Von Monika Heil

Es war still im Raum. Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür. Meine Beine zitterten. Ich versuchte, zwei Schritte nach vorn zu gehen, musste mich am Türrahmen abstützen. Plötzliche Helligkeit blendete mich. Ich blinzelte ein paar Mal. Die einströmende Luft entfachte das Feuer hinter mir explosionsartig und wird nun in kürzester Zeit alles Gewesene auffressen. Gott sei Dank! Es ist so weit! Endlich habe ich den Mut und die Kraft, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und mich der Gegenwart zu stellen.

 

Ich versuche, meine Augen offenzuhalten, nehme eine Reihe von Gesichtern wahr – verschwommen, unklar. Da stehen Menschen nahe beieinander, bilden eine imaginäre Mauer. Ein Mann in Uniform tritt einen Schritt vor. Ist es jener, der ständig rief: „Hier spricht die Polizei. Öffnen Sie Tür. Kommen Sie heraus. Hier spricht die Polizei“? Ein zweiter Mann stellt sich neben ihn. Er sieht aus wie mein Vater. Ich weiß, das ist nicht möglich. Ich habe meinen Vater umgebracht. Er liegt tot in dem Flammenmeer hinter mir. Er kann mir nicht mehr weh tun. Unseren Hund zu erschießen, war seine letzte furchtbare Tat. Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, die Waffe an mich zu bringen. Ich weiß nicht, was danach noch alles geschah. Und ich weiß nicht, warum Papa jetzt da vorn neben diesem Polizisten steht. Ich spüre den Revolver in meiner verschwitzten, zitternden Hand. Wenn das dort mein Vater ist, werde ich ihn noch einmal töten müssen. Ich muss alles auslöschen, was zu meiner Vergangenheit gehört. Alles. Ich hebe den Arm, ziele und

 

        Familientragödie in ländlicher Idylle

 

Die Polizei tappt noch immer im Dunkel und ihre Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Was geschah in dem verwahrlosten Haus am Rande der kleinen Ortschaft inmitten der idyllischen Lüneburger Heide?

Seit einigen Monaten schien das Anwesen unbewohnt. Nachbarn berichten, dass zu Beginn des Sommers Eva Menges, Mutter zweier Kinder im Alter von 14 und 21 Jahren mit der jüngeren Tochter ausgezogen sei. Vater und Sohn wurden seither nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen.

„Wer den Briefkasten regelmäßig leert, weiß ich nicht“, erklärt Antonie Mader (79) „Auch nicht, wer das Vieh versorgt hat.“ Die alte Frau wohnt allein auf ihrem etwa hundert Meter vom Unglücksort entfernten Hof.

Das Haus ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Ob es sich bei dem darin gefundenen Toten um den siebenundsechzigjährigen Alfons Menges handelt, muss die Obduktion ergeben.

Zufällig vorbeigehende Spaziergänger hatten am späten Sonntagmorgen Schreie gehört, unterbrochen von Schlägen, die von einer Axt oder ähnlichem zu kommen schienen. Lautes Hundegebell war aus dem Inneren des Hauses zu hören. Die Wanderer riefen die Polizei, die kurz darauf am Grundstück eintraf. Als erstes entdeckten die Beamten drei Hühner mit verdrehten Hälsen und eine verletzte Ziege auf dem verwahrlostem Hof. Da auf Klingeln und Rufen niemand reagierte, erwog die Polizei, das Grundstück zu stürmen, als sich plötzlich die Tür öffnete und ein junger, sehr verwahrlost wirkender Mann heraustrat. Noch bevor auch nur ein Wort fiel, richtete er eine Waffe auf den ebenfalls anwesenden Psychologen Dr. Ehrfried Manderscheid (55). Der diensthabende Kriminalbeamte erschoss Manfred Menges (21) in – nachvollziehbarer – Notwehr. Es ist anzunehmen, dass der junge Mann kurz zuvor seinen Vater sowie den Hofhund erschossen und im Haus Feuer gelegt hat.

 

Die Polizei ermittelt in alle Richtungen. Die Suche nach den weiblichen Familienangehörigen dauerte bei Redaktionsschluss noch an.

 

                     ***

Marie erstarrt wie von einem Magneten gestoppt und  fürchtet einen kurzen Moment, ihr Herzschlag setze gleich aus.

„Manfred, was hast du getan?“, krächzt sie heiser und lässt die Zeitung sinken. „Mama, warum hast du ihn damals nicht mitgenommen?“ Das junge Mädchen richtet verzweifelte Blicke auf die Fotografie ihrer Mutter, die vor ihr liegt. Sie hört förmlich, wie diese sarkastisch lacht und: „dann wärst du jetzt auch tot“, antwortet.

„Das stimmt nicht“, schluchzt Marie. „Manfred konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Papa war der Satan.“

„Manfred war volljährig“, glaubt sie, den Einwand ihrer Mutter zu hören. „Er konnte allein entscheiden, was gut für ihn war. Du nicht.“

Die junge Frau nickt. Sie weiß, ihr Bruder hatte sich spontan und aus freien Stücken entschieden, beim Vater zu bleiben. Und dennoch! Ihnen allen war klar, wie gewalttätig der Vater war, wie dominant er auftrat und die Familie terrorisierte. Als er seine kleine Tochter eines Nachts in ihrem Bett „besuchte“, war die Mutter eingeschritten und hatte auf der Stelle ihre und Maries Sachen gepackt, während der betrunkene Mann schnarchend auf dem Boden im Kinderzimmer lag. Manfred hatte sich geweigert mitzukommen. Die Kripo zu informieren, dazu hatte Eva Menges Kraft nicht gereicht. Die Diskussionen darüber verliefen zwischen Mutter und Tochter sehr bald im Sande. Irgendwann gingen beiden die Argumente aus und so schwiegen sie fortan, bis die Ältere ins Krankenhaus kam. Eine Woche ist das jetzt her. „Ein Tumor“, sagen die Ärzte.

 

Marie legt die Zeitung beiseite. Noch einmal wirft sie einen Blick auf das Foto ihrer Mutter. Es ist ganz still im Raum. Mit zittrigen Knien steht sie auf und atmet tief durch. Sie weiß, dass sie nun die längst fällige Entscheidung treffen und der Polizei alles erzählen muss. „Das bin ich meinem toten Bruder schuldig“, murmelt sie. „Und anschließend werde ich Mama im Krankenhaus besuchen.“ Sie nimmt ihre Jacke vom Haken und öffnet die Tür nach draußen.

 

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