Von Karl-Heinz Nebel
Sascha schreckte aus dem Schlaf hoch, hatte er verschlafen? Er sah zum Wecker, ließ sich zurückfallen, drehte dem Fenster, durch das die Straßenbeleuchtung zu hell schien, den Rücken zu und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Gerade einmal zwanzig Minuten lag er im Bett.
Seine Gedanken begannen um Cora zu kreisen. Sie betrieb einen Kiosk, an dem er täglich vorbeifuhr, ihn jedoch bislang nie beachtet hatte. Eines Tages hatte sie Zeitschriften in der Auslage geordnet. Nur einen kurzen Augenblick hatten sich ihre Blicke getroffen, lang genug, um sich ein Lächeln zu schenken, und er daraufhin bei ihr angehalten hatte. Seitdem gehörte der Stopp an ihrem Kiosk zu seinem morgendlichen Ritual.
Augenblicklich überkam ihn ein wohlig warmes Gefühl. Cora besaß die für ihn zauberhaftesten Augen, in denen sich ein winziger Silberblick zeigte, wenn sie in Gedanken verloren vor sich hinsah. Pechschwarze Haare umschmeichelten ihr ovales Gesicht, ihr Lächeln hatte ihn bei ihrem ersten Blickkontakt elektrisiert. Drei Tage hintereinander hatte er das gleiche Automagazin bei ihr gekauft, in keines hatte er einen Blick geworfen. Er hätte doch immer nur ihr Gesicht gesehen.
Seit dem waren drei Wochen vergangen, sie nannten sich vertraut beim Vornamen, dennoch hatte er noch nicht herausgefunden, ob es vielleicht nur ihre Freundlichkeit war, die sie allen ihren Kunden entgegenbrachte.
Um das herauszufinden, war er heute Morgen zeitiger losgefahren, um sich bei ihr etwas mehr Zeit nehmen zu können. Nur, wie sollte er es anfangen? Sie freiheraus fragen?
Cora hatte ihn verwundert angesehen: »Nanu, du bist schon so früh unterwegs. Die neue Auto-Bild ist da.«
Sascha hatte sich vergewissert, dass niemand sie belauschte, dann raunte er ihr zu: »Ich suche eine Zeitung, in der steht, ob es jemand an deiner Seite gibt.«
»Eine … bitte, was …?«, hatte sie erstaunt geflüstert.
Sascha hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen. »Würdest du mit mir ausgehen? Einen schönen Abend verbringen? Mit mir Essen gehen? Ins Kino? In die Disko?«
Sie hatte ihm ihren ausgestreckten Zeigefinger auf die Brust gelegt und ihn sanft von sich weggeschoben und dabei gelacht. »Wenn du morgen Früh hier vorbeikommst, achte auf ein Licht an meinem Fenster. Ich werde eine Laterne raushängen. Eine Rote heißt ja, eine Blaue heißt nein, eine Weiße heißt weiß nicht.«
»Ich nehm dich beim Wort«, hatte er ebenfalls lachend gesagt, ihr das Geld für die Auto-Bild gegeben, und war zur Arbeit gefahren.
Sascha schlug die Bettdecke zurück und stand auf. An Schlaf war im Moment anscheinend nicht zu denken. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Morgen würde er zu einer Konferenz nach München fahren. Der Wetterbericht hatte eine Warnung wegen Eisnebels und Glätte für den gesamten Süden Deutschlands herausgegeben. Es war tatsächlich nebelig, das Thermometer außen am Fensterrahmen zeigte fünf Grad unter null.
Sascha wandte sich ab vom Fenster. »Ich darf kein Risiko eingehen«, sagte er entschlossen, ging in sein Arbeitszimmer, klappte den Laptop auf und startete den Browser. Es musste einen günstigen Zug geben, mit dem er entspannt nach München fahren konnte, und fand ihn auch sofort. Als er den Mauszeiger über den blauen Button ›Bestätigen und zahlen‹ geschoben hatte und die Transaktion abschließen wollte, hielt er inne. Zuerst musste Cora wissen, dass sie sich nicht sehen würden. Reflexartig fasste er dorthin, wo er sein Handy in der Hosentasche fühlen konnte.
