Von Andreas Schröter

Das Wetter in Wetter: 7 Grad, wolkenlos. Meine App hat gemerkt, dass wir nicht mehr in Dortmund sind. Wie kann man einen Ort bloß „Wetter“ nennen? Na ja, „Darmstadt“ ist schlimmer. Ich bin in der Stiftung Volmarstein, einem orthopädischen Krankenhaus, und mir wird morgen eine übergroße Bakerzyste aus der linken Kniekehle entfernt. Googlen Sie das, falls es Sie interessiert, was ich mir aber nicht vorstellen kann. Heute muss ich einen ganzen Parcours an Voruntersuchungen über mich ergehen lassen: EKG, Blutabnahme, Speichelprobe, Blutdruck messen, Röntgen, Fragebogen ausfüllen, Gespräch mit dem Narkosearzt … Vor mir läuft ein Pfleger über den Gang und fragt eine Greisin, die in einem Bett auf was auch immer wartet: „Na, wie geht’s denn?“ Ich antworte für sie: „Scheiße.“ Die Greisin versucht ein Lächeln und streckt ihre Zunge dabei heraus, was merkwürdig aussieht. Aber immerhin: Vermutlich kann ich sogar mit einer übergroßen Bakerzyste noch bei bettlägrigen Greisinnen landen.

***

Nach vier Stunden Parcours darf ich aufs Zimmer. Superspannender Augenblick. Hoffentlich keine Prolls. Hatte ich auch mal. Da hat mir ein von oben bis unten tätowierter älterer Herr erstmal erklärt, dass „die“ allesamt – er meinte das Krankenhaus-Personal – keine Ahnung hätten. Die würden behaupten, er hätte Keime, hätte er aber gar nicht. Wenn sie es so gemacht hätten, wie er von Anfang an gesagt hätte, wäre es viel besser gelaufen. Außerdem würden sie immer gerade dann ins Bad kommen, wenn er „auf dem Thron“ sitze.

Aha – aber wollte ich das so genau wissen? Eigentlich nicht. Und warum schließt er das Bad nicht einfach ab? Andererseits: Wer auf dem Thron sitzen kann, ist fein raus. Es gibt auch die Bettpfanne.

Ich treffe in meinem neuen Zimmer Günther, einen 77-jähriger Opa, der sich nicht rühren kann. Er kriegt eine neue Hüfte. Im Moment habe er gar keine Hüfte, sagt er. Hä?, frage ich mich. Ist etwa da, wo bei mir Hüftknochen sind, bei ihm nur noch weiches Fleisch? Igitt. Er habe eine Art Provisorium, klärt er mich auf, das morgen mit den endgültigen Ersatzteilen getauscht werde. Ich fass es nicht. Chirurgen sind Metzger. Aber Günther ist kein Proll. Vorsichtiges Aufatmen. Wir kriegen noch einen dritten Patienten aufs Zimmer: Mehmet, einen 55-jährigen Türken, der seit 36 Jahren in Deutschland lebt, aber trotzdem Deutsch nur mit schwerem Akzent beherrscht. Er kriegt gutartige Tumore aus dem Knie entfernt und scheint in Ordnung zu sein.

***

Unser Zimmer ist definitiv zu klein für drei Leute. Betten und Beistellschränkchen stehen dicht an dicht. Günthers Urinflasche kann ich mit der Hand erreichen, ohne aufstehen zu müssen. Er benutzt sie relativ geschickt, ohne dabei sein Bett einzunässen, wie viele andere, die darin nicht geübt sind. Brauche ich nach der OP etwa auch eine? Ich ärgere mich, dass ich nur gesetzlich krankenversichert bin, und überlege eine Zusatzversicherung abzuschließen.

In der Nacht stürmen allerlei Geräusche auf mich ein. Günthers entsetzliches Schnarchen und die lauten Darmwinde von beiden. Ich setze meine Kopfhörer auf, presse sie noch zusätzlich auf die Ohren und versuche in dieser verkrampften Haltung zu schlafen. Vergeblich. Meine Frau muss mir morgen Ohropax mitbringen. Außerdem werde ich eine Schlaftablette verlangen.

