Von Marianne Apfelstedt

Mein Kopf kreist von einer Schulter zur anderen, dehnt die malträtierten Nackenmuskeln. Benommen reibe ich mir den Schlaf aus den Augen.

„Beeil dich, wenn du einen Blick erhaschen willst“, flüstert Kay. An den Schlafkojen vorbei schlängle ich mich in ihre Richtung. Mit der flachen Hand wische ich ein Bullauge an der Außenwand frei. Wie eine Kugel aus rohem Saphir liegt der ausgebeutete Planet vor uns. Das lebensspendende Blau, durchzogen von Schlieren. „Ich finde einen Weg zurück, einen Weg für uns alle“, flüstere ich der schwindenden Heimat zu und versperre die Erinnerung an die Zurückgelassenen im hintersten Winkel.

 

20 Jahre zuvor.

„Herzlichen Glückwunsch Mrs. Miller, hier ist ihr Ticket nach Underland. Der Scan hat ergeben, dass ihr Baby eine hohe Zahl von verschiedenen Antikörpern in sich trägt. Sie haben ja Blutgruppe A, deshalb sterben die Antikörper in ihrem Blut nach der Geburt ab“, informierte sie der Arzt.

„Das ist nicht möglich, in meiner Familie gibt es niemanden mit dem Status A.“ Der Weißkittel wiegte nachdenklich den Kopf.

„Die Evolution beschreitet eigene Wege. Es kommt immer wieder zu diesem Phänomen. Babys werden mit den Antikörpern geboren und nicht alle Eltern können sie an die nächste Generation weitergeben. Deshalb sind diese Kinder so kostbar, bis jetzt schlagen leider alle Versuche Antikörper im Labor zu entwickeln fehl.“ Er drehte sich zum Pult um und gab die ermittelten Daten in den Computer ein. Renata schlüpfte in ihren Mantel und steckte das Ticket in die Tasche. Verwirrt verließ sie den Untersuchungsraum, ohne auf die Umgebung zu achten. Was soll ich tun? Das Ticket nach Underland ist nur für mich, ich kann sie doch nicht im Stich lassen! Automatisch lief sie weiter durch die Tür und auf die Straße, ein Gedankenkarussell an Möglichkeiten für die Zukunft drehte sich in ihrem Kopf.

„Einen Moment, gesegnete Dame“, sprach sie eine fremde Stimme aus der Dunkelheit an. Renata nahm erst die unbekannten Häuserwände wahr, als aus dem Durchgang zwischen zwei Gebäuden eine Frau mit mausgrauem Flechtzopf trat, der sich schlangengleich um das Haupt wandte.

„Wo bin ich hingeraten?“, fragte sie die Grauhaarige.

„In den Distrikt der Händler. Du trägst ein Mädchen unter deinem Herzen“, sprach die Frau und trat zu mir in den fahlen Lichtschein der Straßenbeleuchtung.

„Woher wisst Ihr das?“

Die Fremde schob den grauen Haarschopf der Stirn zur Seite. Ein Mal, das Horus-Auge, kam zum Vorschein. Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine, deren Lebensglas schon zur Hälfte geleert war. Die Statur unter wallendem Umhang und Rock verborgen trat sie näher und nahm Renatas Hand in ihre. Kräftige Finger strichen über den Handteller, bis dieser flach in der ihren lag. Mit rauen Fingerkuppen fuhr die Seherin die Linien entlang.

„Deine Tochter ist der Grundstein für die Zukunft. Wird sie bleiben, ist nichts von Dauer. Wird sie gehen, bleibt Hoffnung. Pass auf sie auf!“ Die weiße Frau berührte mit den mittleren drei Fingern der linken Hand das Auge an der Stirn und segnete damit das Kind. Von ihrer Berührung brandeten Hitzewellen mit strahlendem Licht durch den Mantel, zum Ungeborenen, bis in Renatas Extremitäten. Sie legte die Handflächen schützend auf den gewölbten Bauch, der sich zum Ei ausbeulte. Als Renata aufsah, war die Seherin verschwunden. Verwirrt aktivierte sie das Navigationssystem an der Armbanduhr, für den direkten Weg nach Hause.

