Von Daniela Seitz

„Aiko-chan, du bist ein Kind der Liebe. Der Liebe deines Vaters und mir. Wir sind vergänglich. Doch unsere Liebe lebt in dir weiter. Damit ist unsere Liebe unsterblich. Die Liebe bleibt bestehen. Immer. Erinnere dich daran. Liebe ist unser höchstes Gut. Liebe rechtfertigt alles. Denn Liebe ist wichtiger.“

Die Worte meiner Mutter, tief eingedrungen in mein Innerstes, mit weitläufiger Verwurzelung in meinem Herzen, gehegt und gepflegt von meinem Verstand, genährt von Filmen und Büchern, befeuert durch Geschichten von Familie und Freunden, herbeigesehnt von diesem Flattern in meinem Bauch, besiegen meine Angst.

Ich werde am Valentinstag Senpai-sama selbstgemachte Schokolade überreichen!

So kann man in Japan die Liebe gestehen. Wenn Senpai-sama meine Liebe erwidert, wird er mir am White Day im Gegenzug ebenfalls Schokolade überreichen. So einfach ist das. Oder auch nicht. Senpai-sama ist zwei Klassen über mir und als Schulsprecher sehr beliebt. Er wird nicht nur von mir Schokolade erhalten. Auch kann die Überreichung von Schokolade nur große Wertschätzung ausdrücken, daher muss meine Botschaft mit der Schokolade unmissverständlich sein.

Deshalb folge ich Senpai-sama von der Schule; vorbei an nach Hause strömenden Schülermassen; die Kirschblütenallee entlang; über die große Kreuzung mit Ampeln; immer wieder verschwindend hinter Bäumen und Menschen, um nicht entdeckt zu werden; einen halbangebissenen Apfel, den Senpai-sama weggeworfen hat, aufsammelnd; in die Stadt.

Dort trifft er sich mit Nakamura-san. Ein anderes Mädchen! Was bedeutet sie ihm? Warum treffen sie sich? Ich schleiche mich ganz nah an sie heran, um sie zu belauschen:

„Yui-chan, du bist wie die kleine Schwester, die wir…“

Ich schäume vor Wut! Yui-chan? Ihre Beziehung ist so eng, dass er sie nicht nur beim Vornamen nennt, sondern ihn auch noch verniedlicht? Sie ist nicht seine Schwester. Was fällt ihr ein, ihn zu belästigen? Meine Wut vernebelt den Rest seines Satzes und ihre Antwort, doch ich sehe wie sie ihn an der Hand ergreift, aufspringt und in den nächsten Supermarkt zieht.

Ich folge ihnen. Sie kauft ganz klar Zutaten ein, um Schokolade selbst zu machen. Aber wozu nimmt sie dazu Senpai-sama mit? Hat er etwas Allergien, weshalb sie ihn die Zutaten aussuchen lässt? Sie meidet beim Einkauf Nüsse. Um nicht aufzufallen, muss ich auch was kaufen. Warum also nicht die gleichen Zutaten wie sie nehmen. Auf die Art bin ich nah genug, vermeide irgendwelche Allergievorfälle und ich muss sowieso noch die Zutaten für meine eigene Schokolade kaufen.

Beide kennen mich nicht. Ich kann in der Schlange an der Kasse direkt hinter ihnen stehen.

„Hiko-kun, das ist so aufregend! Versprich mir, dass du Souta…“

Meine Wut vernebelt erneut die Sätze der beiden. Wie kann sie es wagen! Sie ist so unverschämt Senpai-sama bei seinem Vornamen zu nennen. Daran würde ich nicht in einer Millionen Jahre denken. Dass sie es wagt, seinen Vornamen auch noch auszusprechen! Ich bezahle meine Waren und folge den beiden. Doch sie gehen getrennte Wege. Ich folge Senpai-sama.

Zurück über die Kreuzung mit den Ampeln; durch den Stadtpark; wieder hinter Menschen, Bäumen und nun auch manchmal Bänken verschwindend; traumverloren auf Senpai-sama vor dem See starrend, während er dort heimlich raucht; seinen Zigarettenstummel aufsammelnd, als er diesen einfach auf den Boden zurücklässt und ich sicher bin, dass er mich nicht bemerkt; hin zu seinem Elternhaus in der Spielstraße.

Erst als ich sehe, dass Senpai-sama wohlbehalten zu Hause angekommen und im Haus verschwunden ist, gehe ich selbst nach Hause. Zu meinem Senpai-Schrein, in dem bereits ein benutztes Pflaster von Senpai-sama und sein Taschentuch liegen und den ich heute um einen Apfel und den Zigarettenstummel ergänzen kann. Meinen Ritualen folgend, meditiere ich vor dem Schrein und brenne dabei Räucherstäbchen ab. Der Duft von Sandelholz und Weihrauch, wechselt mit Vanille und Ingwerlilie. Ich liebe diesen Duft, der Engelshoffnung genannt wird.

Dann mache ich mich an die Zubereitung der Schokolade. Backkakaopulver, feinstgemahlene ungeröstete Kakaobohnen, Himalaysalz, Vanille, Agavendicksaft und Kakaobutter breite ich vor mir aus, vermische es zu einem Schokoladenbrei, fülle den Brei in die Herzschokoladenschablonen, behalte dabei etwas von der Schokolade zurück, lasse den Kühlschrank fünfzehn Minuten lang seine Arbeit machen, nehme die gekühlten Schablonen wieder heraus, drücke die festgewordene Schokoladen heraus und beginne mit der Verzierung mithilfe von Zucker, Zimt, getrockneten Orangenschalen, Karamell und der übrig gebliebenen Schokolade.

Als ich fertig bin, bin ich stolz. Ich habe ein unmissverständliches Meisterwerk der Liebe geschaffen.