***

Heute ist OP-Tag, und Mehmet und ich helfen uns gegenseitig, unser sexy, hinten offenes OP-Hemdchen anzuziehen. Aus unerfindlichen Gründen müssen wir außerdem einen komplett durchsichtigen Slip tragen. Ich frage eine Schwester, die mich in meinem Bett liegend in den OP-Saal fahren möchte, ob ich nicht auch laufen dürfe. „Wenn Sie exhibitionistisch veranlagt sind“, antwortet sie. Ach so, nee. Na gut, dann doch im Bett. Wenig später liege ich – angeschlossen an alle möglichen Apparaturen – in einer Art OP-Vorraum auf einer Pritsche und starre an die Decke, wo es außer tristen Neonröhren nichts zu sehen gibt. Aus dem eigentlichen OP-Bereich ertönen Lachen und laute Musik. Scheint Spaß zu machen, Leute aufzuschneiden. Als es losgeht, mache ich meinen üblichen OP-Witz: „Bitte noch nicht anfangen, ich bin noch wach“. Danach bin ich es nicht mehr.

***

Wir drei haben unsere OPs wunderbarerweise überlebt. Und wir haben etwas schickes Neues: einen „Redon“. (Wikipedia für Redon: Die Redon-Drainage ist eine äußere Saugdrainage, die in der Regel nach größeren operativen Eingriffen vorübergehend im Operationsgebiet belassen wird. Es besteht aus einem wandstarken Drainageschlauch, der am Ende mehrfach perforiert ist, und einem unter Unterdruck stehenden Behälter. Durch den  Sog  werden  Wundflächen zusammengezogen, wodurch ein schnelleres Verkleben und Zusammenwachsen möglich ist, und das Wundsekret (Blut und seröse Flüssigkeit) dabei nach außen abgeleitet wird.) Alles klar? Also, wir haben jeder ein Blutfläschchen, das wir nun immer dabeihaben und in das wir alle paar Minuten ängstlich starren. Ist wieder was nachgelaufen? Einerseits ist es ja gut, wenn das Blut ins Fläschchen statt ins Knie läuft, andererseits wäre es noch besser, wenn der Blutstrom schon versiegt wäre. Es gibt auch Patienten, die ihr Redon schlicht vergessen. Es bleibt dann irgendwo hängen, und der Schlauch ist aus der Wunde. Soll schmerzhaft sein. Ich passe auf und zeige das gut gefüllte Fläschchen stolz jedem Besucher.

***

Günther hat keinen Stuhlgang und lässt es uns mehrfach wissen. Ein Pfleger sagt: „Na gut, dann mixe ich Ihnen mal einen schönen Cocktail. Wenig später geht’s dann los.“ Es dauert dann aber noch ein paar Stunden, bis es wirklich losgeht. Und weil Günther noch nicht aufstehen darf, kommt die Bettpfanne zum Einsatz. Ich biete an, auf den Flur zu gehen, damit Günther mehr Ruhe hat. In Wirklichkeit kämpfe ich mich mit Krücken nur deshalb auf den Flur, damit ich das Desaster nicht hautnah aus weniger als zwei Metern mitkriegen muss. Als ich nach einer halben Stunde das Zimmer wieder betrete, meint Günther: „War blinder Alarm. Nur Luft.“ Wenig später ist es dann kein blinder Alarm mehr, und ich bin an diesem Abend noch mehrmals auf dem Flur. Ich beschließe, mir keinesfalls einen solchen Cocktail mixen zu lassen, obwohl es auch mit meiner Verdauung nicht zum Besten bestellt ist.

