Von Barbara Hennermann

Rumpelnd rattern die Räder des Ochsenkarrens über das Kopfsteinpflaster.

Der Bub drückt sich in den Schatten des Ulmer Münsters, sucht Schutz an dem erhabenen Mauerwerk.

Sein Vater ist´s, der in weiße Tücher gehüllt auf dem Leichenkarren liegt und hinausgebracht wird zum Gottesacker.

Sein Vater, der Amtsknecht Albrecht Ludwig Berblinger, der seinem Sohn nichts hinterlässt als seinen Namen und die Leidenschaft zu allem Mechanischen.

Dreizehn ist der Bub und sein Schicksal im Waisenhaus vorgezeichnet, denn die Mutter ist nicht im Stande, nun alle Kinder allein groß zu ziehen.

Man schreibt das Jahr 1783 …

 

„Albrecht, du musst das verstehen, eine Uhrmacherlehre können wir nicht bezahlen. Mach die Schneiderlehre, dann hast du dein Auskommen.“

Der Waisenvater blickt den Jungen an, der mit geröteten Wangen vor ihm steht. Wie gern würde Albrecht das Uhrmacherhandwerk lernen – Uhrwerke zusammensetzen, tüfteln, neue Mechanik ersinnen. So oft hat er mit dem Vater gemeinsam in Gedanken der Welt Erfindungen geschenkt – gibt es doch noch so viel zu verbessern …

Es scheint alles vorbei. Er muss sich fügen.

 

Seine Unabhängigkeit ist ihm wichtig.

Schon mit 21 Jahren ist er Schneidermeister.

Es stimmt, jetzt hat er sein Auskommen. Die Arbeit ernährt ihn. Aber sie füllt ihn nicht aus.

Sein Geist darbt. Seine Seele brennt.

Nach vollbrachtem Tagwerk sitzt er  Abend für Abend vor seiner Werkstatt.  Er blickt zum Himmel, verfolgt den Flug der Vögel und wünscht sich nichts mehr, als mit ihnen durch die Lüfte zu segeln.

Die Leute nennen ihn einen Eigenbrötler, einen Spinner, weil er sich nie am Gemeinschaftsleben in der Stadt beteiligt. Nur Elias Schlumperger hält unerschütterlich zu ihm.

„Ihr wisst doch gar nicht, was der Albrecht für besondere Gaben hat! Schaut euch bloß an, wie er mir geholfen hat!“

In der Tat baute Albrecht dem Stadtsoldaten Elias, als ein Böller ihm den Fuß weggerissen hatte, eine „künstliche Fußmaschine“, die nicht nur wie ein Bein aussieht, sondern sich auch in den Gelenken bewegt.

„Ohne den Albrecht wäre ich ein Krüppel, der auf Stelzen laufen müsste! Eine Unverschämtheit ist´s, dass der König  ihn die Erfindung nicht hat autorisieren lassen.“

Elias läuft flugs eine Runde um den Platz, um Albrechts Erfindungsgeist vorzuführen. Doch die Leute lachen nur.

 

„Albrecht, du musst deine Talente zum Geldverdienen nützen!“

Elias stumpt den Freund an. Aber Albrecht schüttelt den Kopf.

„Schau, Elias, wie die Vögel fliegen! Unbeschwert sind sie und frei. DAS ist es, was ich auch gern könnte.“

Er seufzt.

„Und ich sag dir was, Elias – irgendwann schaffe ich das! Ich muss nur noch genauer studieren, wie sie das machen.“

 

Es sind die Eulen, die ihm am lehrreichsten erscheinen.

Wie sie die Flügel ausbreiten, schwerelos treiben, fast ohne Flügelschlag.

Immer besessener wird er von seinem Vorhaben.

Tag und Nacht beschäftigt er sich mit dem Fliegen, studiert den Vogelflug und beobachtet den Ablauf vom Start bis zur Landung.

Er trägt seine Beobachtungen, sein Wissen zusammen und baut schließlich  einen Hängegleiter. Der würde ihm den Gleitflug ermöglichen, so wie die Vogelschwingen den Vögeln.

Was er über sein Fluggerät hinaus noch braucht ist ein erhabener Ort zum Starten und den richtigen Wind. Denn zweifellos ist es die Thermik, der Aufwind, die den Vogel im Flug trägt.

Jeden Kreuzer, den er verdient, steckt er in sein Projekt.

Die Leute schimpfen, lästern und spotten über ihn.

Man belastet ihn mit hohen Geldstrafen für sein Werken außerhalb der Zunft. Denn unerlaubt ist, was außerhalb des erlernten Handwerks betrieben wird.

Doch unbeirrbar macht er weiter.

Jahrelang.

 

Elias versteht den Freund schon lange nicht mehr.

„Komm doch zur Vernunft, Albrecht! Selbst wenn dir der Flug gelänge, was bringt dir das ein? Du bist nun einmal kein Vogel, den der Himmel ernährt!“

Albrecht lacht.