 

Beim Eintreten drehte sich Rod lächelnd in Renatas Richtung.

„Ich habe den kleinen Mann schon zu Bett gebracht. Hey, …“ Er sah seiner Frau ins Gesicht und zog sie in seine Arme. Ihre Tränen flossen wie ein Sturzbach. Schluchzend tröpfelten ihre Worte heraus.

„Unsere Tochter hat viele Antikörper …, sie soll unter der Erde in Underland geboren werden …, nur ein einziges Ticket …“ Neue Nachrichten flammten auf dem Screen an der Wand auf. „Lauter“, befahl Rod der KI.

 

„Im Westen wurde die Stadt Nosten von einer Flutwelle des verseuchten Wassers getroffen. Die Räte rufen zu Spenden auf. In den vereinten asiatischen Nationen mussten weitere Städte aufgegeben werden, da sie kontaminiert sind. Die Provinz India wurde weitläufig abgeriegelt, um die Verbreitung der Krankheit einzudämmen. Die Stromzuteilungen werden weiter rationiert. Nach der Fertigstellung von Underland schreitet der Bau von Underland II planmäßig voran, … “

 

„Ton aus! Es rückt unaufhaltsam näher. Bring dich in Sicherheit. Ich finde einen Weg, um dir zu folgen. In Underland II werden Techniker gesucht. Dort werde ich einen Job annehmen und für unseren Sohn sorgen“, versprach er ihr und nahm sie tröstend in die Arme.

***

„Pressen, der Muttermund ist jetzt weit genug geöffnet.“ Renata stöhnte und versuchte Kraft ins Zentrum des Schmerzes zu lenken, die letzten Reserven zusammenzukratzen. Vergeblich. Muskeln verweigerten den Dienst, verloren die Spannung. Ein scharfer Schnitt fuhr durchs Fleisch, Dunkelheit hüllte sie ein und löschte ihr Licht.

„Holt das Kind heraus. So ist es gut. Wie sind die Vitalwerte?“, fragte der Arzt, als die Schwester das Mädchen in das Wärmebett legte.

„Alles im Normalbereich. Es geht ihr gut. Sie hat ein ungewöhnliches Muttermal an der linken Schulter.“

„Aufzeichnen! Geburt der neuen Erdenbürgerin mit dem Status A 9.50 Uhr. Tod der Mutter 10.05 Uhr. Mitteilung an den Vater Rod Miller senden und ihn darüber informieren, dass wir seine Tochter in die Obhut des Kinderheims der Räte übergeben. Ein Besuchsrecht wird ihm eingeräumt. Er kann einen Namen für das Kind übermitteln.“

***

Nachricht für Rena Miller leuchtete auf dem Monitor der Kommunikationseinheit, als ich das Apartment betrat, dass ich mir mit Kay teilte. Nach Eingabe der Kennnummer in das Terminal öffnete sich die Videoübertragung. Mein Vater starrte mich mit gehetztem Blick an, tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht. Seit wann hat er so viele Falten?

„Rena, ich schließe mich der Widerstandsgruppe der flachen Hand an. Durch die Überflutungen verbreitet sich die Seuche rasant. Die Ressourcen werden knapp, es treffen keine Medikamente von den Underlands mehr ein. Strom und Nahrungsmittel sind rationiert. Menschen ohne Antikörper werden in die Städte an der Oberfläche deportiert. Die Reisefreiheit ist ausgesetzt. Ich melde mich wieder. Pass auf dich auf. Vernichte die Nachricht!“ Ich löschte die Botschaft. Wie weit kann ich Kay vertrauen? Beim Überprüfen der restlichen Meldungen trat meine Zimmergenossin herein.

„Oh Mann, hast du die News gehört?“, wollte Kay wissen.