***

Wir haben hier ohne Ende Zeit und wissen nicht, wie wir sie totschlagen sollen. Höhepunkte sind das Mittagessen um 12:15 und das Abendessen um 17:15 Uhr. Ab 11.45 Uhr lauschen wir angestrengt, ob wir auf dem Flur schon den Essenswagen hören. Aber was machen wir in der übrigen Zeit? Auf mein Buch kann ich mich wegen der vielen Geräusche nicht recht konzentrieren, fernsehgucken kann man auch nicht den ganzen Tag. Eines meiner wichtigsten Ziele, das ich mehrmals am Tag mit Wonne ansteuere, ist daher die Bonbonschüssel, die auf dem Flur etwa 30 Meter von meinem Zimmer entfernt steht und an der man sich gratis bedienen darf. Ich nehme immer die gelben Bonbons mit Zitronengeschmack. Natürlich trifft man bei der Gelegenheit auch die Patienten aus den anderen Zimmern: einen älteren Italiener, der Gerd Müller mit Rudi Völler verwechselt, einen Asiaten, der nur schüchtern lächelt, und einen gebürtigen Kasachen, der ebenfalls als Pfleger arbeitet, wenn er nicht gerade selbst im Krankenhaus liegt. Er habe mal einen dementen Patienten betreut, der habe seinen Schniedel wie einen Gartenschlauch benutzt und damit das gesamte Zimmer inklusive der drei anderen Patienten vollgepisst. Und es habe mal einen Aushilfspfleger gegeben, der nicht wusste, wie man die Bettpfanne benutzt. Irgendwann hätten seine Kollegen den Patienten dann auf dem Boden sitzend auf der Pfanne vorgefunden, während er sich verzweifelt an den Stäben seines Bettes festklammerte.

Auweia! Es hätte alles auch noch schlimmer kommen können. Aber wir sind eine bunte Multi-Kulti-Truppe hier. Viele Ärzte, Schwestern und Physiotherapeuten kommen nicht aus Deutschland. Das gefällt mir. Toll, wie hier die Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen vollkommen friedlich zusammenleben und -arbeiten. Der türkische Pfleger, der mir den Redon entfernt, sagt: „So, jetzt halten Sie die Luft an und zählen laut bis fünf.“ Ich habe echt Angst vor dem Schmerz, mache aber, was er sagt. Als ich mich wieder traue hinzuschauen, hat er den losen Schlauch in der Hand und grinst. Er hatte ihn schon gezogen, bevor ich mit dem Zählen begonnen hatte. Ein Gag, den er bei Mehmet mit Erfolg wiederholt.

***

Der schönste Moment während meiner Woche in Wetter ist der 3:2-Sieg des BVB gegen die Bayern. Ich lasse die Krücken, wo sie sind, und wanke ohne sie zu Günther und Mehmet, um sie beide einmal abzuklatschen. Party im Krankenhaus! Wir sind die besten Kumpels.

***

So, ich muss noch eine Chefarztvisite überstehen, dann werde ich entlassen. Die Ärzte sind skeptisch, weil meine Wunde immer noch nässt. Oh, nein, bitte nicht! Nicht noch eine Nacht im Krankenhaus! Mehmet haben sie schon ihr Okay für die Entlassung gegeben, aber schließlich dachte ich doch, dass ich mit Abstand derjenige auf unserem Zimmer bin, der die harmloseste OP hatte. Ich lasse einen Versuchsballon los und sage, ich könne die Weiterbehandlung der Wunde auch von meinem Orthopäden zu Hause machen lassen. Sie sind einverstanden. Der Abschied von Günther naht, der noch eine Woche länger bleiben muss. Als ich seine Hand drücke und sage, er sei ein guter Zimmergenosse gewesen, merke ich, wie mir plötzlich die Stimme bricht. Was zur Hölle ist denn jetzt wieder mit mir los?

***

Eine Stunde später habe ich meine Papiere, und ich warte auf meine Tochter, die mich abholt. Ich merke, dass mein linkes Hosenbein komplett nass ist. Die Wunde nässt offenbar nicht nur ein bisschen. Ich lege meine Jacke drüber und hoffe, dass niemand etwas merkt. Am Ende würden sie doch noch darauf bestehen, mich länger dazubehalten. Als meine Tochter kommt, trete ich aus dem Krankenhausfoyer auf den sonnenüberfluteten Vorhof. Und ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.