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Der Valentinstag kommt und geht, die Übergabe an Senpai-sama war außergewöhnlich, doch ansonsten stört nichts unsere lieb gewonnene Routine, bei der ich ihn jedes Mal sicher nach Hause bringe. Nakamura-san habe ich nur ein einziges weiteres Mal in seiner Nähe gesehen. Als sie am Valentinstag ebenfalls ihre Schokolade an Senpai-sama übergab.

Im Gegensatz zu mir, die kein Wort rausgekriegt hat und die Schokolade mit einer höflichen Verbeugung übergab, hat sie ihm sehr wortreich und wie beim Einkaufen mit ihrer unhöflichen „Ich nenne dich beim Vornamen“ Art zehn Minuten seiner Lebenszeit gestohlen.

Doch am White Day werden wir ja sehen, wen Senpai-sama favorisiert. Er wird nicht allen zehn Mädchen, die ihm am Valentinstag Schokolade überreicht haben, nur aus reiner Gefälligkeit am White Day ebenfalls Schokolade überreichen. Das kostet ihn zu viel Zeit. Das macht kein Junge.

Warte nur ab, Nakamura-san!

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Es ist White Day. Der 14. März! Der Tag an denen Jungs Mädchen Schokolade schenken, so wie am Valentinstag Mädchen den Jungs Schokolade schenken. Ich halte mich ganz nah bei Senpai-sama auf. Den ganzen Tag. Er kann mich nicht verfehlen.

Und doch geht er nur zu Nakamura-san und gibt nur ihr ein herzförmiges Päckchen mit gekaufter Schokolade. Ansonsten bekommt kein Mädchen, mich eingeschlossen, etwas von ihm. Pah, gekaufte Schokolade! Das bedeutet gar nichts! Doch in mir drin nagt es und ich beginne Nakamura-san zu folgen.

Sie ist Mitglied im Kochclub der Schule und bleibt daher nach Schulschluss länger in der Schule. Ich habe mich nie für die Clubs interessiert, die nach dem Unterricht in der Schule stattfinden, obwohl die Schule reichlich Auswahl bietet. Heute ändere ich das und bin Nakamura-san nah, indem ich dem Club beitrete. Und ich habe Glück. Nakamura-san kümmert sich um mich, den Neuling. Als keiner hinsieht, lasse ich ein Messer aus der Küche mitgehen.

Ich schütze vor, den gleichen Heimweg wie Nakamur-san zu haben. So gehen wir gemeinsam von der Schule zu ihr nach Hause. Unterwegs finde ich eine uneinsehbare Stelle und konfrontiere sie.

„Wie kannst du es wagen Senpai-sama beim Vornamen zu nennen?“, rufe ich und halte ihr das Messer an die Kehle.

Sie ist völlig verängstigt, überrumpelt und wohl schlicht zu überrascht, um Hilfe herbeizurufen. Sie ist versteinert und wie erstarrt, obwohl sie größer ist, als ich. Ich zerre ungeduldig an ihrem Arm. Will eine Antwort.

„W..we..wen meinst du?“, presst sie hervor.

„Er hat dir heute Schokolade geschenkt!“, sage ich bedrohlich leise.

Auch jetzt werde ich Senpai-samas Namen nicht aussprechen. Ich lasse mich nicht von Ihrer Unhöflichkeit anstecken! Ich kenne meinen Platz, im Gegensatz zu ihr!

„Du meinst Souta Takahashi-kun?“, fragt sie.

Ich hasse sie. Sie zwingt mich seinen Namen auszusprechen. Das wird sie mir büßen.

„Nein, ich meine Hiko Takahashi-sama! Der, dem du die Schokolade überreicht hast“, zische ich mit zusammengebissenen Zähnen.

„Aber Hiko-kun war doch nur der Bote. Ich liebe seinen Bruder Souta-kun, der krank zu Hause ist und für den er meine Schokolade entgegengenommen hat und mir Souta-kuns Schokolade überbracht hat“, ruft sie und beginnt sich gegen das Messer an Ihrer Kehle zu wehren.

„Lüge! Dann hättest du ihm die Schokolade auch nach Hause bringen können“, schreie ich und versuche in dem Handgemenge, dass ihre Gegenwehr auslöst, die Oberhand zu behalten.

„Souta-kuns Eltern hassen mich! Sie geben mir die Schuld an seinem Unfall! Sie dürfen es nicht wissen! Bitte!“

Ihre Stimme fleht; doch sie wehrt sich weiter und ich habe keine Wahl, weil sie sonst den Spieß umdrehen wird und weil ich Zeit verliere; ich steche zu; mehrmals; blutend sackt sie zusammen, fleht ein letztes Mal; verdreht ihre Augen; Blut besudelt mein Hände, mein Hemd, mein Gesicht; ich durchsuche ihre Sachen, finde ihr Handy, ihre Geldbörse, Schmuck und eine Uhr; nehme alles an mich, denn es muss wie ein Raubüberfall aussehen und greife mir schließlich den wichtigsten, herzförmigen Gegenstand und lasse ihn in meine Tasche gleiten.

Wie kann man nur so dreist lügen. Wer würde einen Krüppel lieben, wenn er Senpai-sama haben kann. Außerdem hat sie es verdient. Dafür dass sie mich zwang, Senpai-samas Namen auszusprechen. Dafür, dass Senpai-sama ihr Schokolade gab. Die Schokolade ist nun in meiner Tasche! Eine weitere Reliquie für den Senpai-sama-Schrein.

Senpai-sama, ich werde jedes Hindernis zwischen uns beseitigen. Nakamura-san war nur eine Ablenkung für dich. Unsere Liebe ist unsterblich und kein Mensch wird sich jemals zwischen uns stellen.

Dafür sorge ich!

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