Anna Katharina Deichmann

Heute Nacht habe ich geträumt, dass meine Tochter wieder isst. Ich habe sie vor mir gesehen, mit kraftvollen schwarzen Locken, mit einem Leuchten in den Augen und einem Stück Pizza in der Hand. Sie nahm es in den Mund und der Käse zog Fäden.
Sie lächelte mich an, dann winkte sie mich zu ihr. Als sie mich in den Arm nahm, spürte ich mein kleines Mädchen zwischen meinen Händen. Lebendig. Sie atmete und ihr Körper war warm. Ich weinte vor Freude und als ich dann aufwachte, was mein Kopfkissen feucht und kalt.
Meine Lippen schmeckten nach Salz.

 

Die Haut an deinen Händen ist dunkler als die am Rest deines Körpers. Wahrscheinlich weil du selbst im Sommer immer dicke Sweatshirts mit langen Ärmeln trägst. Deine Finger sind lang und schmal, sie erinnern mich an ein Skelett.
An eines aus Glas.
Die Linien in deinen Handinnenflächen sind fein und laufen wie mit Sorgfalt gezeichnet über deine dünne Haut. Man sieht blaue Adern, die sich über deinen Handrücken ziehen, wie ein Kunstwerk, von dem man sich lieber wegdreht, weil es einen erschreckt.

 

Als ich am Morgen höre, wie du in meinem Rücken die Küche betrittst, halte ich den Atem an. Ich habe Angst, mich umzudrehen. Angst vor dem, was ich zu sehen bekommen werde.
„Guten Morgen“, sage ich also, ohne meinen Blick von dem Apfel abzuwenden, den ich gerade in Spalten schneide. Du antwortest nicht, gießt dir einen Kaffee auf und greifst deine abgetragene Schultasche, die noch neben dem Küchentresen steht.
„Möchtest du nichts frühstücken?“, frage ich und lache beinahe über meine eigene Frage.
Du schweigst und verlässt den Raum mit dem Thermobecher in der Hand und der Tasche über der Schulter. Ich sehe dich nicht an, aber weiß es genau, weil du es jeden Morgen gleich machst. Seit Monaten.
Ich höre die Haustür zufallen, schluchze laut auf und stütze mich mit beiden Händen an der Küchenplatte ab, um nicht auf den Boden zu sinken. Ich weiß nicht, ob ich je wieder aufstehen könnte.

 

„Sie braucht Hilfe“, stelle ich fest, während ich am Mittag in meiner Gemüsepfanne herumstochere. Es ist so lächerlich, dass es fast witzig ist. Meine Tochter will nicht essen und ich bin diejenige, der davon der Appetit vergeht. Ich bin diejenige, die sich Tag für Tag müde und kraftlos fühlt.
„Ich weiß. Aber was sollen wir tun“. Mein Mann zuckt die Schultern. Er hat seine Gabel noch nicht einmal angerührt.
„Wir…“ Wir haben bereits alles versucht. Sie schweigt ihre Therapeutin an, belügt den Arzt und schreit uns an, sobald wir versuchen, sie zum Essen einer Mahlzeit zu bewegen. Sie ist von unserem kleinen Mädchen zu einem stillen Geist geworden, an dem uns nichts mehr an unsere Tochter erinnert. Jeder Gedanke an sie versetzt mir einen Stich in die Brust.
„Wir können nichts mehr tun. Außer…die Klinik“.
„Nein“. Ich lege die Gabel geräuschvoll auf dem Holztisch ab.
„Denk doch wenigstens…“
„Nein! Sie ist mein kleiner Engel! Ich werde sie in keine Klinik stecken! Ich werde sie nicht irgendwelchen Fremden überlassen, die mir wochenlang verbieten, sie zu besuchen! Wir schaffen das gemeinsam … als Familie!“ Er zuckt die Schultern und verlässt den Esstisch, während ich atemlos auf meinen Teller starre.

