von Bruni Braun

Es kommt mir vor, als zöge ich nun die Hand zur Seite, die aus Scham sorgsam ein Schlüsselloch bedeckte, durch das ich selbst nur heimlich manchmal noch schaue, anderen aber den Blick verwehre. Es ist der Blick auf mein Nachkriegskinderland, die Jahre 1945 bis 1950, in absoluter Armut, Erniedrigung und Hunger.
In Bischofsheim bei Mainz, meinem Geburtsort, hatte sich meine Mutter aus Gründen der Absicherung eine 2-Zimmer-Wohnung eingerichtet, bevor sie mit mir nach Schlesien verzog. Dort übernahm sie das Haus meines Urgroßvaters und entging durch diesen Schachzug dem Kriegsgeschehen, denn in dieser Region war noch tiefster Friede.

Diese beiden Zimmer am Himmelspfad 17 waren später unser Ziel, nachdem meine Mutter und ich auf höchst gefährliche und abenteuerliche Weise vor den Russen geflohen waren. Am Samstag, dem 04. August 1945, kamen wir dort an und wurden bereits von Opa und Oma empfangen. Sie hatten sich in diese kleine Wohnung geflüchtet, nachdem ihr Haus bei einem Bombenangriff durch einen Volltreffer total zerstört worden war. Sie waren verschüttet gewesen, wurden aber unversehrt geborgen. Mein Vater war, ebenfalls unversehrt, aus dem Afrika-Feldzug zurückgekehrt und hatte sich auch in dieser kleinen Wohnung eingefunden. So waren wir zwar alle wieder vereint, aber die Armut zwang uns, den Stolz zu verbrennen, Erniedrigungen hinzunehmen und nicht mehr daran zu denken, welch hohe Position der Vater bekleidet und was man alles besessen hatte.

Schmerzhaft aus meiner kindlichen Sicht war die Tatsache, dass die meisten Häuser unseres Umfelds unversehrt geblieben waren und die Bewohner somit ihre ganzen Möbel, ihre Kleidung und Wertsachen besaßen, wir aber fast nichts. Mein Vater, der vor dem Krieg einer der führenden Herren von Opel Rüsselsheim gewesen war und später Hochschulprofessor in Dortmund wurde, war arbeitslos. Er nutzte seine Genialität, um mir aus selbst geschnitzten Holzsohlen mit Gelenk und einer alten Aktentasche, deren Leder bereits gebrochen war, ein paar Schuhe zu machen. In eine andere alte Lederaktentasche fügte er Aluminiumteile als innere Abstandhalter ein und machte sie so zu einem Tornister, damit ich überhaupt zur Einschulung gehen konnte. Diese beiden „Designermodelle“ hätten mich nicht verunsichert, wäre da nicht Irmtraud, meine Nebensitzerin, gewesen. Natürlich hatte sie vernünftige Schuhe, aber das Großartigste war ihr Tornister aus mahagonifarbenem, dickem Leder, das glänzte wie frisch gefallene und gerade aufgesprungene Kastanien, die wir immer sammelten, um Ketten und Männchen daraus zu machten. Jetzt empfand ich Scham wegen meiner Schuhe und meines Tornisters und hätte gerne Siegfrieds Tarnkappe gehabt, von der mir Opa schon erzählt hatte. Neidisch war ich nicht, ich fühlte mich sogar regelrecht erhoben, wenigstens neben einem solchen Tornister sitzen zu dürfen.
Diesen Wunsch, durch eine Tarnkappe unsichtbar sein zu können, habe oft gehegt, da unsere Armut ständig präsent war.

„Sie ist eine treue Seele“, pflegte Oma zuweilen über die Milchfrau zu sagen; nicht grundlos, denn manchmal, nachdem sie mir die lose Milch mit einem Messbecher in meine zerbeulte Aluminiumkanne geschöpft und den Deckel wieder darauf gelegt hatte, schob sie mir, als sei er bestellt gewesen, einfach einen ganzen Laib Brot unter den Arm, den ich nicht bezahlen musste. Schon damals, als achtjähriges Kind, hatte ich ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für Schönheit, Scham und Peinlichkeiten. Obwohl wir schrecklich gehungert und sogar die Kartoffelschalen selbst gegessen haben, die uns die Freundin meiner Mutter für unsere Angora-Hasen als Futter geschenkt hatte, empfand ich es als sehr erniedrigend, von anderen mitleidig beschenkt werden zu müssen, um nicht zu verhungern. Man musste alles dankbar annehmen und hatte nicht einmal die Wahl, es ablehnen zu können. Dieses unverzichtbare Brot-Geschenk hat mich immer tief beschämt und ich verließ das winzige Geschäft der Milchfrau stets mit gesenktem Kopf wie ein armer Sünder.
Darüber machten sich die Erwachsenen keine Gedanken. Kinder hatten zu parieren, hieß es und es hatte Zucht und Ordnung zu herrschen, Widerworte waren nicht vorgesehen und ein Pubertätsbonus, alles peinlich finden zu dürfen, war noch so weit entfernt wie die Mondlandung…
Oma war für die niederen Tätigkeiten, wie sie sie empfand und für die Rolle der Hausfrau mit knappem Budget und drei Kindern nicht gemacht. Sie verstand sich als Suffragette, rührte auch später noch mit einer Hand im Kochtopf, während sie mit der anderen ein interessantes Buch hielt, in dem sie las. Sie hatte Gedichte und auch Theaterstücke geschrieben, die sie zu Weihnachten mit ihren Töchtern für Opa aufführte. Sie war ein Schöngeist, der sich das Recht nahm, normale Wohnungspflege bereits als geistloses Putzteufel-Gehabe zu bezeichnen und arrogant zu belächeln. Obwohl sie ihr Leben lang jenem Niveau verhaftet blieb, dem im vornehmen, internationalen Mädchenpensionat von Niesky der Boden bereitet worden war, lieferte gerade sie ein Beispiel, wofür erst in der heutigen Zeit ein Wort gefunden wurde: „Fremdschämen“.

