Von Marianne Apfelstedt

Die Jalousien sperrten schon seit Stunden das Sonnenlicht aus, in diesem Vakuum wurden Minuten zu Stunden. Nur das gelegentliche Tippen der Tasten und ein leises Surren, wenn der Lüfter am Rechner ansprang, durchbrachen die Stille. Pia runzelte die Stirn und bemerkte gar nicht, dass sie wieder auf der Lippe kaute. Zum hundertsten Mal ging sie Zeile um Zeile die programmierten Codes durch. Wo lag der Fehler? War ein Patch am falschen Platz eingefügt? Endlich bei Zeile 73 hatte sie fehlerhafte Strings entdeckt. Auch beim erneuten Start leuchtete rot das verhasste Wort „error“ auf. Sie steckte in einer Sackgasse. Ein Rumoren erinnerte sie daran, dass sie heute außer den Chips noch nichts gegessen hatte. 

 

Missmutig schnappte sie sich die leere Coke Flasche und verließ ihr Zimmer. Sie lief die Treppen nach unten. Aus der Küche strömte ihr Essensgeruch entgegen und sofort reagierte ihr Magen mit lautem Knurren. 

 

„Prima, perfektes Timing. Ich habe den Auflauf eben aus dem Ofen geholt“, sagte Pias Mutter Vera freudig, als Pia in die Küche trat.

 

„Menno! Schon wieder nur so ein Gemüsezeugs.“

 

„Das Gemüsezeugs lässt sich in der Mikrowelle aufwärmen, wenn ich beim Arbeiten bin, dann muss ich morgen nicht kochen. Kommst du mit in die Stadt zum Einkaufen?“

 

„Nee, geht nicht. Bei der Programmierung für den Chatroom ist ein Fehler drin. Ich komm nicht drauf, was nicht stimmt und mir läuft die Zeit davon. Das Programm muss perfekt werden, damit erhöht sich meine Chance, Werksstudentin bei Sortex zu werden“, erklärte Pia.

 

„Sind das nicht die, mit dem Slogan, die Zukunft beginnt mit Sor und endet nicht bei Tex? Was für eine Firma ist das?“, wollte Vera wissen.

 

„Sie entwickeln Chatrooms, für alle möglichen Lebensbereiche. Zur Bildung, Entspannung und Games. Sie sind Marktführer der aktuellen Cloud Architektur und Experten für Künstliche Intelligenz. Wenn ich einen Fuß in diese Firma bekomme, habe ich ein Winner Ticket für die Zukunft“, sagte Pia euphorisch.

 

„Im Internet bin ich vor kurzem auf einen Artikel gestoßen, dort wurde ein neues Spiel von Sortex vorgestellt. Testpersonen wurde dafür vor Beginn ein Serum verabreicht, das die Sinneswahrnehmung schärft. Das weckt in mir den Verdacht, dass hier eine neue Art von Droge entwickelt wird“, erzählte Vera.

 

„Quatsch, du darfst nicht alles glauben, was im Netz verbreitet wird. Vermutlich war es nur ein Placebo Effekt, wenn die Spieler annehmen, ihre Sinne wären geschärft, dann gamen sie halt besser“, behauptete Pia.

 

Pia arbeitete nach dem Essen verbissen an ihrem Computer weiter. Stunde um Stunde fügte sie weitere Codes ein, um dann bei der Überprüfung wieder neue Fehlerquellen zu finden. Unzählige Versuche später, verlief am Ende der Nacht ein Test erfolgreich. Jetzt fühlte sie sich gut vorbereitet für das Vorstellungsgespräch, bei dem sie mit dem selbstgeschriebenen Programm überzeugen wollte.

 

Einige Wochen später hatte sie es geschafft. Aufgeregt und stolz trat sie in Jeans und weißer Bluse zu den anderen jungen Leuten in die Aula des Sortex Hauptgebäudes. Leise huschte sie auf einen Stuhl in der hintersten Reihe, kurz bevor der hagere Mann im silbergrauen Anzug, die Neulinge begrüßte. 

 

„Mein Name ist James T. Stuart, ich bin der Mitbegründer von Sortex und heiße Sie heute herzlich willkommen. Sie wurden ausgewählt aus einer Vielzahl an Bewerbern, weil Sie die Elite sind. Die Besten Programmierer, Security Spezialisten, Cloud Architekten und Spiele Designer. Wir werden eine neue Welt erschaffen. Aus Möglichkeiten werden Visionen für eine lebenswertere Zukunft der Menschheit. Wir haben das Knowhow und Sie die Intelligenz. Zusammen sind wir unschlagbar!“ Er streckte die Hände nach oben und schon brach sich ein ohrenbetäubender Applaus Bahn. Pia wurde von der euphorischen Stimmung mitgerissen und jubelte wie die anderen Neulinge. 

