Von Monika Hoffmann

Ein Ruck geht durch mich. Ich öffne die Augen und blicke in den Sternenhimmel. Langsam setze ich mich auf und blicke die Straße hinauf, die verlassen vor mir liegt. Sie wird nur spärlich von einem riesigen Blutmond erhellt.

Als die Kälte des Asphalts meine Hose durchdringt, erhebe ich mich ächzend. Wieso liege ich mitten in der Nacht auf der Straße? Noch während ich mich das frage, versuche ich mit meiner Hand die juckende Stelle an meinem Rücken zu erreichen. Da spüre ich etwas hinter mir.

Ich schaue über meine Schulter und sehe etwas aufleuchten.

Ich reibe mir die Augen, doch es ist immer noch da. Erst schwach, dann immer heller. Langsam nimmt es die Form eines Flügels an. Nicht aus Federn, sondern aus Licht. Die Konturen flimmern leicht und scheinen sich zu bewegen. Wie flüssiges Gold. Ich versuche es zu berühren, doch ich greife hindurch, wie durch Nebel.

Verwirrt werfe ich einen Blick über die andere Schulter. Noch ein Flügel.

Träume ich, oder werde ich verrückt?

Ich versuche, die Flügel zu bewegen und sie sind wie ein zweites Paar Arme, die ich genauso einfach steuern kann. So, als wären sie schon immer da gewesen. Ich lasse sie auf und ab schwingen. Erst leicht, dann mit mehr Kraft und plötzlich stehe ich nicht mehr auf dem Boden, ich hebe ab. Schwebe immer höher und höher.

 

Ich kann fliegen!

 

Wo soll ich hin? Ich kann überall hin, die Welt steht mir offen. Ich könnte ans Mittelmeer und nackt baden. Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Doch das Wasser dürfte etwas frisch sein um diese Uhrzeit. Dann vielleicht nach New York. Ich sehe mich schon auf dem Kopf der Freiheitsstatue sitzen. Doch alleine ist es irgendwie auch langweilig. Ob es andere gibt wie mich?

Die Fragen rasen durch meinen Kopf, so schnell, dass ich keine mehr greifen kann, also fliege ich einfach drauf los.

Ich gleite über die Dächer der Stadt, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Der Wind fährt durch meine Haare, gleitet an meinem Körper vorbei, doch ich spüre keinen Widerstand. Es ist, als würde mich der Himmel willkommen heißen.

 

Ich fliege, ohne nachzudenken, und doch werde ich geradezu magisch von einem großen Haus angezogen, das in einer kleinen Seitenstraße liegt. In der oberen Etage brennt Licht. Ich halte vor dem ersten Fenster an und spähe hinein. Da sitzt er. Mein Schwarm. Ich wollte schon immer einmal Mäuschen spielen und wissen, was er außerhalb der Schule so treibt. Doch was ich sehe, passt so gar nicht zu dem, was ich mir in meiner Fantasie ausgemalt habe.

Sein Zimmer ist ein Schlachtfeld. Überall liegen Klamotten, Teller mit Essensresten, leere Flaschen und Chipstüten auf dem Boden. Und mittendrin hockt er mit einen Joystick in der Hand. Er ist am Zocken. Ein Kriegsspiel. Seine schulterlangen Haare sind in der Schule immer perfekt gestylt, jetzt hat er einen Dutt auf dem Kopf und sieht aus wie ein Mädchen. Sein weißes Feinripp-Unterhemd ist steif vor Dreck und auch die ausgebeulte Jogginghose hat offensichtlich schon länger keine Waschmaschine mehr gesehen. Ich will gar nicht wissen, was das für Flecken sind.

Er popelt in der Nase und wischt anschließend den Finger an der Hose ab, ohne den Blick von dem großen Flatscreen an der Wand zu nehmen. Danke, jetzt weiß ich es.

Angewidert starre ich ihn an, will wegsehen, doch es ist wie bei einem Unfall, ich kann nicht. Plötzlich springt er auf und pfeffert den Joystick in die Ecke. Er scheint das Spiel verloren zu haben. So, wie ich meine romantische Vorstellung von ihm.

Ich will mich schon abwenden, als ich auf dem Tisch neben dem durchwühlten Bett eine Bravo liegen sehe. ER ließt die Bravo? Ich pruste los. Das glaubt mir kein Mensch.

Schnell ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und mache ein Bild von der Zeitung und ihm im Hintergrund, wie er vor der Konsole hockt und seine Jogginghose dabei ein tiefes Bauarbeiter-Dekolletee entblößt. Als er aufsteht und sich zu mir dreht, mache ich noch ein Bild.

 

Ein Räuspern hinter mir lässt mich zusammenzucken. Vor Schreck lasse ich fast mein Handy fallen und drehe mich um. Da steht, nein, schwebt ein junger Mann vor mir. Er scheint in meinem Alter zu sein und auch er hat Flügel. Seine sind jedoch silbern, nicht golden, so wie meine. „Wer wird denn hier spannen?“, fragt er streng, doch seine Augen funkeln belustigt. Ich merke, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt und senke beschämt den Blick. Da höre ich ihn lachen.

„Wer bist Du?“ Jetzt sehe ich ihn neugierig an.

