für ihn tun.

 

Allerdings seine Mutter und ihr abschätzender Blick gingen ihr auf die Nerven. Vielleicht dachte die Mutter, sie würde ihn nicht bemerken, diesen Blick. Sie würden nie Freundinnen werden, das war Mira klar. Eine Mutter, die kochte und putzte, sich nur der Familie widmete; noch ganz nach altem Rollenverständnis… „Sie toleriert mich nur“, dachte Mira, „weil sie merkt, dass der Sohn in mich verliebt ist.“

 

Und Lennys Vater? Er verstand gar nichts von seinem Sohn; er erwartete von ihm, nach dem Abitur Jura zu studieren, die Familientradition weiter zu führen; schon der Großvater war Rechtsanwalt gewesen; abartig…

 

Aber Lenny hatte andere Pläne; er würde den Vater enttäuschen; er hatte ihn bereits enttäuscht, weil er sich ihm widersetzte, indem er sich lange Haare wachsen ließ; er hatte ihn enttäuscht, indem er sich weigerte mit ihm auf die Jagd zu gehen.

 

Mira war klar, das die beiden ein absolut gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis hatten; Lenny sprach kaum über seinen Vater; er versuchte dessen Existenz weitgehend auszublenden. Ehrlich gesagt, freute sie das sogar ein wenig. Der Vater machte ihr Angst. Sie hatte den Eindruck, er könne ihr gefährlich werden. Seine autoritäre Ausstrahlung verunsicherte sie; die vielen Geweihe in seinem Haus an der Wand der Eingangshalle und die Vorstellung, dass er diese Tiere alle selbst geschossen hatte und anscheinend auch noch stolz darauf war; das stieß sie ab.

 

Nach dem Abi würden Lenny und sie zusammen ziehen. Das war das einzig Wichtige. Vielleicht zusammen mit den anderen Jungs in eine WG. Sie würde irgendetwas studieren; vielleicht etwas Künstlerisches? Eigentlich hatte sie keinen Plan, es würde sich schon etwas ergeben. Wichtig war, dass sie zusammen waren. Lenni würde etwas mit Musik machen, natürlich.

 

Der Nebel war noch dichter geworden. Plötzlich wurde Mira klar, dass sie diesen Moment mit Lenny, mit W., mit Onno und den anderen beiden Jungs im Auto niemals vergessen würde; dass dieser Moment verbunden mit dem Gefühl von Freiheit und Gefahr für immer in ihrem Gedächtnis abgespeichert sein würde; diese wenigen Minuten im Nebel; der magische Moment einer irrational erscheinenden Verbundenheit; sie alle zusammen als einzig Überlebende auf dem Weg nach irgendwo. Egal, was später passieren würde, dieser Moment würde ihnen bleiben.

 

Vielleicht, in einigen Jahren, würden Lenny und sie  beginnen, sich zu streiten oder sich miteinander zu langweilen; vielleicht würden sie das Interesse aneinander verlieren, sich in verschiedene Richtungen entwickeln; oder sich in jemand anderen verlieben, vielleicht würde der Alltag mit seinen Anforderungen zu Unzufriedenheit, Verletzungen und Kränkungen führen; sie würden auseinandergehen und sich nie wieder sehen. Aber dieser Moment würde bleiben. Take what you need, you think will last…

 

Fast wünschte sich Mira, der Nebel würde sich nie wieder lichten, sie würde für immer Lennys Körper ganz dicht neben sich spüren und die Gegenwart der anderen Jungs. Und fast wünschte sie sich, ein Auto mit derselben Geschwindigkeit käme ihnen entgegen; der alter R4 hatte nur wenig Schutzzone; sie wären wahrscheinlich alle sofort tot. Und sie wären in einem schönen Moment gestorben, in einem Moment, in dem alles perfekt gewesen war.