 

***

 

20 Jahre später…

 

In der Orion Bar hatten sich an diesem Abend überwiegend gutaussehende Gäste versammelt, die sich fluoreszierende Cocktails von androgynen Körpern servieren ließen. Aus den Ecken erklangen sphärische Töne, die das futuristische Interieur in Weiß und Schwarz untermalten. Niemand der anwesenden Frauen trug rot. Keine außer Pixa. Anmutig wie eine Raubkatze näherte sie sich der Bar. Bei jedem Schritt zeigte sich einen Augenblick lang der muskulöse, wohlgeformte Oberschenkel durch den Schlitz des Rocks, bevor er wieder vom roten Satin verdeckt wurde. Ein tiefes Dekolleté bot Ausblick auf verführerische Rundungen. Die manikürten Nägel perfekt geformt, kirschrot lackiert passend zum Kleid. Zielsicher suchte sie sich einen Barhocker in der Mitte aus, setzte sich in Pose, wissend, dass sie Blicke anzog wie das  Licht die Motten.

 

„Bitte einen Sonnenuntergang für mich“, bestellte sie beim Barkeeper mit laszivem Blick. Der gewünschte Drink wurde eisgekühlt serviert, garniert mit einem Fruchtspieß. Sie knabberte zuerst genüsslich das Obst, dann schlossen sich die Lippen um das Röhrchen und absorbierten den fruchtigen Alkohol. Aus der Tasche entnahm sie eine parfümierte Zigarette und steckte sie in den Zigarettenhalter. Auf ihrer Linken sah sie aus den Augenwinkeln eine Flamme aufglimmen. Das Streichholz hielt ein muskulöser Mann mit grauen Koteletten in der gebräunten Hand.

 

„Besten Dank“, hauchte sie dem Herrn entgegen.

 

„Ich bin mir sicher, dass ich sie noch nie in dieser Bar gesehen habe. Mein Name ist Maurice Godet“, erwiderte er.

 

„Hin und wieder schaue ich schon hier vorbei“, plauderte Pixa.

 

„Verraten Sie mir ihren Namen?“, säuselte er im Bariton.

 

„Sie können mich Pixa nennen.“

 

Beim Smalltalk taxierte Pixa ihr Gegenüber. Ihr gefiel, was auf den ersten Blick zu erkennen war. Nach dem Drink zog sie Maurice auf die winzige Tanzfläche, unter dem Hemd erspürte sie die muskulösen Oberarme, sie wurde umnebelt vom herben Aftershave. Langsame Melodie, die Bewegungen flossen Sirup gleich ineinander. Hände erforschten den fremden Körper an leicht zugänglichen Stellen. Pixas Nägel fuhren spielerisch an der zarten Haut im Nacken entlang. Er revanchierte sich, indem er seine Hand unter den tiefen Rückenausschnitt ihres Kleides gleiten ließ und an der Spitze ihres Slips entlangstrich. Durch den dünnen Satin nahm sie die Hitze seines Körpers wahr und ihre Lippen trafen sich zum vibrierenden Stakkato.

 

***

 

Pia hörte kein Klingeln und nicht das Klopfen an der Tür, in den Ohrmuscheln steckten Kopfhörer. Die Jalousien sperrten das Tageslicht und die Außenwelt aus. Ausgestreckt auf der roten Lederliege, der Schädel totenbleich mit Schatten unter den geschlossenen Augenlidern. Verdrahtet durch den Anschlussknopf direkt am Nacken, verbunden mit Pixas Welt, mit der Frau in Rot. Neuronen ausgereizt, stimuliert vom Programm. Schlaffe Arme, teigig weiße Finger mit nikotingelben Nägeln, lagen auf der Armlehne positioniert. Im schwarzen XXL-Shirt, das nur knapp die Körperfülle der Taille verbarg. Die Beine in grauen ausgebeulten Jogginghosen starr auf der Liege fixiert. Auf dem 34 Zoll Bildschirm zog in endlosem Banner das Logo von Sortex seine Bahnen. Time out in 3 Stunden 47 Minuten und 58 Sekunden. Neben der Tastatur lag achtlos eine Injektionspistole mit einem Rest türkisen Serums. Nach weiteren 7 Minuten wirkte es, Pias Gesichtsmuskeln entspannten sich, die Lippen gespitzt zum Kuss öffneten sich und eine Zungenspitze wand sich heraus. Nach weiteren 11 Minuten erbebte ihr Unterleib in ekstatischen Zuckungen und die Nägel krallten sich ins Leder. 

 

 

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