„Ich bin Gabriel.“ Er streckt mir seine Hand entgegen, die ich ohne zu zögern ergreife. Seine Hand ist warm, die Haut weich. Der Händedruck ist nicht zu fest und nicht zu schwach, genau richtig. Angenehm. So, wie alles an ihm.

Ich betrachte ihn genauer. Er scheint zu leuchten. Er hat strahlend blaue Augen und einen schillernden, blonden Lockenkopf. Der weiße Anzug, den er trägt, unterstreicht es noch.

„Bist du ein Engel?“, frage ich ihn geradeheraus.

„Wie kommst du denn darauf?“ Er wackelt mit den Flügeln und ich muss lachen.

„Und ich? Bin ich auch ein Engel?“ Sein Blick wird ernst. „Bin ich etwa …“, ich will das Wort nicht aussprechen und flüstere es nur: „tot?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein, du bist ein Engel.“ Er sagt es, als würde das eine das andere ausschließen. „Aber was machst du hier?“

Ich schaue kurz über meine Schulter. „Das frage ich mich allerdings auch.“

Er sieht mich an, als hätte ihn meine Antwort nicht zufriedengestellt. Bevor er noch etwas sagen kann, frage ich schnell: „Kommst Du mit mir ans Meer?“

Jetzt lächelt er wieder, schüttelt jedoch den Kopf.

„Ich kann nicht. Ich habe einen Job.“

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. „Engel haben Jobs?“

Er lacht. „Natürlich, wir alle haben einen Job.“

Ich überlege kurz. „Und was ist mein Job?“

Die Antwort kommt prompt und lässt mich stutzen: „Leben.“

Ich will ihn fragen, was er damit meint, doch da werde ich von ihm weggezogen. Ich kann mich dem Sog nicht entziehen. Es ist, als würde mich ein Riesenstaubsauger zu sich ziehen wollen. Ich versuche, mit den Flügeln dagegen zu schlagen, doch es nützt nichts. Ich entferne mich immer weiter von Gabriel, der noch vor dem Fenster schwebt und mir nachsieht. Er hebt die Hand und winkt, dann ist er verschwunden. Der Sog wird immer stärker, immer schneller. Alles um mich herum verschwimmt, ich kann von der Umgebung nichts mehr erkennen. Mir wird schlecht. Gerade als ich denke, dass es mich zerreißt, schrecke ich hoch.

 

Ich blicke in den wolkenlosen Nachthimmel. Der Mond ist riesig und leuchtet rot, die Straße beleuchtet er dafür aber nur dürftig. Mich überkommt das Gefühl eines Déjà-Vus. Ich stehe auf und reibe mir den Hinterkopf, während ich auf unser Haus zu gehe. Da springt die Türe auf und meine Mutter kommt herausgelaufen. „Oh Gott, Kind, was ist denn passiert?“ Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Als sie bei mir ist, drückt sie mich an sich. „Ich habe das Quietschen von Reifen gehört und als ich aus dem Fenster geschaut habe, da lagst du da mitten auf der Fahrbahn und ich dachte schon …“ Sie spricht nicht weiter. Jetzt erinnere ich mich wieder. Da war der silberfarbene Golf, als ich die Straße überquert habe und dann ist da – nichts mehr. „Bist Du verletzt?“ Sie mustert mich eingehend, doch ich schüttele nur den Kopf.

Wieder in der Schule treffe ich direkt auf meinen Schwarm, doch er beachtet mich gar nicht. Er rempelt mich sogar an, als er an mir vorbeigeht. Ohne sich umzudrehen oder zu entschuldigen. Ich sehe ihm wütend hinterher. Irgendetwas hat sich verändert. Früher hätte ich das noch als eine versteckte Geste der Zuneigung gewertet, doch jetzt sehe ich das anders und kann mir nicht erklären, warum.

„Komm, mach mit deinem Handy ein Selfie, Du hast eine bessere Kamera“, drängelt meine beste Freundin neben mir. Ich verdrehe die Augen, ergebe mich meinem Schicksal aber. Nach drei Versuchen gefällt ihr endlich eins, das ich ihr schicke. Als ich die anderen Bilder gelöscht habe, erscheint auf meinem Handy ein Foto von einem Tisch, auf dem eine Bravo liegt. Dahinter hockt jemand mit so tief sitzender Buxe, dass der halbe Hintern heraus guckt. „Wo kommt das denn her?“, frage ich mich und betrachte es genauer. Es scheint durch ein Fenster geknipst worden zu sein. In der Scheibe spiegeln sich die Umrisse einer Gestalt. Sie scheint zu leuchten. Ich scrolle weiter und halte mir dann erschrocken die Hand vor den Mund. Auf dem nächsten Foto ist ER, mein Traumtyp – ich korrigiere mich sofort: ehemaliger Traumtyp, in Großaufnahme. Mit hochgesteckten Haaren, abgeranztem Unterhemd und versiffter Jogginghose. Ich muss ein Lachen unterdrücken, aber vor allem den Impuls, dass Foto bei Facebook hochzuladen. Nein, so etwas würde ich nie tun.

„Nein“, bestätigt eine Stimme in meinem Kopf, „du bist ein Engel.“

 

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