»Klasse«, lachte er über sich selbst, schließlich saß er im Schlafanzug am Rechner. Als er aufstand, um zum Sessel zu gehen und das Handy aus seiner Hose zu holen, hatte er Mühe zu gehen. Die Müdigkeit zwang ihn auf einmal, sich wieder zu setzen, und so rollte er mit seinem Bürostuhl hinüber.
Er klappte die Hülle des Handys auf und tippte auf das Display. Es blieb schwarz. Nach einem langen Druck auf die Starttaste erklang ein Warnton und auf dem Display erschien ein rot blinkendes Akkusymbol – leer.
Mit einem leisen Klick rastete der Stecker des Ladekabels ein. Fünf Minuten sollten reichen, um Cora eine WhatsApp schicken zu können.
Er sah auf die Uhr, dann legte er die Hände in den Schoß und nach weniger als fünf Sekunden war er eingeschlafen.
Er saß allein in einem Abteil. Der Zug stand noch am Bahnsteig. Draußen war es so nebelig, dass er nur eine weißgraue Fläche sah.
»Entschuldigung, ist hier noch frei?« Er drehte erschrocken den Kopf in die Richtung, aus der die Frage kam. Vor ihm stand eine junge Frau in etwa seinem Alter. Sie hatte wallendes blondes Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Sie fixierte ihn aus himmelblauen Augen. »Moment mal«, sagte sie und drehte den Kopf ein kleines Stück zur Seite, während ihre Augen weiter auf ihn gerichtet waren, »kann es sein, dass wir uns kennen?«
»Das ist eine plumpe Anmache«, wollte er entgegnen, aber er brachte den Mund nicht auf.
»Sascha? Ich werd verrückt, du bist es ja wirklich.« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Wir haben uns ja Äonen nicht gesehen. Warum hast du dich nie gemeldet?« In der letzten Frage schwang ein Vorwurf.
Sascha öffnete die Lippen, er brachte aber nur ein kaum hörbares »Cora« hervor.
»Was sagst du?«, fragte die Frau nach.
Warum konnte er sich nicht an ihren Namen erinnern, wenn sie sich so gut kennen sollten? Ihr Blick bekam einen kaum wahrnehmbaren Silberblick. Er suchte in ihrem Gesicht nach etwas Bekanntem. Wieso hatte sie genau den süßen Blick wie das Mädchen aus dem Kiosk? Das konnte doch keinesfalls Cora sein.
»Du hast eine Freundin?«, fragte sie weiter.
Er nickte.
Die Frau schüttelte langsam den Kopf. »Was hast du dir dabei gedacht? Wir hätten das Traumpaar werden können. Bist du etwa wieder auf eine so blöde romantische Spinnerei reingefallen? Will sie dir eine rote Laterne ans Fenster hängen, um dir zu sagen, dass du Chancen hast?
Schweiß trat ihm auf die Stirn. Das war ihm unheimlich. Er wollte sie anschreien: »Wer bist du?«, aber er machte den Mund auf und bekam noch immer keinen Laut heraus.
Der Zug fuhr mit einem kräftigen Ruck an, sein Kopf wurde nach hinten gedrückt.
Er öffnete die Augen, die Frau war verschwunden, stattdessen sah er den Monitor seines Laptops. Der Mauszeiger ruhte noch immer auf dem blauen Button. Bestätigen und zahlen.
Das Ticket, durchfuhr es ihn. Er war eingeschlafen und fühlte sich nun wie gerädert.
»Mist«, sagte er, als er die Transaktion abschließen wollte, stattdessen die Meldung aufklappte, dass die Seite nicht mehr aktiv sei.
