Von Marcel Porta

Bevor ich den entscheidenden Selbstversuch beginne, schreibe ich alles nieder, was mich bis zu diesem Punkt gebracht hat. Ein bisschen erinnert mich die Situation an Evariste Galois, den genialen Mathematiker, der seine Theorien in der Nacht vor dem Duell niederschrieb, bei dem er getötet wurde. Auch er war damals 21 Jahre alt. Das Experiment, das ich durchführen werde, ist so weit von meinen anfänglichen Zielen entfernt, dass es mich zum Lachen bringt. Aber der Reihe nach.
Tagelang hatte ich mich in meiner Studentenbude vergraben, weil ich durch einen Geistesblitz herausgefunden hatte, wie ich ein Objekt in die Zukunft schicken konnte. Die ellenlangen Formeln lasse ich hier weg, sie befinden sich in meinem mathematischen Tagebuch. Theoretisch sollte der Vorgang mit einem derartig niedrigen Energieverbrauch auskommen, dass der Strom einer Batterie ausreichen würde. Zumindest, wenn ich das Objekt nicht zu groß wählte und die Zeitspanne entsprechend kurz war. Also nahm ich eine Stecknadel und wählte als Zeitspanne eine Millionstel Sekunde.

Meinen Berechnungen zufolge sollte die Nadel verschwinden, denn auf ewig würde sie in der Zukunft sein. Selbst bei dieser winzigen Zeitspanne wäre sie der Wahrnehmung in der Gegenwart auf ewig entzogen. Mit Spannung baute ich das Experiment auf und erlebte – eine Enttäuschung. Nichts passierte. Wieder und wieder prüfte ich meine Berechnungen, bis ich den Fehler entdeckte. Zwar gelang es mir bei dieser Versuchsanordnung, das Objekt in die Zukunft zu schicken, doch innerhalb einer kaum noch messbaren Zeitspanne kehrte das Objekt wieder zurück. Letztlich war der Grund für die geringe Energie, die verbraucht wurde, dass der Rückfall die Gleichung umkehrte und die Energie fast komplett wieder einspeiste.

Erst als ich das Experiment mehrmals wiederholte, bemerkte ich, dass es einen Nebeneffekt gab, den meine Formeln zwar vorhersagten, der jedoch meiner Aufmerksamkeit vorher entgangen war. Durch die stetige Zufuhr von Energie wurde das Objekt unmittelbar nach dem Rückfall in die Gegenwart wieder in die Zukunft geschickt. So schwankte das Objekt ständig zwischen Gegenwart und Zukunft, was mit dem Auge nicht wahrzunehmen und erst mit einer aufwändigen Messapparatur nachzuweisen war. Wenn ich die Energie erhöhte, wurde die Oszillation beschleunigt, und zwar exponentiell. Wenn ich die Energie verdreifachte, wurde die Schwankung etwa tausend Mal so schnell. Bald erreichte ich so Schwingungen im Bereich von Attosekunden, also dem Milliardstel einer milliardstel Sekunde. Kleinere Zeitbereiche sind mit unseren physikalischen Methoden nicht mehr messbar.

 

Elektrisiert berechnete ich die Energiemenge, die ich aufwenden musste, um die Planckzeit zu erreichen. Für alle, die nicht wissen, was es damit auf sich hat, will ich ein paar Worte dazu verlieren. Die Welt ist endlich, das wissen wir spätestens seit Einstein. Und sowenig, wie es das unendlich Große gibt, gibt es auch das unendlich Kleine. Deshalb existiert auch keine unendlich kleine Zeitspanne, was bedeutet, dass es ein kleinstes Zeitquant gibt. Seine Länge wurde von Max Planck berechnet und sie liegt um etliche Größenordnungen unter der gerade noch messbaren Attosekunde. Sie entspricht ungefähr dem Milliardstel eines Milliardstels einer milliardstel Attosekunde.

