Von Maria Lehner

Am Eingang eines berühmten Wiener Cafés befindet sich, täuschend echt auf einem Sessel sitzend, die Figur eines toten Dichters aus Pappmaché. Im weniger berühmten „Bierbeisl zum Schatzl“ sitzt er, der Schatzl. Er sieht auch aus, als wäre er aus Pappmaché, obwohl er noch nicht tot ist. Manch einer behauptet, dass er hier und in dieser Haltung schon seit Ende Mai sitzt, denn er kann sich nicht entscheiden, was er bestellen soll. Ab und zu fragt jemand vom Servierpersonal nach, aber über ausschweifende Betrachtungen der Namensgebung für die Speisen und die Urgenz der fehlenden Allergenkennzeichnung sowie den Hinweis auf die Rechtschreibfehler in der Speisekarte geht die Unterhaltung nicht hinaus. Hinter all dem steckt eine Geschichte und wie so oft, reicht sie Jahrzehnte zurück.

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Die Frau Professor Mickl soll schuld sein. Sie soll gesagt haben „Zur Sache, Schätzchen!“ und alle sollen gelacht haben. Das war 1969, als Ludwig-August Schatzl die dritte Klasse des Gymnasiums am Schuhmeierplatz in Wien besuchte. Ein Wortspiel war das, denn es hatte 1968 diesen Film gegeben.

„Zur Sache, Schätzchen“, wiederholten die Mitschüler begeistert zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Schatzls Mutter baute sich kurze Zeit später – außerhalb der Sprechstunde – energisch vor Frau Professor Mickl auf. Sie wetterte wortgewaltig über Namensverunglimpfung, die Anleitung zum Verspotten durch Mitschüler, ja sogar über das Zitieren des Titels eines „Sex“- Films.

Die Mickl hatte ja nur witzig sein wollen, jetzt war sie geknickt und vergaß sogar zu erwähnen, was dem vorangegangen war, nämlich das Ewig-Gleiche, mit dem Ludwig-August stets elegant das Wesentliche beiseiteließ. Sie hatte ihm aufgetragen: „Wiederholung der letzten Stunde: Fasse zusammen, wie das nach dem Mittelalter mit der industriellen Revolution war!“ Ludwig-August, der die Königsdisziplin des Ablenkens beherrschte (und von dieser industriellen Revolution keine Ahnung hatte, sich sehr wohl aber plötzlich deutlich an das Imperium Romanum erinnerte), setzte an zum mutigen Satz: „Wieder stand man an einer Zeitenwende, so wie damals, als das Imperium Romanum ein Gebiet umfasste, das viel größer war als die heutige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft! Als die Provinzen nämlich zu zahlreich wurden…“ Und darauf folgte Mickls fast zärtlich-neckendes: „Zur Sache, Schätzchen!“ wohl zurecht. Seine Strategie blieb. Von nun an hieß es aber, ganz korrekt und unverdächtig, überall, „Zur Sache, Schatzl!“. In fast allen Unterrichtsfächern und Lebensbereichen.

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„Zur Sache, Schatzl!“, donnerte auch der Sektionschef ungeduldig Jahrzehnte später als er, nach dem Gymnasium und dem Studium der Rechtswissenschaften, im Ministerium (lassen wir dahingestellt, in welchem) seinen mündlichen Bericht begann: „Im Allgemeinen ist zu bemerken, dass – zieht man sämtliche bisherigen Vorgänge in die Betrachtung mit ein und wägt ab, was die einzelnen Parteien vorbringen – in der Angelegenheit Optimierungspotenzial insofern gegeben ist, als…“. Die Stirnfalten des Herrn Sektionschefs kräuselten sich zum doppelten Paragraphenzeichen und er sagte später im Personalbüro: „Haltet mir den vom Leib!“

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Es gab eine andere Beschäftigung. Schatzl mit seiner wortreichen Rede, seinem laut und wichtigtuerisch vorgebrachten, von lebhaften Gesten begleiteten Worthülsen wurde Gewerkschafter, genauer gesagt: „Funktionär in der Interessensvertretung der Beamten“. Hier machte er seine Sache gut, sagten manche. Andere sagten etwas anderes.

Kam eine, die in eine andere Gehaltsklasse übernommen werden wollte, schwadronierte er so lange, bis sie vergessen hatte, was sie wollte und stattdessen die Funktion einer Erste-Hilfe-Beauftragten annahm und auf die Insel Gozo auf Urlaub fuhr. „Zur Sache, Schatzl!“ – der Ruf erklang öfter und öfter; gleichzeitig kamen immer weniger Leute zu ihm, um sich von ihm helfen zu lassen. Aber er fiel jenen auf, die sein Potenzial in der Politik sahen.

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Für derartige neue Herausforderungen hatte Ludwig-August Schatzl viel Zeit, denn sein Privatleben verlief unspektakulär. Die Nachbarin bat längst nicht mehr darum, ihre Poststücke zu übernehmen, weil er so lang dozierte, wie schrecklich eigentlich dieser Bestell- und Versandwahn sei, gäbe es doch auch den Einzelhandel vor Ort. Hätte sie genug Zeit gehabt, Schatzls Ausführungen zu folgen, hätte sie auch die Zeit gehabt, ihre Poststücke persönlich zu übernehmen. So resignierte sie. Wahrscheinlich hätte sie auch gerne „Zur Sache, Schatzl!“ geknurrt, aber man soll sich´s doch nicht mit den Nachbarn verderben.