Sascha stand auf, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Sein Blick fiel auf die Uhr über der Tür. Das Wasser hatte ihn nicht wirklich munter gemacht, aber er brauchte dieses Ticket. Und er musste Cora erreichen.
Also ging er zurück zum Rechner. Sein Kopf folgte der Schwerkraft und er hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Mit wenigen Klicks hatte er erneut den Zug gefunden, sein Ticket gewählt und nun klickte er auf den blauen Button und druckte sein Ticket aus. Dann schaltete er sein Handy an, startete WhatsApp und suchte Coras Eintrag. Er tippte:
Cora, Schatz, ich fahre mit dem Zug nach München, warte nicht auf mich und hänge keine rote Laterne ans Fenster.
Bevor er auf den Pfeil zum Senden drückte, ergänzte er seine Message noch mit zwei Ausrufezeichen und schickte sie ab. Erleichtert legte er das Handy weg und ging wieder in sein Bett.
Das Abteil, in das er sich setzte, war leer, der Zug mollig warm. Sascha war todmüde trotz Kaffee. In diesem Augenblick war er froh, nicht mit dem Auto fahren zu müssen. Er kuschelte sich in die Ecke und schloss die Augen. Wenig später fuhr der Zug an und ruckelte ihn sanft in einen wohligen Schlaf.
Als er wach wurde, war es draußen hell, aber die Sonne schaffte es nicht bis auf die Erde. Größtenteils zogen dichte Nebelschwaden vorüber. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und checkte, ob Cora sich gemeldet hätte. Tatsächlich hatte er eine neue Nachricht.
Lieber Sascha, gut, dass du nicht hier entlang musstest – nicht, dass ich es mir nicht gewünscht hätte – aber hier ist es schweineglatt. Stell dir vor, wenn ich bei dem Nebel die Laterne raus gehangen hätte. Ein Laster ist weiter vorne an der Kreuzung auf eisglatter Straße ins Rutschen gekommen und gegen die Ampel gekracht. Wenn der gedacht hätte, mein rotes Licht am Fenster wäre eine Ampel … Der Krankenwagen ist mit Blaulicht wieder weggefahren. Schlimm. Aber ich hätte die rote Laterne rausgehängt. Das heißt jaaaaaaaaa!
Ich hab dich lieb!
Cora
Der Zug war inzwischen in einen Bahnhof eingefahren und stand. Sascha steckte das Handy mit einem Lächeln auf den Lippen wieder weg und sah versonnen aus dem Fenster.
»Entschuldigung? Ist hier noch frei?«
Erschrocken drehte er den Kopf in die Richtung, aus der die Frage kam. Vor ihm stand eine junge Frau. Verstört sah er sie an. Sie hatte schwarzes Haar und trug einen modischen kurzen Haarschnitt. Er nickte nur und sie setzte sich ihm gegenüber. Erleichtert registrierte er, dass sie nicht blond war – komischerweise konnte er sich an jede Einzelheit seines Traums erinnern, dem er zwar keine Bedeutung beimaß, dennoch schwebte er gefährlich wie ein Damoklesschwert über dem zarten Keim seiner Beziehung zu Cora.
»Moment mal …«, sagte sie, was ihm einen Stich versetzte und er wusste nicht, ob er gleich schreien würde. Er hielt den Atem an und schloss die Augen. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Sie sah zwar nicht aus, wie die Frau in seinem Traum, aber die Situationen glichen sich beängstigend. Doch dann hörte er, wie sie sagte »… ah, Gott sei Dank, hier ist es.« Sascha öffnete die Augen und atmete, so leise es ging, aus. Sie hielt ihr Handy hoch und lächelte erleichtert. Eine Weile sahen sie sich an, dann drehte sie den Kopf leicht zur Seite, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und sagte: »Kann es sein, dass wir uns kennen? …«