In unsere Straße, den „Himmelspfad“, mündet eine Straße, die mit einem Haus endet, dessen Vorderfront von einem wundervollen Steingarten mit herrlichen Blumen umrahmt war. Eine niedrige Mauer, weitergeführt nach oben durch einen kunstvoll geschmiedeten Zaun, grenzte ihn ein. Gartenzwerge, die zu dieser Zeit noch kaum bekannt und noch nicht als Kitsch verpönt waren, täuschten durch ihre Posen und ihr Arbeitsgerät eine Geschäftigkeit vor, als hätten sie diesen Garten selbst angelegt und nun in Pflege. Immer, wenn ich mit meiner Milchkanne dort vorbei kam, hielt ich inne, drückte meinen kleinen Kopf zwischen den Eisenstäben hindurch und schaute sehnsuchtsvoll auf diese verwunschene Landschaft, stets hoffend, dass sich vielleicht doch einmal einer der Zwerge bewegen würde. Außer im Winter präsentierte sich dieser Garten zu jeder Jahreszeit mit Blumen. Am Schönsten waren die Tulpen im Frühling. Das fand Oma wohl auch!

Sie gab mir eine Mark, sagte, ich solle zu Familie Weinsheimer, den Besitzern des herrlichen Steingartens, gehen, einen Knicks machen und sagen: „Eine schöne Empfehlung von meiner Oma, und sie möchte gerne ein paar Tulpen für diese Mark.“

Was hatte sich Oma nur dabei gedacht? Glaubte sie, ihre „schöne Empfehlung“ erlaube es, Weinsheimers dadurch bewegen zu dürfen, den mit Liebe gestalteten Steingarten auszudünnen? Sie hätte mich zu Tante Anna schicken können, die eine Gärtnerei hatte und nicht weit von uns wohnte. Sie war zwar nicht meine richtige Tante, wurde nur so genannt, hätte mir jedoch in jedem Fall Tulpen gegeben! Aber nein, es mussten die liebevoll angepflanzten Blumen aus dem Wichtelgarten sein. Ich habe mich in Grund und Boden für dieses dreiste Ansinnen meiner Oma geschämt, bin aber doch hingegangen, habe geknickst, mein Sprüchlein aufgesagt und mit puterrotem Kopf die gewünschten Tulpen in Empfang genommen.
In meinem Innern jedoch hatte Oma an diesem Tag für mich ein Stück ihrer Vollkommenheit und meiner Achtung verspielt.

Jetzt, wo ich von dieser großen Peinlichkeit berichte, stelle ich fest, dass ich es nun aushalten kann. Es ist endlich Platz geworden, gedanklich noch etwas tiefer gehen zu könne: Ich weiß nun ganz sicher, dass Frau Weinsheimer meine Mark gar nicht angenommen hat, was meine Beschämung nur noch vergrößerte. Dennoch stieg für einen Moment der Gedanke in mir hoch, diese Mark zu „Dubbesgeld“ zu machen. So sagt man bei uns in Hessen zu betrügerisch beiseite geschafftem Geld. Natürlich habe ich der Versuchung widerstanden, die Mark abgeliefert, aber im Stillen gehofft, es wüchse, wie man heute so sagt, eine kleine Belohnung herüber… Leider nein!

Wie wenig man darauf achtete, dass Kinder auch ein Scham- und Peinlichkeitsgefühl bis hin zum Trauma entwickeln, verdeutlicht schließlich die Episode meines plötzlich veränderten Erscheinungsbildes, die mich lehrte, wie abhängig Menschen doch von Äußerlichkeiten sein können, obwohl man sich innerlich doch gar nicht verändert hat:
Zurückgekehrt vom Spielen in „Brasilien“, wie man eine Barackensiedlung unweit unserer Straße in Anlehnung an die Favelas spöttisch nannte, saß ich auf einem Holzhocker in der Küche. Meine Mutter wollte mich kämmen. Sie zog mir gerade den Mittelscheitel, als sie plötzlich inne hielt und einen lauten Schrei des Entsetzens ausstieß. In meinem weiß-blonden Haar tummelten sich Läuse, wie ich später erfuhr. Natürlich war das ein Schock, jedoch in jenen Tagen nichts Ungewöhnliches, dem man mit einem bestimmten Puder und dem vorübergehenden Abdecken des Haares erfolgreich zu begegnen pflegte.

