Von Marco Plate

„Wieso meldet er sich nicht?“, fragte Klara ihre beste Freundin, Josephine, die im selben Appartmenthaus wohnte und regelmäßig auf ein Gläschen Wein vorbeischaute. Zumindest immer dann, wenn Klaras Freund Leo wieder einmal alleine mit seinen Jungs unterwegs war. Die beiden Frauen kannten sich nun schon einige Jahre, seit Josephine damals als Nachbarin eingezogen war. Es dauerte eine Zeit, bis sie das erste Mal nach einer langen Party-Nacht zusammen im Bett landeten. Beide waren zunächst überrascht von der Stärke ihrer gegenseitigen Zuneigung, denn eigentlich haben sie beide immer das klischeehafte Bild vor Augen gehabt. Die Vorstellung, sich irgendwann in einer stereotypen Ehe wiederzufinden.

„Das fragst du mich fast jede Woche“, erwiderte Josephine. „Mal dir nicht immer gleich das Schlimmste aus. Du weißt doch wie er ist, dein Leo.“

Klara musste schmunzeln. „Du hast leicht reden. Wir sind jetzt schon drei Jahre ein Paar und irgendwie geht’s nicht weiter.“

Josephine ihrerseits würde ihr Bett einfach nur gern einmal länger mit jemandem teilen als nur für eine Nacht, denn keine ihrer wechselnden Kurzbekanntschaften schaffte es, ihr Herz zu erobern. Zu oft schon war es gebrochen worden, sodass Josephine diejenige war, die Nähe nicht mehr zulassen konnte. 

„Er kommt immer wieder zurück zu dir. Dir gehört sein Herz. Wer weiß, was ihn umtreibt. Hab Vertrauen. Lass ihm Zeit.“

 

Klara erinnerte sich noch genau an diese Gespräche von vor gut einem Jahr, genauso wie an den Moment, als sie vor drei Monaten voller Emotionen Leo einen Brief schrieb, indem sie ihm vorwarf ihr seine Liebe nicht zu zeigen. Vor allem aber, dass er öffentlich nicht voll und ganz zu ihrer Beziehung stand und zwischen ihren Zeilen klarmachte, dass sie sich von ihm ein Zeichen der bindenden Zukunft wünschte.

Bereits einen Tag darauf hatte sie Leos Antwort erhalten, bestehend aus einem, bereits ewig in der Schreibtischschublade liegenden Verlobungsring, zusammen mit der kurzen Notiz „I’m sorry!“.

Es war zu der Zeit keineswegs für alle Außenstehenden verständlich gewesen, dass sie diesen kurzen und bündigen Verlobungsantrag ohne Überlegung und weitere Aussprache mit Leo auch sofort angenommen hatte. Denn Klaras Brief zeigte sehr viele Beziehungsprobleme auf, die es eigentlich zunächst aus dem Weg zu räumen bedurfte. Doch niemand außer Leo wusste wirklich, dass er ihr schon seit langem treu war, aber seit seiner Jugend unter Bindungsängsten litt. Wenn er dann gelegentlich in sich zurückzog oder Klara ihren Freiraum ließ, dann nur deshalb, um Klara nicht einzuengen. Manchmal blieb er sogar unangekündigt, aber ohne Hintergedanken fort und übernachtete bei Freunden.

Sie dagegen hatte eher Verlustängste und sah ständig Vertrauensprobleme mit Leo. Deshalb flüchtete sie sich immer wieder in die Arme Josephines, die, wenn sie sich endgültig füreinander entscheiden würden, keine Probleme hätte, öffentlich zu ihrer Beziehung zu stehen. Denn insgeheim wartet sie seit langer Zeit nur auf Klara.

 

Nachdem Leo damals den Brief gelesen hatte, war er zu überrascht, seine Freude über die Situation hinreichend auszudrücken. Laut Klaras Worten brauchte er sich zwar für nichts zu entschuldigen, doch er hatte es mit seinem „I’m sorry“ im Prinzip trotzdem getan, da er die vielen schriftlich festgehaltenen Anschuldigungen von Klara natürlich nicht übersehen hatte. Allerdings war Leo überzeugt, dass sie mit dem Brief auch extra weit ausgeholt hatte.

Ein plötzlicher Gefühlsausbruch, hatte sie zu dem Schreiben veranlasst. Spontan wirkte der Brief aber nicht. Dafür war der Text zu gut formuliert, zu perfekt geschrieben. Eine literarisch begabte Person war Klara schon immer gewesen und es war nicht so, dass Leo ihr schwulstige Formulierungen nicht zutrauen würde. Jedoch wollte sie ihr Talent in dem Brief auch unbedingt zeigen.

Klara war wiederum emotional überwältigt gewesen, als sie letztlich Leos Ring fand. Im Nachhinein empfand sie seine Reaktion jedoch als zu spröde.

Aufgrund ihres langen Briefes war Klara der Meinung, alles gesagt zu haben, was zu sagen war, aber Leo war sowieso kein Typ der großen Worte und ging komplizierten Unterhaltungen systematisch aus dem Weg.

Er war ursprünglich in den USA aufgewachsen, beherrschte jedoch perfekt Deutsch, sonst hätte er Klaras Brief auch nicht wirklich verstehen können und sprachlich so bewundert. Doch trotzdem waren zwischen ihnen typische englische Wörter gang und gäbe. Deshalb auch dieses lapidare „I’m sorry“.

 

Allerdings sprachen sie auch weiterhin nicht über ihre gravierenden Beziehungsprobleme.

Beide dachten, mit dem vorausgreifenden Heiratsversprechen würde nun alles gut werden.

