Von Raina Bodyk

Greifswald 1973.

 

Es ist zu still in der Küche. Da stimmt doch etwas nicht. 

Sie öffnet die Tür: „Nein! Maik, nicht anfassen!“ Sandra stürzt zu ihrem viereinhalbjährigen Sohn. Zu spät. Er schreit bereits vor Schreck und quälenden Schmerzen. Der Topf mit heißem Wasser, den er vom Herd gezogen hat, hat ihm den rechten Unterarm verbrannt. Seine Beine in den kurzen Hosen haben beträchtliche Spritzer abbekommen.

Die eilig herbeigerufene Ärztin tröstet die schluchzende Mutter und den vor Pein jammernden Jungen: „Keine Sorge, das wird wieder. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Das kriegen wir wieder hin. Wir bringen ihn erst einmal ins Krankenhaus.“ 

In solchen angsteinflößenden Momenten vermisst Sandra einen Mann an ihrer Seite, der ihr hilft, mit solchen Schrecknissen fertig zu werden. Aber Maiks Erzeuger hat sie noch während ihrer Schwangerschaft sitzen lassen. Mit stundenweiser Arbeit in der Großwäscherei gegenüber und der Hilfe ihrer warmherzigen Nachbarin bringt sie sich und ihren Jungen durch.

Gottseidank darf sie bereits am nächsten Tag zu ihm. Der Arme sieht ganz blass aus mit den Verbänden. Er freut sich, dass seine Mutter ihm seinen Lieblingsschlafanzug mit den Teddys drauf mitgebracht hat. Da werden seine Leidensgenossen neidisch werden! Aber bald bricht seine tapfere Haltung zusammen und er beginnt zu weinen. Die Schmerzen quälen ihn immer noch und er möchte nach Hause. 

„Schatz, es tut mir leid, aber du musst noch eine Weile hierbleiben, bis alles verheilt ist. Sei Muttis tapferer, kleiner Mann. Du weißt doch, ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ Abgelenkt beginnt Maik unter Tränen zaghaft zu grinsen und kuschelt sich getröstet in die Arme seiner Mutter.

 

***

 

Zwei Tage später findet Sandra morgens ein Telegramm in ihrem Briefkasten, dass sie sofort ins Hospital kommen solle. Sie erschrickt zutiefst, ihr Herz rast. Ist etwas mit Maik? Warum hat niemand geklingelt und es ihr in die Hand gedrückt?

Im Krankenhaus empfängt sie der großgewachsene, imposante Chefarzt In seinem Behandlungszimmer. 

„Ist etwas mit Maik?“ schreit Sandra ihn fast an vor lauter Sorge.

Emotionslos schaut er sie an: „Leider hat Ihr Sohn es nicht geschafft. Seine Verbrennungen waren einfach zu stark.“

„Aber … Aber gestern hat er doch noch mit mir gesprochen. Bis auf die Wundschmerzen ging es ihm gut! Die Ärztin hat gesagt …“

Der Gott in Weiß zuckt bedauernd die Achseln: „Sie hat sich geirrt. So was kommt vor. Gegen die Natur sind wir letzten Endes immer noch machtlos.“

„Ich möchten den Jungen sehen. Sofort!“

„Tut mir leid, das geht nicht. Das Kind ist bereits in der Gerichtsmedizin.“

„Das ist mir egal. Ich muss ihn sehen, ich muss!“

„Frau Häuser, da bin ich machtlos, das müssen Sie verstehen. Nehmen Sie es nicht so schwer, Sie können noch viele Kinder bekommen.“

Dann geht alles so schnell, dass Sandra nicht zu Verstand kommt. Alles rollt wie ein Film für sie ab, ist so unwirklich. Sie ist Hauptdarstellerin und Zuschauerin gleichzeitig. Sie fühlt sich, als bewege sie sich durch undurchdringlichen Nebel. Sie bringt eine Hose und sein geliebtes, knallrotes Hemd ins Krankenhaus. Einen Tag später ist bereits die Beerdigung.

