Von Andrea Gebert

Der Junge legte den Tonarm behutsam um, sah zu wie die Nadel sich in Richtung Vinyl bewegte und wartete. Es war die Lieblingsschallplatte seiner Großmutter. Das Album hieß „ Frozen“ von Madonna. Sie hatten oft miteinander Musik gehört, er hatte ihr Heavy Metal zu erklären versucht und sie ihm Madonna. Nun war sie tot.

Er konnte es noch immer nicht fassen und während er Madonnas „ Into the Groove“ zuhörte, dachte er über den letzten Wunsch seiner Großmutter nach. Dann inspizierte er ihren Kleiderschrank, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder auf den Boden. Um ihn herum Zeitungsausschnitte mit Berichten von Madonnas Konzerten, Fotos, Liedtexte – alles säuberlich ausgeschnitten und in Folien verpackt. 

Achtzehn Leitzordner voller Madonna hatte die Oma gesammelt. 

Am nächsten Tag ging er einkaufen. Er hatte sich für ein Madonna-Outfit entschieden, indem seine Oma großartig aussehen würde. Die Verkäuferin in der Boutique musterte ihn mit seltsamen Blicken, als er nach einer Corsage in Größe 44 fragte. Es gab ein einziges Stück, dessen Preis ihm fast die Sprache verschlug, doch er zuckte mit keiner Wimper, bezahlte und machte sich auf die Suche nach schwarzen Overkneestiefeln in Größe 41. Schließlich erwarb er noch schwarze ellenbogenlange Handschuhe, schwarze Netzstrümpfe und eine blonde Perücke.

Am Abend saß er vor seinem Laptop. Stundenlang sah er sich Auftritte von Omas Idol an, um sich ein Bild von ihrem Make up machen zu können.

Das Shoppen in Kosmetikgeschäften glich einem Spießrutenlauf, er ärgerte sich, dass ihm nicht genügend Zeit für einen Online-Einkauf blieb. 

Zum Üben blieb ihm nur sein eigenes Gesicht. Es war unglaublich schwer drei verschiedene Lidschattenfarben aufzutragen ohne dass sie verwischten und noch viel schwieriger gestaltete sich der Umgang mit dem Kajalstift. Um Mitternacht war er fertig: eine Frau sah ihm aus dem Spiegel entgegen, der etwas Entscheidendes fehlte. Der Leberfleck über der rechten Oberlippe.    

Er hatte dem Bestatter erzählt, dass er bei der Großmutter aufgewachsen war und dass er sich deshalb in aller Stille von ihr verabschieden wolle. Deshalb durfte er eine Stunde, bevor die offizielle Zeremonie begann zu ihr. Eigentlich sah sie auch so schön aus. Ihr Haar hatte ein kräftiges Kastanienbraun, welches ihm gefiel, obwohl er wusste, dass es aus der Tube kam. Vorm Schlafengehen hatte sie es immer auf große grüne Wickler mit Stacheln aufgedreht. Einmal hatte er zu ihr gesagt, dass sie wie ein Kaktus mit Ohren aussehen würde. Normalerweise lachte sie über seine Sprüche, diesmal wurde sie furchtbar wütend. Später hatte sie ihm erzählt, dass man sie in ihrer Kindheit immer wegen ihrer zu großen Ohren gehänselt hätte.  

Die Glocke der Kapelle, in der die Großmutter aufgebahrt war, schlug einmal. Der Junge erschrak. Er hatte nur noch fünfundvierzig Minuten. 

„Ich mach dich schön, Oma“, versprach er und begann mit den Netzstrümpfen. Danach zog er ihr die Overkneestiefel an. Alles dauerte viel länger als er gedacht hatte. Er öffnete das weiße Hemdchen, dass man ihr angezogen hatte und plötzlich schauderte ihn. Doch dann dachte er daran, wie sehr sie es sich gewünscht hatte und machte weiter. Zog ihr die schwarz- weiß gestreifte Spitzencorsage über, stopfte das Dekolleté mit Watte aus und setzte ihr behutsam die blonde Perücke auf. Natürlich so, dass die Ohren nicht zu sehen waren. 

Dann öffnete er Madonnas Schminkkoffer: Er begann mit einer leichten Grundierung, legte nudesfarbenes Make- up auf und schattierte die Wangen mit pfirsichfarbenem Rouge. Trug zuerst hellen Lidschatten bis zur Lidfalte auf, den er mit etwas Silberstaub überzog. Setzte dann mit lila Lidschatten fort und endete unter den Brauen wieder mit dem helleren. Der Lidstrich gelang ihm erst beim dritten Versuch. Seine Finger zitterten, ein Schweißtropfen rann ihm über die Wange. Bevor er mit dem Mascara begann, klebte er der Großmutter die falschen Wimpern an. Er hörte bereits Stimmen vor der Tür und wurde immer hektischer. Er umrahmte Großmutters Mund mit einem Konturenstift, bevor er ihre Lippen mit einem Pfirsischrot überzog. Darüber legte er leuchtendes Gloss. Dann setzte er mit einem braunen Kajalstift einen winzigen Punkt über ihre  rechte Oberlippe und verabschiedete sich mit einem Kuss.

Hinter ihm öffneten sich die Türen. Eine Menschenschlange kroch in den schmalen Raum. Der Junge hörte die schrille Stimme seiner Mutter, noch ehe er sie zu Gesicht bekam. Seine beiden Halbschwestern  übertrumpften sich gegenseitig, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Die ersten, die den offenen Sarg erreichten, waren Onkel Fred und Tante Hanna. 

„Gott wie schrecklich, wer hat das der Ärmsten nur angetan?“ hörte die Tante jammern. Der Junge wußte, dass es ihr herzlich war, wie die Schwester im Tode aussah, hatte sie sich doch zu Lebzeiten auch nie für sie interessiert. Onkel Albert schrie entrüstet etwas von einer Leichenschändung, die man seiner lieben Mutter angetan hätte und dass er sich das nicht bieten lassen würde. Der Junge mußte daran denken, was sich die Großmutter alles von ihrem einzigen Sohn hatte bieten lassen müssen. Er hatte sie in den letzten drei Jahren nicht ein einziges Mal besucht. Der Stiefvater  brummte etwas von den Allüren der komischen Alten. Das Schluchzen der Mutter klang unecht in den Ohren des Jungen. Vor fast fünfzehn Jahren hatte sie ihn in ein Kinderheim gegeben, weil der neue Mann keine fremden Kinder haben wollte. Nach weniger als einer Woche hatte ihn die Großmutter zu sich geholt. 

Es wurde lauter und lauter. Der Pfarrer stand ratlos an der Kanzel.

Plötzlich durchzuckte ein greller Blitz die Kapelle, für einen Augenblick fiel ein seltsames leuchten auf das Gesicht der Toten. Es sah aus als ob sie lächelte. 

Dann sorgte ein gewaltiger Donnerschlag für Ruhe. Der Junge verschwand im Regen.