Doch das Gegenteil war der Fall. Obwohl beide erleichtert gewesen sein müssten, dass der jeweils andere sich eben doch binden wollte und sie nun all die verlorene Harmonie auch ohne große Worte aufholen könnten, entfernten sie sich immer weiter voneinander.

Leo war unter seinem amerikanischen Einfluss in einer größeren Familie aufgewachsen und wünschte sich deshalb gerne eigene Kinder. Diesbezüglich war Klara jedoch sehr zurückhaltend.

Sie hatte ihre Arbeit, ihre Freunde, ihre Hobbys, die sie voll ausfüllten. Sie sprach auch nie davon, Kinder haben zu wollen und besonders kinderlieb zeigte sie sich selten.

Eigentlich war sie diejenige, die zu wenig zu Hause war, um mehr Zeit mit Leo zu verbringen. Oft kam sie auch unangekündigt später heim. Doch Leo kommentierte dies nie, um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde sie überwachen wollen oder gar eifersüchtig sein.

Seltsamerweise konnte er jedoch gerade seit ihrem emotionalen Brief ihre zunehmende Distanz beobachten.

Ihm war dieses Verhalten zwar schon vorher aufgefallen, jedoch war es jetzt für ihn nur noch schwer nachvollziehbar, das dies genau jenes Verhalten war, das Klara zuvor so deutlich an Leo kritisiert hatte.

Doch sie gehörte zu der Sorte Mensch, die, nachdem sie eine Bestätigung gefunden haben, gelangweilt sind und wieder eine neue Herausforderung suchen.

Als sie dann noch nicht einmal mit Leo dessen Familie in den USA besuchen wollte, kam auch ein Bruch in Leos Gefühlen.

Er flog allein.

 

Eines Abends, während Leos Abwesenheit, saß sie allein im Wohnzimmer vorm Kamin und hielt sein „I’m sorry“ in der Hand.

Sie hatte den Klebezettel heute zufällig in einer Schublade gefunden, in der sie diese zunächst aufbewahren wollte, um sie ihm bei Bedarf zeigen zu können. Denn, dass es ihm leidgetan hatte, kam für sie einem Schuldbekenntnis gleich. Doch damit machte sie sich etwas vor. Jetzt hatte nämlich sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht voll und ganz zu ihm stand, wie sie es Leo in ihrem Brief damals vorgeworfen hatte.

Als Leo dann nach zwei Wochen aus den USA zurückkehrte, wirkte er wie verändert und suchte mit Klara das Gespräch. Er wollte ihr etwas sagen, vielleicht sogar beichten, was ihm am Herzen zu liegen schien. Umso überraschter war er darüber, dass Klara ihm sofort zustimmte, dass Gesprächsbedarf herrschte.

Bevor er aber anfangen konnte zu sprechen, begann sie schon Klartext zu reden:

„Hör zu Leo. Du wirst sicher auch schon bemerkt haben, wie es um uns steht. Wir leben nur noch nebeneinander her und unsere Zukunftsvorstellungen gehen anscheinend immer weiter auseinander. Ich wollte nie Kinder, aber ich will auch nicht der Grund sein, dass dir dieser Wunsch für immer verwehrt bleibt. Das Einzige, was ich momentan will, ist auch gleichzeitig die einzige Person, an die ich immer denken muss und das ist Josephine.“

Sie machte eine Pause, um Leos Reaktion abzuwarten. Doch da Leo sie nur erstaunt und kommentarlos anschaute, erzählte sie einfach weiter:

„Eines Abends während deiner Abwesenheit saß ich hier nachdenklich auf unserem Sofa und fühlte mich einsam – irgendwie verlassen. Es war still im Raum. Als es dann an der Tür klopfte, wusste ich sofort, wer es war. Plötzlich ging alles ganz schnell und ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür.

Du kennst Josephine. Wie du weißt, kann sie sehr hartnäckig sein. Und in dem Moment, als ich sie dann hereinließ, war mir klar, dass ich sie für immer in mein Leben lassen würde.

Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht länger gegen meine Gefühle wehren und vor allem möchte ich dich nicht länger verletzen.“

Doch Leo wirkte nicht überrascht über Klaras Liebesgeheimnis, denn die immer intensiver werdende Freundschaft zwischen den beiden Freundinnen, vor allem in jüngster Zeit, war ihm nicht entgangen.

Klara war sich hingegen bereits sicher, dass Josephine im Gegensatz zu Leo nicht nur alles für eine gemeinsame Zukunft täte und voll und ganz zu einer gleichgeschlechtlichen Beziehung stünde, sondern dies vor allem bereits nach wenigen Monaten auch öffentlich zeigen würde.

Leo dagegen hatte für seinen Verlobungsantrag Jahre gebraucht.

Doch dafür gab es einen guten Grund, den Leo jahrelang versucht hatte zu verdrängen und der während seines USA-Aufenthalts wieder aufgeflammt war. Denn Leo trug seit seiner Schulzeit eine andere Person in seinem Herzen.

Nachdem er in der letzten Woche der Amerikareise seine alte Jugendliebe getroffen hatte, war ihm bereits bewusst geworden, wo eigentlich sein Platz sein müsste.

Deshalb löste Klaras Entscheidung für Josephine bei Leo beinah Erleichterung aus.

Er wollte zurückkehren zu seinen familiären Wurzeln und vor allem zurück zu Diane.

Nie hatte er genug Mut aufbringen können, ihr zu sagen, dass er mehr für sie empfand, als nur Freundschaft. Früher, weil er zu schüchtern war und später, weil er Klara nicht verlieren wollte. Doch jetzt war er bereit, Diane voll und ganz für sich zu gewinnen.

Klara und Leo konnten nun ohne schlechtes Gewissen und erleichterten Herzens ihre Wege gehen, um endlich ihr persönliches Glück zu finden.

(V2)