Von Hannes Wille

Über Nacht hat es geschneit.  Auf unserer Wiese liegt eine dünne Schicht Schnee. Ich denke an Puderzucker auf einem Kuchen. Die Morgendämmerung hat begonnen. Ich mag dieses Zwielicht vor dem beginnenden Tag. Eine Kanne Tee steht auf meinem Schreibtisch. Das Zimmer ist warm. Ich sehe hinaus in unseren Garten.

 

Auf dem steinernen Weg zwischen Haus und Wiese steht das Vogelhaus. Jedes Jahr stellen wir es vor Beginn des Winters auf.
Die Frühstückszeit hat begonnen. Meisen sitzen in den kahlen Büschen am Zaun. Eine nach der anderen fliegt heran, pickt Futter und verschwindet zwischen den Zweigen.
Amseln warten zwischen wintergrünem Salbei und Lavendel. Sie verjagen die Sperlinge, benehmen sich im Holzhaus wie Besitzer.
Rotkehlchen fliegen vorsichtig, fast zögernd zum Futter. Sie sind scheu wie die seltenen Dompfaffen.
Wenn die Elstern kommen, fliehen alle Vögel. Jetzt beginnt ein großes Chaos. Das Vogelfutter wird durchwühlt, landet zum Teil unter dem Vogelhaus.
Das wissen die Tauben. Sie landen auf dem steinernen Weg, picken die verstreuten Körner vom Boden.

 

Vögel können fliegen. Ich erlebe es jeden Tag am Futterhaus. Wir Menschen bleiben fest auf der Erde. Was brauchen wir für einen Flug? Geld für eine Ballonfahrt? Ein Ticket für die Reise mit dem Flugzeug? Einen Fallschirm für das Kribbeln im Bauch beim freien Fall?

 

Fliegen ist ganz einfach. Dazu ist kein Geld nötig. Hilfsmittel wie Flugzeuge braucht man nicht. Ich kenne Menschen, die fliegen bei Musik. Sie hören eine CD und heben ab. Das ist ganz einfach. Sie schließen ihre Augen, betreten die Welt der Musik und lassen sich von ihr tragen.

 

Auch ich kann fliegen. Jeden Tag mache ich das. Je nach Stimmung fliege ich los, manchmal für einige Minuten, manchmal für mehrere Stunden. Dabei brauche ich ein Ziel. Sinnloses Umherfliegen macht mir keine Freude.

 

Nach dem Abflug suche ich mir einen Ort. Von oben sehe ich ihn. Wenn er mir gefällt, fliege ich näher heran. Ganz deutlich präge ich mir die Landschaft ein, sehe Häuser, Felder und Menschen.

 

Ich kann durch Zeiten fliegen. Eine mittelalterliche Burg zu besuchen ist für mich kein Problem. Direkt durch dicke Wände oder geschlossene Fenster fliege ich in die kühlen Räume, höre längst vergangene Gespräche.
Wenn ich möchte, besuche ich Arbeiter beim Bau der ägyptischen Pyramiden oder begleite Beduinen auf ihrer Reise durch die Wüste.
Ich kenne die Seidenstraße und die Wege der Segelschiffe auf ihrer Suche nach neuen Welten.

 

Ländergrenzen und Kontinente durchquere ich in Sekunden. Konstantinopel, Athen, Paris oder Moskau sind für mich leicht erreichbar. Für einen Flug von Oslo nach Singapur brauche ich nicht länger als einen Wimpernschlag.

 

Auch versunkene Welten bereise ich. Der Kontinent Atlantis liegt grün mit seinen Städten und Dörfern unter mir. In Vineta sehe ich die reichen Patrizier. Über dem Vesuv umfliege ich eine Rauchfahne, besuche die Villen und Bäder von Pompeji.

 

In Länder, die es nur in meiner Fantasie gibt, fliege ich besonders gern. Ein Reich, in dem Tiere sprechen ist nichts Ungewöhnliches für mich. Wolkenländer, Märchenwelten aller Art und Planeten voller fremdem Zauber liegen in ihrer vollen Schönheit unter mir.

 

Meine Lieblingsreisen führen mich in Märchenländer. Die Welten von Hans-Christian Andersen und Wilhelm Hauff sind mir vertraut. Ich sehe zu, wenn die Brüder Grimm ihre Geschichten aufschreiben.

 

Was mir auf meinen Reisen begegnet, merke ich mir. Ich kann alle Orte beschreiben, kenne das Leben vieler Menschen, nehme an vielen Abenteuern teil. Auf diese Weise sammle ich Eindrücke, die ich mit in mein Arbeitszimmer nehme. Dort notiere ich alles, was ich unterwegs erlebe.

 

Besonders gern schreibe ich Geschichten mit einem guten Ende auf. In ihnen finde ich die Freude am Leben. Schlechte Geschichten gibt es im Alltag unserer Welt genug.

 

Es klingelt. Ich sehe zur Uhr. Das ist Julius. Ich stoße mich an der Schreibtischplatte ab, rolle zur Tür. Er umarmt mich, küsst mich, legt mir einige Briefe auf den Schoß. Ich lese die Absender.

 

Zwei Rechnungen sind dabei, eine Bewilligung von der Krankenkasse, ein Brief von Anne. Ich öffne ihn neugierig, lese schnell und freue mich. Ihr Verlag möchte einen Sammelband meiner Geschichten bringen und schickt einen Vertragsentwurf.

 

Wir tanzen. Julius auf seinen Beinen, ich auf den Rädern meines Rollstuhles. Das ist nicht schwer. Es sieht auch nicht komisch aus, wirkt nicht peinlich.  Es ist ein wenig wie fliegen.