 

***

 

Der Junge ist neu im Kinderheim. Er ist sehr scheu, schließt sich nicht an seine Altersgenossen an. Meist entdecken ihn die gestrengen Betreuerinnen in einer abgelegenen, dunklen Ecke, wo er leise vor sich hin weint. Er schreit immer wieder nach seiner Mutti, schlägt um sich, wenn eine Erzieherin ihn aus seinem Versteck ziehen will. Die anderen Kinder haben Angst vor seinen plötzlichen Wutausbrüchen. Sie ärgern ihn mit Vergnügen und spotten mit den Erwachsenen: „Heulsuse, Heulsuse!“ 

Nachts verkriecht er sich ängstlich im olivfarbenen Kleiderschrank, der die wenigen Habseligkeiten beherbergt, die von anderen Kindern zurückgelassen worden sind. Er versucht, nicht einzuschlafen, denn dann kommt der böse Traum wieder: Da ist dieser Mann, im weißen Kittel. Er steht vor ihm, wird größer und größer, beugt sich dann tief zu dem Jungen runter. Der fühlt sich so winzig, so wertlos, von kalten Augen durchbohrt. Die hagere Gestalt flüstert mit gedehnter, bedrohlicher Stimme: „Deine Mutter hat dich vergessen! Vergessen! Du gehörst mir!“ Dazu unheimliches Gelächter. Der Junge schreit in Todesangst auf – und hofft, dass niemand ihn hört. Sonst wird er wieder bestraft.

 

***

 

Eines Tages wird er zu Frau Elsa, der Heimleiterin geführt: „Junge, heute ist ein Glückstag für dich. Wir haben wunderbare Eltern für dich gefunden, die sich auf dich freuen.“

„Ich will nicht. Ich will zu meiner Mutti!“

„Wir haben dir doch gesagt, das geht nicht. Sie ist bei einem Unfall mit dem Rad gestorben.“ 

„Das ist nicht wahr! Du lügst!“ Der kleine Bursche stampft zornig mit dem Fuß auf.

„Sei lieber dankbar, dass dir so eine Chance geboten wird. Andere würden wer weiß was dafür geben.“

„Aber ich nicht! Ich will nicht!“

„Nebenan sind Herr und Frau Harsch. Sie werden sich künftig um dich kümmern. Benimm dich jetzt gefälligst oder willst du für immer hier im Heim bleiben? Sei brav, nicht so verstockt wie hier, dann wirst du es guthaben.“

 

***

 

Im Vorzimmer wartet schon ein nicht mehr ganz junges Paar. Die Leiterin hatte sie angerufen: 

„Genosse Harsch, Elsa hier. Ich glaube, jetzt habe ich den richtigen Jungen für dich. Er entspricht genau deinen Vorstellungen. Allerdings braucht er noch ein bisschen Zucht. Aber das machst du schon! Diesmal wirst du mir das Kind nicht zurückbringen, da bin ich ganz sicher!“ Siegessicher lachte sie in den Hörer.

 

Und jetzt steht dieser Junge vor ihnen, recht kleingewachsen, aber das wird sich bestimmt noch geben. Er soll eine ordentliche Erziehung bekommen. Freude und Aufgabe zugleich!

„Hallo, junger Dachs! Wir sind deine neuen Eltern. Du darfst Mutter und Vater zu uns sagen. Wir werden dich Michael‘ nennen, das ist ein guter, alter deutscher Vorname.“

 

***

In der Folge merkt der Knabe sehr schnell, dass es keinen Zweck hat, wenn er sich stur stellt und nicht auf den neuen Namen reagiert. Seine ‚Mutter‘ ist als Lehrerin sehr vertraut mit wirksamen Strafmaßnahmen. 

Der Vater, Parteisekretär in einem volkseigenen Baubetrieb, ist streng und fordert von Anfang an Gehorsam und die Erfüllung häuslicher Pflichten, um die Frau des Hauses zu entlasten. 

Trotz der vielen Ermahnungen zu Disziplin und Ordnung hat Michael es nicht schlecht getroffen. Gut, er muss gehörig zupacken und der Ton in der kleinen Familie ist nicht sehr gefühlsbetont oder herzlich. Kuscheln wie mit seiner Mutti kann er mit den beiden nicht. Aber er wird gemocht, fährt mit den Eltern an die Ostsee und wird stolz im Bekanntenkreis vorgezeigt. 

 

 

***

 

Freiburg 1992.