„Vermutlich keine guten Neuigkeiten.“

„Wann gab es in Zusammenhang mit dem Rat schon mal Positives zu berichten? Sie schotten die Underlands ab. Alle Menschen ohne Status A im Pass werden nach oben abgeschoben. Meine Eltern haben mir eine Blitznachricht geschickt, sie können nicht dabei sein, wenn wir beim Festakt auf Einsätze verteilt werden.“

„Hast du etwas über die Verteilung herausbekommen?“, fragte ich nach. Wir werden sicherlich nicht getrennt, unsere Fähigkeiten ergänzen sich, wir sind ein eingespieltes Team im Lösen. Was wird aus Renzo? Kann er mit uns in Underland bleiben?

„Leider nein. Es wurden nur Andeutungen gemacht. Die Ausbilder sprechen vom großen Ereignis, aber keiner lässt Einzelheiten durchsickern, irgendeine geheime Aktion ist geplant.“ Sie verschwand im Bad und ich schlüpfte in Tageskleidung unter meine Bettdecke. Als sie aus dem Badezimmer trat, mimte ich die Schlafende. Kurz darauf verriet mir ihr Schnarchen, das sie schlief. Geräuschlos setzte ich mich auf und zog mir die Sneakers an. Lautlos verließ ich unser Apartment. Renzo wartete im Trainingsraum 08 auf mich. Nach einem leidenschaftlichen Kuss zog ich ihn auf die Bank an der Wand.

„Ich habe eine Nachricht von Vater erhalten, er taucht unter und schließt sich der flachen Hand an.“

„Hoffentlich kann er sich und deinen Bruder in Sicherheit bringen. Beim Widerstand soll es einen neuen Impfstoff geben, der vielversprechend ist. Wir haben letzte Woche geheime Proben davon bekommen, die noch nicht ausgewertet sind. Jetzt wird sich zeigen, ob das von mir entwickelte Programm die Sequenzen entschlüsseln kann. Der Rat wird weitere Maßnahmen verkünden, sobald die Rekruten morgen eingeteilt sind. Einzelheiten kenne ich nicht. Es gehen Gerüchte um. Die Weichen für unsere Zukunft werden neu gestellt und wir sind dabei“, schwärmte er. Ich verschloss ihm mit einem Kuss den Mund und meine Hände sorgten dafür, dass seine Gedanken an morgen wie Seifenblasen zerplatzten.

 

Weibliche und männliche Rekruten saßen getrennt durch den Mittelgang im festlich geschmückten Saal auf Plastikstühlen. An den Wänden hingen die Fahnen der Räte mit dem Logo der Underlands. Die Luft war durchtränkt von nervöser Erwartung. Renzo wurde dem Hochsicherheitslabor in Underland II zugeteilt, um Medikamente zu entwickeln. Nach der Ernennung schritt er durch den Mittelgang auf seinen Platz zurück und ich bewunderte den mir vertrauten Körper, der in der Uniform zum Anbeißen aussah. Ich malte mir unsere Zukunft aus, vor allem die gemeinsamen Nächte. Zur Tarnung setzte ich ein konzentriertes Zuhörergesicht auf. Es folgte eine Liste von Absolventen, endlose Buchstaben zu Namensketten verknüpft, tauchten nur am Rande ein, in die Wunschbilder der kommenden Zeit. Als ich Kays Namen hörte, widmete ich dem Redner auf dem Podium wieder die volle Aufmerksamkeit. Auf der Bühne hatten sich viele Rekruten versammelt.

„Kay McEvy, Miranda Hard, Cosh Melbourn und Rena Miller“, rief der Sprecher. Die Spannung stieg, tauchte wie eine Mauer aus dem Nebel auf, waberte über das Podium.

„Sie sind die Besten dieses Jahrgangs, deshalb werden Sie mit weiteren Rekruten aus den Underlands in zehn Tagen mit dem Sternenschiff Zeus zum Planeten Erodus aufbrechen. Dort werden Sie Lebensräume und Ressourcen in Besitz nehmen. Schaffen Sie uns ein neues zu Hause. Ein Neubeginn für den Status A der Menschheit. Der Segen des Rates wird mit Ihnen ziehen.“ Ein ohrenbetäubender Applaus brandete auf. Ich suchte Renzos Blick und versank in seinen vor Schock starrenden grünen Augen.

 

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