„Ja, da hast du recht, mein Freund. Denn wenn ich auch bald fliegen werde wie einer, singen kann ich nicht lernen. Komm mit, ich zeig dir was!“

Er packt seinen Gleiter, der tatsächlich ausgebreiteten Vogelschwingen gleicht. Mit Staunen beobachtet Elias, wie  Albrecht die Arme in die dafür vorgesehenen Halterungen schiebt. Er steigt in den Weinbergen auf eine Hütte, prüft mit einem Büschel trockenen Heu den Wind und … springt. Elias hält den Atem an, denn gleich würde  … Doch Albrecht stürzt nicht ab. Der Aufwind hebt seine Schwingen hoch und treibt ihn bergabwärts, bis er mit den Füßen wieder sanft den Boden berührt.

Albrechts Stimme überschlägt sich vor Stolz, als er dem Freund triumphierend zuruft:

„Hast du gesehen? Es funktioniert! Ich kann es! Fliegen!“

Beide Männer lachen und schreien vor Freude durcheinander.

 

In der Stadt bleibt nicht unbemerkt, was sich da in den Weinbergen abspielt.

„Wir werden den Berblinger verpflichten, sein Fluggerät dem König vorzuführen.  Dann kann er sich endlich mal nützlich machen. Und wir haben ein Programm, wenn der König die Stadt besucht.“

Die Ulmer Ratsherren sind sich überraschend einig.

Friedrich I. wird vorab über das Ereignis informiert. Er zeigt sich interessiert und spendet sogar eine ansehnliche Summe für das Flugprojekt.

Albrecht ist unausweichlich in der Pflicht …

Er plant, berechnet und verbessert, was noch möglich ist.

Am 4. Juni 1811 will er seine Flugkünste vorführen.

Doch weder Absprungtag noch Absprungort werden ihm von den Ratsherren genehmigt.

Das Ereignis wird auf den 30. Mai festgelegt.

 

Albrecht tritt mit seinen Schwingen bei der direkt an der Donau gelegenen Adlerbastei an. Er klettert nach oben, streift seine Flügel über und spürt … nichts. Es ist kein Wind da, der ihm im wahrsten Sinn des Wortes „unter die Arme greifen“ würde. Schlapp hängen die Schwingen neben seinem Körper herab. Heute ist wahrlich kein Tag zum Fliegen …

Er steigt wieder hinab, die Menge johlt und der König zeigt sich unmutig.

Doch Albrecht weiß, er muss seine Vorführung verschieben, denn ohne Wind kein Flug. Er hofft, die Windverhältnisse würden am nächsten Tag besser sein und er würde dann die „Fliegekraft“ unter seinen Flügeln wieder spüren können.

So tritt er tags darauf zum erneuten Flugversuch an.

 

Er erklimmt die Mauer der Adlerbastei und sieht hinunter auf die gaffende und feixende Menge. Die hohen Herrschaften sitzen geschützt vor der Sonne in einem extra aufgestellten Pavillon. Alle blicken zu ihm herauf und erwarten den Absprung.

Albrechts Hände sind schweißnass. Doch nicht wegen der Sonne, die vom Nachmittagshimmel brennt. Es ist wegen der Aufwinde …

Sie sind nicht vorhanden. Die Luft um ihn herum flirrt heiß und unbewegt.

Er weiß, auch heute ist kein Tag zum Fliegen.

Doch die Menge schreit und tobt. Der Pöbel will seine Sensation und der Ruf wird lauter und lauter, er solle doch endlich zeigen, wie er fliegen könne.

 

Er tut, als richte er noch etwas an den Flügeln.

Mit Kniebeugen und anderen Leibesübungen signalisiert er den Zuschauern, dass er sich auf den Flug vorbereitet …

So versucht Albrecht, Zeit zu gewinnen.

„Herr im Himmel, schick mir deinen Wind!“, betet er im Stillen.

Doch sein Gebet wird nicht erhört.

Es bleibt windstill.

Stattdessen kommt ein Polizeidiener zu ihm auf die Mauer gestiegen.

„Geht´s endlich los?“

Er versetzt dem Flugpionier einen derben Stoß in den Rücken.

 

Albrecht Ludwig Berblinger kommt ins Straucheln.

Verzweifelt versucht er sich abzufangen. Doch es ist ihm unmöglich, die notwendige Justierung seines Körpers zu den Schwingen vorzunehmen. Wie ein Stein stürzt er hinab und in den Fluss.

Zum Glück stehen etliche Fischer bereit, die ihn mitsamt seinem Flugapparat aus dem Wasser ziehen.

Die Menge johlt und kreischt, sie hat ihren Spaß gehabt.

Ein Mensch, der fliegen kann?

Gotteslästerlich. Das hat der Berblinger nun davon.

Doch ist es sicher besser, nach diesem Beweis seiner Vermessenheit und der sichtbaren Strafe Gottes, ihn in Zukunft nicht mehr in seiner Schneiderwerkstatt aufzusuchen.

So findet das Volk zurück in seinen gewohnten Alltag, zufrieden mit sich und seinen Vorurteilen.

 

Albrecht jedoch kann im Leben nicht mehr Fuß fassen.

Der Traum vom Fliegen begleitet ihn tagtäglich.

Und ebenso sein Scheitern.

Erst auf dem Sterbebett, als ihm sein Vater aus dem Jenseits die Hand reicht, verspürt er es wieder …. diese Leichtigkeit … das Schweben … das Losgelöstsein … das neidlose Glück.

 

Unsterblich ist sein hartnäckiges Streben geworden, sein Lebenstraum, und eingegangen ist er in die Geschichte als „der Schneider von Ulm“.

 

Quelle: Wikipedia

 

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