Von Andreas Schröter

Es war einmal ein Mann namens Klaus, der 41 Jahre, fünf Monate und sieben Tage als Schrankenwärter seinen Dienst tat. Klaus war unglaublich pedantisch, was der fehlerfreien Ausübung seines Berufs und der Sicherheit an seinem Bahnübergang sehr entgegenkam. Er ließ die Schranken exakt zwei Minuten und elf Sekunden, bevor der Zug kam, herunter und genau 30 Sekunden, nachdem der letzte Waggon durch war, wieder hoch. Wenn man das Jahr auf grob 200 Arbeitstage ansetzte und mit einem Durchschnitt von 22 Zügen am Tag rechnete, dann hatte er jeden der beiden Vorgänge in seinem Arbeitsleben über 182.600 Mal ausgeführt. Nie gab es dabei auch nur den Hauch eines Fehlers. Gut, es kam vor, dass der Zug zehn Sekunden später als angekündigt eintraf. Und das ärgerte Klaus dann sehr. Doch dafür konnte er schließlich nichts.

Leider sprach er über eine solche Art von Ärger auch in den extrem seltenen Rendezvous‘, die er mit Frauen hatte. Deswegen blieb Klaus zeitlebens allein und war sehr einsam. In der Regel saß er abends bei einem Kräutertee vor dem Fernseher und stoppte die Zeit, mit der die Verantwortlichen in den Fernsehstudios Live-Sendungen überzogen. Am Wochenende schrieb er Beschwerdebriefe an die Sender, in denen er alle überzogenen Sendungen mit Minutenangaben fein säuberlich auflistete. Eine Antwort erhielt er nie.

Klaus war schon als Kind so, weswegen niemand in seiner Familie etwas mit ihm anfangen konnte. Sogar seine Mutter leistete sich manchmal einen üblen Scherz mit ihm. So sagte sie, wenn er über Schlaflosigkeit klagte: „Zähl einfach 521 Schafe“ – nie „zähl einfach die Schäfchen“, wie es eine liebevollere Mutter wohl getan hätte, denn sie wusste, dass Klaus erst schlafen würde, wenn er im Geiste auch wirklich bei der Nummer 521 angekommen war. Das Gekichere seiner Eltern und seiner älteren Schwester im Raum nebenan überhörte er.

Für seinen letzten Tag als Schrankenwärter hatte sich Klaus einen Anzug gekauft, denn er nahm fest an, dass der Vorsteher mit einem Strauß Blumen und einem Belobigungsschreiben kommen würde, um ihn zu verabschieden. Doch der Vorsteher kam nicht – mit der Begründung interner Verpflichtungen. Gerüchteweise bestanden diese Verpflichtungen in einem Besuch des Ausstands, den die Vierwochen-Praktikantin an diesem Tag in der Bahn-Zentrale feierte. Jeder wusste, dass sie extrem gut gebaut, der Vorsteher nur schlappe 22 Jahre älter war und eine unglückliche Ehe hatte.

Oder gab es doch einen anderen Grund für sein Fernbleiben bei Klaus‘ Abschied? Vielleicht jenen äußerst unangenehmen Vorfall vier Wochen vorher? Klaus‘ Schwester Renate war unerwartet gestorben, und die wenigen Verwandten, die es noch gab – eine Tochter von Renate und zwei entfernte Cousins – drängten Klaus, ebenfalls zur Beerdigung zu kommen. „Ich kann nicht“ sagte er lapidar und ohne besondere Trauer, „ich muss arbeiten. Unsere Dienstpläne werden einen Monat im Voraus gemacht. So spontan kann ich nichts ändern.“ Das ließen die Verwandten natürlich nicht gelten. Sie wirkten so lange auf Klaus ein, bis er zum Telefon griff und den von ihm gefürchteten Anruf beim Vorsteher hinter sich brachte. Der Vorsteher sagte mit gespielt tadelnder Stimme: „Klaus, das hätte ich nie von dir gedacht, dass du uns einmal derart im Stich lassen würdest.“ Kurz bevor die Verbindung beendet wurde, glaubte er vielstimmiges Lachen im Büro des Vorstehers zu hören. Hatte er das Gespräch etwa laut gestellt, und die Kollegen konnten mithören?

Klaus‘ Vertreter als Schrankenwärter während der Beerdigung war noch in der Probezeit. Seine Vorgesetzten waren nicht sonderlich zufrieden mit ihm. Es war im Gespräch, ihn nach der Probezeit nicht weiterzubeschäftigen. Und tatsächlich vergaß er den RE1, der täglich um 16:23 Uhr den Bahnübergang passierte, weil er gerade Fortnite auf dem Handy spielte. Die Schranken waren oben, als der Zug nur noch wenige Meter entfernt war. In diesem Moment näherte sich eine junge Frau mit Kinderwagen den Gleisen. Ihre Konzentration war auf das Kind gerichtet, das sich zu diesem unglückseligen Zeitpunkt sehr unruhig gebärdete. Der Lokführer des herannahenden Zuges bestätigte ein trommelfellzerfetzendes Signal, und der jungen Frau gelang es in allerletzter Sekunde, sich selbst und ihr Kind in Sicherheit zu bringen. Doch der Skandal in dem kleinen Städtchen war da. Am nächsten Tag stand in der Zeitung „Schranken oben: Junge Mutter mit Kind fast von Zug überrollt“ Und darunter: „Wo war der Schrankenwärter?“

Klaus‘ Entsetzen hätte kaum schlimmer sein können. Immer und immer wieder fragte er den jetzt kleinlauteren Vorsteher, wie das habe passieren können und wieso dieser unfähige Kollege ihn, den unfehlbaren Klaus, habe vertreten dürfen. Klaus schrieb natürlich umgehend an die Lokalzeitung, dass nicht er es gewesen sei, der stadtbekannte und unfehlbare Schrankenwärter dieses Bahnübergangs, der an diesem Tag Dienst gehabt hatte, sondern eine Vertretung. Im Gegensatz zu den Fernsehsendern schrieb die Zeitung zurück: „Vielen Dank für Ihren Brief. Aber da wir in unserem Bericht keinen Schrankenwärter-Namen genannt haben, sehen wir keine Veranlassung für eine weitere Berichterstattung. Außerdem entspricht es nicht den Leitlinien unseres Hauses, Menschen an den Pranger zu stellen. Auch nicht ihren unglücklichen jungen Kollegen.“ Klaus schrieb noch insgesamt 15 Briefe an die Zeitung und versuchte auch mehrmals, den Lokalchef telefonisch zu erreichen. Erfolg hatte er keinen. Sein gesamtes berufliches Werk war für immer in den Dreck gezogen, so dachte er. Wenn er künftig kundtun würde, dass er an jenem Bahnübergang Dienst getan hatte, würde doch unweigerlich bis in alle Ewigkeit die Gegenfrage kommen: Ach, über den Bahnübergang habe ich etwas in der Zeitung gelesen. Wäre da nicht eine junge Frau mit Kind fast gestorben? Klaus vergaß, dass es niemanden gab, mit dem er dieses Gespräch hätte führen können, schließlich war er mutterseelenallein.

Am Tag nach seinem Abschied zog Klaus erneut seinen neuen Anzug an. Um 16:23 Uhr, als sich der RE1 näherte, kletterte er ein Stück abseits des Bahnübergangs, an dem er so lange Dienst getan hatte, über den Begrenzungszaun zu den Gleisen. Als der Zug da war, machte er einen Schritt nach vorne.