 

Die Spannung am Abendbrottisch gleicht dem Geruch, der vor einem Wolkenbruch in der Luft liegt. Ich esse ein Brot mit Käse. Mein Mann schmiert sich Teewurst auf seine Scheibe.
Du siehst uns zu, den Mund angewidert verzogen.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Ich werde nicht aufgeben.
„Süße, willst du nicht etwas essen? Du hattest so einen langen Tag“. Ohne meinen Blick zu erwidern, schüttelst du den Kopf.
„Was hast du denn heute schon so gegessen?“ Jetzt hebst du den Kopf und siehst mir in die Augen, dein Blick starr und kalt.
„Viel“. Du gibst dir nicht einmal mehr Mühe beim Lügen. Weil jeder die Wahrheit kennt. Ich halte den Atem an. So viel Hilflosigkeit.
Ich greife eine Scheibe Brot aus dem Korb, bestreiche sie mit Butter und lege ein paar Stücke Schnittkäse darauf. Hektisch schneide ich die Brotscheibe in zwei Hälften und lege sie dir auf den unberührten Teller.
„Iss“. Du lachst.
„Iss etwas zu Abend“. Dein Lachen verklingt und du legst den Kopf schief. Deine Augen funkeln herausfordernd. Ich kenne dieses Mädchen nicht.
„Nein“.
„Iss!“

Ich schlage mit der flachen Hand auf den Tisch und stehe auf.

Mein Stuhl kippt nach hinten um.

„Iss dein gottverdammtes Brot! Wir sehen dir nicht länger beim Verhungern zu! Willst du dich umbringen oder was?! Denkst du, das ist schön? Ich kann dir versichern, das ist es nicht! Es ist hässlich und es macht Angst! Man kann nicht mal mehr mit dir reden, verdammt! Iss dein Brot! Jetzt!“ Ich atme schwer.
„Nein“. Du stehst seelenruhig auf und trittst direkt vor mich. Ich bin gezwungen, in dein eingefallenes Gesicht zu starren.
„Wenn du jetzt nichts isst, dann pack deine Sachen. Dann fahren wir morgen Früh in die Psychiatrie. Ich sehe mir das nicht länger an“. Mein Mann hebt erstaunt den Kopf in meine Richtung, ich beachte ihn nicht. Ich kann nicht erklären, warum ich das gerade gesagt habe. Du sollst in keine Psychiatrie. Du sollst nicht weg von mir. Aber was bleibt mir noch zu sagen, jetzt, wo ich mich seit Monaten nur noch im Kreis drehe mit meinen Worten an dich? Du bist taub geworden, hörst mich nicht mal mehr, wenn ich bitte und dich anflehe, mir entgegenzukommen.
„Iss deinen Scheiß doch selbst“, fauchst du jetzt. Ich kann das nicht mehr. Etwas in mir explodiert.
„Halt den Mund! Hör auf, so zu tun, als wäre ich das Problem! Du isst nichts mehr und daran bist du ganz alleine schuld! Niemand sonst! Du machst uns alle kaputt, nicht anders herum! Was denkst du, wie es uns geht, wenn du hier herumspazierst wie halb tot und dir einen Spaß daraus machst, uns mit deinem Hungerstreik zu provozieren?!“ Ein kurzer Schmerz auf meiner linken Wange, dann ein heißes Kribbeln.

Du hast zugeschlagen.

Mit der flachen Hand.

Deine Augen sind leer, suchend hüpfen sie über mein Gesicht, dein Mund ist zu einer Erklärung geöffnet. Doch dann schließt er sich wieder, mein kleines Mädchen verlässt den Raum und nimmt zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufgeht.
Ich setze mich auf den Boden neben meinen umgefallenen Stuhl. Ich weiß nicht, ob das, was ich spüre, Schmerz oder Taubheit ist. Die Welt ist so still und leer geworden, dass ich mich frage, ob ich darin überhaupt Platz habe.

 

In der Nacht träume ich, dass meine Tochter mir gegenübersteht, ganz nah, sodass unsere Nasenspitzen sich fast berühren. Es ist still. Wir lächeln nicht, aber ihre Augen sind tief und überschwemmt von Emotionen.
Lebendig.
Ich hebe meine Hand und, so als wäre sie mein Spiegelbild, tut sie dasselbe. Wir nähern uns an und es wird mir warm ums Herz. Sie zieht einen Mundwinkel nach oben und mir kommen die Tränen.

Wir berühren uns.

Mit der flachen Hand.

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