Wegen der exponentiell wachsenden Beschleunigung der Oszillationsgeschwindigkeit ergab sich, dass die Energie aus einer gewöhnlichen Taschenlampenbatterie ausreichen würde, um diese Grenze zu erreichen.

 

„Max, das probierst du aus“, redete ich mir selber zu. Doch als ich dann die Energiezufuhr bis kurz vor diesen Grenzwert erhöht hatte, verließ mich der Mut. Was, wenn alles explodierte? Wieder und wieder nahm ich mir meine Berechnungen vor und versuchte theoretisch zu ermitteln, welche Folgen zu erwarten waren, doch die Formeln gaben es nicht her. Die Gravitationskonstante, das Wirkungsquantum und die Lichtgeschwindigkeit definieren die Planckzeit und sie erlauben keinen Blick hinter ihre Grenzen. Wenn ich es wissen wollte, musste ich es ausprobieren.

Drei Tage lang betrat ich mein Experimentierzimmer nicht mehr, doch dann bezwang mich die Neugierde. Ich musste es herausfinden, um jeden Preis.

 

Langsam, extrem langsam erhöhte ich die Energiezufuhr bis zur kritischen Schwelle. Und als ich sie endlich erreichte, auf alle möglichen Folgen gefasst, – geschah nichts. Zumindest war nichts zu sehen. Ob ich mich verrechnet hatte? Nein, die Oszillationsgeschwindigkeit musste die Planckzeit erreicht haben. Eine weitere Energiezufuhr sollte jetzt auch nichts mehr bewirken.

Völlig frustriert erhöhte ich die Energiezufuhr aufs Maximum, das mir zur Verfügung stand. Es war eine Trotzreaktion, eigentlich eines Verstandesmenschen unwürdig, doch ich war schon immer meinen Emotionen mehr unterworfen, als mir selber lieb war. Doch diesmal war es der Beginn von etwas Wundervollem. Denn obwohl jede Berechnung dagegen sprach, war die Nadel verschwunden. Ich bemerkte es erst, als ich sie wegräumen wollte. Sie war nicht mehr da. Ich suchte sie überall, da ich einfach nicht mehr an einen Erfolg des Experimentes glauben konnte. Sollte sie am Ende doch in die Zukunft entschwunden sein?

„Wenn das tatsächlich geklappt hat und du es beweisen kannst, ist dir der Nobelpreis sicher“, flüsterte ich vor mich hin.
Was wirklich passiert war, entdeckte ich erst am nächsten Abend, als ich die Versuchsanordnung wiederherstellte und eine weitere Nadel verschwinden lassen wollte. Als ich nämlich beim Platzieren der Nadel zufällig nach oben blickte, entdeckte ich sie. Die Nadel vom vorherigen Tag. Sie war nicht verschwunden, sondern klebte an der Decke. Darauf konnte ich mir absolut keinen Reim machen. Ich stieg auf einen Stuhl und betrachtete mir die Sache aus der Nähe. Die Nadel hatte sich etwa einen halben Zentimeter in die Zimmerdecke gebohrt. Aber nicht mit der Spitze voran, sondern waagerecht, wie sie gelegen hatte. Die Kraft, mit der sie sich dort hinein gebohrt hatte, musste beachtlich gewesen sein.

Eine Erklärung hatte ich nicht, aber es war sofort klar, wie ich der Sache auf die Spur kommen konnte. Ich drapierte die neue Nadel auf dem Gerät, erhöhte wieder die Energiezufuhr, bis die Oszillation die Planckzeit erreichte. Wieder geschah nichts, das ich beobachten konnte. Dann erhöhte ich die Energie langsam, was meinem bisherigen Dafürhalten nach absolut nichts bewirken sollte. Doch dann sah ich es. Langsam erhob sich die Nadel von ihrer Unterlage und begann zu schweben. Die nun überschüssige Energie hob die Schwerkraft auf, und je weiter ich die Energiezufuhr erhöhte, desto schneller entfernte sich das Testobjekt von der Unterlage. Die Schwerkraft wurde also nicht nur aufgehoben, sondern mit einem negativen Vorzeichen versehen und so zur Beschleunigung senkrecht zur Erdoberfläche. Durch meine gestrige emotionale Handlung hatte ich die Nadel so sehr beschleunigt, dass sie in die Decke geschossen war.