Verreisen war auch keine Option für ihn. Er fertigte so umfangreiche Tabellen mit Parametern von „Strandnähe“ bis zu „zu erwartende politische Lage im Land“ an, dass es Spätherbst wurde, bis er sich für einen Meeraufenthalt entschieden hatte.

Nun möchte man meinen, dass es in seinem Alter und in seiner Situiertheit doch eine Frau an seiner Seite hätte geben müssen, die das alles hätte ausgleichen könne: Natürlich nicht. Ludwig-August war auch da nicht „zur Sache“ gekommen. Eine hatte sogar einmal gescherzt „Zur Sache, Schätzchen!“ und er war im Café aufgestanden und hatte sie sitzen gelassen (einen Zwanzig-Euro-Schein hatte er noch auf den Tisch geknallt). Er hatte später eine SMS geschrieben: „Du erinnerst mich an meine Geschichtelehrerin. Das geht ja gar nicht“.

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Von kurzer Dauer war seine Karriere als Abgeordneter zum Bundesrat. Die Fraktion, die er vertrat, hatte ihn ursprünglich auf Grund seiner Erfolge bei der Gewerkschaft nominiert. Das hier war aber doch etwas Anderes. Innerhalb eines Parlamentsjahres war mehrmals gemäß § 69 der Geschäftsordnung („Abschweifungen eines zur Teilnahme an den Verhandlungen Berechtigten“) der Ruf des Präsidenten „Zur Sache“ erfolgt. Nicht „Zur Sache, Schatzl!“ auch nicht „Zur Sache, Schätzchen!“. Einfach nur „Zur Sache!“. Nach jeweils dem dritten Ruf „zur Sache“ hatte ihm jedes Mal der Präsident das Wort entzogen. Das war´s dann gewesen mit der parlamentarischen Karriere.

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Nun hatte er viel Zeit, in jenem Bierbeisl zu sitzen, das irgendwann nach ihm, dem Stammgast, „Bierbeisl zum Schatzl“ benannt worden war. Anfangs kam jeder hierher, der durch ihn zum Schwadroneur ausgebildet werden wollte, und das waren nicht wenige. Aber dann kamen diese Unstimmigkeiten mit dem Servierpersonal, weil er für jede Bestellung zig-Mal ansetzte und mäandernde Sätze von sich gab. Man ignorierte ihn. Er saß trotzdem dort. Angeblich monatelang am Stück.

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Als die Tür aufging an diesem unwirtlichen Dezembermorgen, wehte ein eiskalter Hauch herein und unwillkürlich zuckten alle zusammen. Der Eintretende war kein Stammgast. Er trug etwas wie einen langen schwarzen Umhang mit spitzer Kapuze und in der Hand ein Instrument (man vermutete: eine elektrische Sense). Nachdem er die Kapuze abgestreift hatte, wunderte man sich – oder eigentlich doch nicht – über seine ungesunde Gesichtsfarbe. Er ging zielstrebig auf Schatzl zu, der interessiert und angstfrei aufsah, während sich alle anderen hinter ihre Gläser duckten.

„Es warat an der Zeit“, sagte der Unbekannte. Das ist der wienerische Konjunktiv, denn er sprach Wienerisch.

„Ah!“, Schatzls Augen blitzten auf und (scheinbar) ohne Atem holen zu müssen, holte er aus: „Es warat an der Zeit! Dass Sie das kennen! Das ist doch der Titel des Debütalbums des Steirers Gernot Pachernigg. Der hat am gleichen Tag Geburtstag wie meine Mutter, nämlich am 14. Juni, aber eben 1981.  Können Sie sich erinnern, er wurde durch seine Teilnahme an der dritten Staffel der Castingshow Starmania bekannt, die zwischen Oktober 2006 und Jänner 2007 im Fernsehprogramm des ORF ausgestrahlt wurde?“ Der Kapuzenmann erstarrte. Auf so manches war er vorbereitet gewesen, aber: das? Ludwig-August Schatzl war mittlerweile zu großer Form aufgelaufen: „2018 hat er mit einem Tätowierer, ich glaub Mario Barth hat der geheißen, eine Band in Las Vegas gegründet.“

Der Kapuzenmann wurde nervös, besann sich darauf, dass er in Wien war und sagte nicht „Na hör ´mal!“, sondern „Heast?!“. Das stellt nur oberflächlich betrachtet eine Frage nach der Hörfähigkeit und dem Hörverständnis des Gegenübers dar. „Heast!!! Zur Sache, Schatzl!“, aber das war äußerst kontraproduktiv, denn jetzt spulte Ludwig-August seine ganze Lebensgeschichte herunter, die durchsetzt war von dieser so oft wiederholten und aus seiner Sicht unsinnigen Aufforderung. Der Schwarzgewandete trommelte mit den Fingern einen Galopprhythmus auf den Tisch, wie man ihn von Iron Maiden kennt. Mit einem bitteren „Na guad, daunn ned!“ dokumentierte er seinen Verzicht. Schatzl meinte „Was, das kennen Sie auch! Ja das ist ein Song aus 1985 von Joesi Prokopetz. Mit Ihnen macht es Spaß, sich zu unterhal-“.

Aber das hörte der Typ nicht mehr, er hatte sich entschlossen aufgerichtet und mit einer zornigen Bewegung den Zipfel des schwarzen Umhangs um die linke Schulter geschlagen, die Kapuze tiefer ins Gesicht gezogen, und war geplagt aufstöhnend zur Tür hinausgeeilt. Ludwig-August sah ihm verblüfft nach.

Im Bierbeisl redet man noch heute davon. Da sitzt einer, der dazu versonnen nickt. Er sieht aus, als wäre er aus Pappmaché.

 

 

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