Nicht so meine Mutter!

„Du kommst jetzt sofort mit“, rief sie hysterisch. Ich sprang auf. Mit der einen Hand packte sie den Hocker, auf dem ich gerade noch gesessen hatte, im Eingriffsschlitz der Sitzfläche, mit der anderen Hand ergriff sie den heißen Kohlenkasten und stürmte hinaus in den Hof. Dort setzte sie beides ab, befahl mir, mich auf den Hocker zu setzen und abzuwarten, sie käme gleich wieder. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt wieder geschehen war und saß da völlig verängstigt. Kurz darauf erschien meine Mutter mit einer Schere und einem uralten Rasierapparat in der Hand, der mit seinen eckigen, weit auseinander stehenden Griffen eher wie eine Zange aussah und nichts Gutes vermuten ließ.

Sie fackelte nicht lange.

Während sie mit ekelerfüllter Stimme immer wieder rief: „ Da ist ja alles voller Läuse!“, schnitt sie mir mein häufig bewundertes Blondhaar ab und rasierte mich kahl. Läuse waren, wie schon gesagt, damals keine Seltenheit, niemand jedoch hat deshalb seinem Kind den Kopf kahl geschoren, wirklich niemand hat so heftig reagiert wie meine Mutter. Mit diesem Akt der Reinlichkeit hat sie nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes meinen Kopf und damit auch mich bloßgestellt, sondern hat auch meiner Kinderseele Verletzungen beigebracht und zugemutet und mich zu einer Geächteten gemacht, mit der niemand spielen wollte noch durfte. Darüber hat sie sich weder einen Kopf gemacht noch auch nur einmal versucht, mich darüber hinwegzutrösten.

Traurig und einsam saß ich von da an draußen auf der Bordsteinkante unseres unbefestigten Bürgersteiges, die nackten Füße auf der Fahrbahn, was in jenen Tagen noch nicht gefährlich war und langweilte mich. Ich verstand nicht, dass mein verändertes Aussehen, das zumal von meiner Mutter so entschieden und damit kritiklos hinzunehmen war, von anderen nicht akzeptiert wurde und mich derart ins Abseits stellte.
Ich habe mich so einsam und ungeliebt gefühlt, dass ich die Idee entwickelte, wohl adoptiert worden zu sein, denn wenn ich das eigene Kind wäre, würde man sicherlich nicht so barsch mit mir umgehen…
Ich höre noch heute das Zischen der im heißen Kohlenkasten verbrennenden Haare samt Läusen. Später, als mein Haar wieder gewachsen war, machte mir Frau Messmer, eine Freundin meiner Großeltern, einmal das fantastische Angebot, mein Haar in Locken legen zu wollen. Sie war wohl die Einzige, die es mitgekriegt hatte, wie sehr ich unter dem Gejohle der Nachbarskinder gelitten hatte, als sie nach meiner Glatzen-Rasur hinter mir hergelaufen waren und „Stiftekopp, Stiftekopp“ nachgerufen hatten.

Selbst Opa, mein Held, der sich als Einziger immer schützend vor mich gestellt hat, hatte dieses Mal versagt und damit nicht genug. Später, so erzählte es mir meine Mutter, habe er einmal zugegeben, wie peinlich es ihn immer berührt habe, wenn er von der Arbeit gekommen sei und ich ihm mit meiner Glatze auf der Straße entgegen gestürmt sei und laut: „Opa! Opa!“gerufen hätte. Alle hätten geguckt.

Meine Mutter aber rechtfertigte sich in diesem Gespräch mit der Feststellung, im Gegensatz zu meinen Geschwistern hätte ich nur deshalb so schönes Haar, weil nach einer Kahlrasur das Haar dicker nachwüchse. Diese Behauptung hatte Nachwirkungen: Mit 12 Jahren begann ich eitel zu werden, schnitt mir alle Wimpern ab und hoffte auf lange Klimper-Wimpern. Drei Monate lief ich herum mit Augen so kahl wie die eines Frosches. Dieser Kahlschlag jedoch hat mich nicht gequält, denn schließlich würden in Kürze wunderbare, lange Wimpern erscheinen und meine Augen einrahmen. Natürlich blieb der Erfolg aus, was erneut Nachwirkungen zeitigte. Von da an machte ich etwas noch nie Dagewesenes und Unerhörtes: Ich gab durch Wort oder Mimik zu erkennen, dass ich Ansagen meiner Mutter tatsächlich in Frage stellte, was unserem Verhältnis sehr, sehr abträglich war…

Bruni Braun