 

In den nächsten Tagen mühte ich mich bis zur Verzweiflung ab, eine theoretische Erklärung für dass Phänomen zu finden, doch es gelang mir nicht. Ich fürchte, das werde ich klügeren Köpfen überlassen müssen. Meine Experimentierfreude dagegen ließ nicht nach und schon bald konnte ich größere Objekte zum Schweben bringen. Indem ich mehrere Energiequellen dicht nebeneinander anordnete und die Oszillationsfrequenzen unterschiedlich hoch dosierte, schaffte ich es schließlich sogar, nicht nur ein Schweben, sondern auch eine Vorwärtsbewegung zu erreichen. Durch Doppelreihen von Energiequellen war sogar eine Seitwärtsbewegung möglich und ich ließ einen Bleistift eine Pirouette nach der anderen fliegen.

In den folgenden Wochen kümmerte ich mich um das Problem der Mobilität. Denn das Fernziel, einmal selbst fliegen zu können, stand klar vor mir, als ich den kreisenden Bleistift mit den Augen verfolgte. Aber eben nicht nur über der Apparatur, sondern mit ihr, sodass ich mich frei durch die Luft bewegen konnte.

Nach langer Tüftelei schaffte ich es tatsächlich, dass das Gerät selbst mitschwang und ebenfalls in die Luft stieg. Mit einer Fernsteuerung konnte ich nun den Bleistift samt Träger durchs ganze Zimmer fliegen lassen.
Drohnen können auch fliegen, und es gibt sie für einen geringen Betrag überall zu kaufen. Doch im Gegensatz zu ihnen sagten meine Formeln voraus, dass die zu bewegende Masse bei der erforderlichen Energie fast zu vernachlässigen war. Für den Bleistift reichte eine simple AAA-Batterie aus dem Supermarkt, für mein Gewicht sollte eine Autobatterie reichen.

Lange zögerte ich, den wohl wichtigsten Test durchzuführen. Ob nämlich ein Lebewesen durch die superschnelle Oszillation Schaden nahm. Für mich als Tierfreund eine schwierige, leider nicht zu umgehende Testserie. Nachdem jedoch ein Regenwurm, eine Fliege und eine Schnecke unbeschadet überlebt hatten, wagte ich den Versuch mit einem Säugetier. Auch die Maus fühlte sich Tage nach ihrem Flug durch mein Zimmer so wohl, dass ich sicher war, der Flug sei unschädlich für sie gewesen.

 

In der letzten Woche nun habe ich die Konstruktion angefertigt, der ich mich selber anvertrauen will. Zum ersten Mal wird die Steuerung sich mitbewegen, damit ich wirklich autonom fliegen kann. Für den Fall, dass der Selbstversuch wider alles Erwarten schief gehen sollte, habe ich diese Zeilen für die Nachwelt aufgeschrieben. Die mathematischen und physikalischen Hintergründe (Formeln und Beschreibung der Versuchsreihen) stehen in der dicken, grünen Kladde über meinem Schreibtisch.

Wünscht mir Glück, denn ich starte nun den Selbstversuch.

 

 

Stuttgarter Zeitung vom 05.02.2018

 

Gestern gab es einen Fall von Massenhypnose in der Stuttgarter Innenstadt. Hunderte von Menschen wollen einen jungen Mann gesehen haben, der die Liederhalle in etwa zehn Meter Höhe umrundete. Er soll der Menge zugewinkt und aus vollem Hals gelacht haben. Wie leichtgläubig die Menschen doch sind.

 

© Marcel Porta, 2018

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