 

Sandra stöhnt. Drei Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen und immer noch ist die ehemalige DDR ein Hauptthema in den Zeitungen. Entlassungen, Werksschließungen, Treuhand, Neonazis, Arroganz des Westens und so weiter, und so weiter. 

Das alles hängt ihr zum Hals raus. Sie will nicht mehr an die einstige Heimat, die sie 1975 mit offizieller Ausreiseerlaubnis verlassen durfte, erinnert werden. 

Seitdem man ihr so kurz und herzlos mitgeteilt hat, dass Maik tot sei, weigert sie sich, zurückzudenken. Sie vermisst ihn jeden Tag. Immer wieder denkt sie daran zurück. Wenn sie sich an die Worte dieses überheblichen Herrgotts in Weiß „Sie können noch viele Kinder bekommen!“ erinnert, könnte sie schreien vor Wut und Verzweiflung. Statt kleiner Lausbuben oder Mädchen hat sie schwere Depressionen bekommen und Mühe gehabt, ihr Leben in den Griff zu bekommen. In ihrem Herzen ist nie mehr Platz für eine neue Liebe oder ein Kind gewesen. 

 

Damals ist sie wie betäubt gewesen, aber inzwischen sind so viele Fragen in ihr aufgetaucht, auf die sie keine Antwort weiß: Warum durfte sie ihren Sohn nicht mehr sehen? Warum steht auf dem Totenschein der Gerichtsmedizin, dass er durch erbrochenen Mageninhalt erstickt sei und auf dem vom Krankenhaus, dass er an seine Verbrennungen gestorben sei? Warum geschah alles so in Windeseile, war die Beerdigung schon nach einem Tag?

Plötzlich stockt sie. Ihre Augen bleiben an einem Artikel über 180 Kilometer vergilbter und zum Teil zerrissener Stasi-Akten hängen. Hätte sie da eine Chance nachzuforschen?

 

Vier Monate nach ihrer Anfrage mit allen vorhandenen Unterlagen hält sie die Antwort der Behörde in ihren zitternden Händen. Sie reißt das Kuvert geräuschvoll mit dem Daumen auf. 

 

Berlin, Abt. XX/2, 23.06.1973

Untersuchungsvorgang SANDRA HÄUSER, geb. 17.02.1946, ledig

Oben genannte Person hat ihre Aufsichtspflicht gegenüber dem einzigen Sohn MAIK, geb. 03.10.1969, missachtet, wodurch es zu einem Verbrennungsunfall am Kind mit nachfolgendem Krankenhausaufenthalt kam. Zudem soll sie, dem Nachbarn Heinrich Erk zufolge, wechselnde Partner haben. Ihr asoziales Verhalten gefährdet die öffentliche Ordnung.

Einzuleitende Maßnahme: Verbringung des Kindes in ein Kinderheim bzw. in eine Familie mit sozialistisch-gefestigtem Lebenswandel. 

Parteisekretär Harsch erklärt sich bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Erbitte Instruktion.

Operativer Mitarbeiter
Gerhard Luge
Greifswald

 

Sie hat es gewusst! Sie hat es immer gewusst! Maik lebt! Ihr Inneres erbebt unter einem ungeheuren Sturm von widersprüchlichen Gefühlen – Zorn, Dankbarkeit, letzte Zweifel, Zuversicht, Glück, Liebe, Angst.

So merkt sie erst nach einer Weile, dass dem Schreiben eine Adoptionsurkunde beiliegt. Ihre Unterschrift fehlt. 

 

***

 

Michael verlässt endlich sein Zimmer und geht zaudernd die geschwungene Treppe hinunter. Zögerlich legt er ein Ohr an die Wohnzimmertür. Dahinter ist alles still. Niemand scheint zu sprechen, weder seine Eltern noch sie. Ob sie gestritten haben?

Noch einmal hält er nervös inne. Laut hört er sein unruhiges Herz schlagen. Er weiß nicht, ob er sich freut. Er hat Angst. Ist das damals wirklich so gewesen? 

Tausend Fragen steigen in ihm hoch. Ob sie ihn erkennen wird.? Ob er sie erkennen wird? Was wird sie sagen? Er war noch so klein damals, kann sich nicht einmal mehr richtig an ihr Aussehen erinnern. Seine Mutter. Mutti …

Er drückt die Klinke runter.