Von Eva Fischer

Plötzlich sind sie wieder da. Hoffmanns Lügengeschichten der Kindheit. Der wohlbeleibte Junge schaut mich wütend an. Sein Bild mit seiner Geschichte ist an die Wand einer Ausstellung genagelt. In seinem blauen Kleid und seinen roten Stiefeln sieht er albern aus. Ein Kleid für einen Jungen? Das fand ich schon als Kind suspekt. Die Mode von 1844 war wohl eine andere als 2020.

Er isst seine Suppe nicht und wird schlank. Das war für mich die Botschaft. Also, aß ich auch meine Suppe nicht. Bis heute! Und was passierte? Nichts! Natürlich hätte ich nach dem zweiten Tag Stopp gemacht. Wer ist schon so blöd und will sterben! Am vierten Tag?!

Ach, Suppenkaspar, du Antiheld der Vergangenheit, was weißt du schon von der Gegenwart!

 

Twiggy war mein Vorbild. Ich wollte so dünn sein wie sie. Also, machte ich zahlreiche Diäten. Mein Jojo tanzte Cha-Cha-Cha. Rauf, runter, aber immer ein bisschen mehr rauf am Ende. Aus dem Tante-Emma- Laden wurde ein Supermarkt. Man musste nicht mehr anstehen und warten, bis man bedient wurde Nein, man durfte sich nehmen, so viel man wollte und die Auswahl explodierte. Schokolade: Vollmilch, halbbitter, bitter. Jeder hat seine dunkle Seite. Mich lockten eher die Chips. Die Erdnusswürmer kringelten sich in mein süchtiges Gehirn. 

Ertränkt in der ach so süßen Cola brachten sie garantiert ein Kilo mehr am nächsten Tag. Sünden der Unchristen, für die es kein Erbarmen gibt. 

 

Lieber Wasser und einen Apfel. Und niemals Suppe!!! „Der Tag ist lang“, knurrt der Magen. Es gilt, ihn zu überlisten mit viel Flüssigkeit. Wasser ertränkt die Sehnsucht nach Pommes mit Mayo, nach Pizza, nach Schnitzel, nach Apfelstrudel, aber bitte mit Sahne! Wasser hat leider nur begrenzte Haltbarkeit. Dann bricht er wieder, der Damm. Es wird gestopft, als gäbe es kein Morgen. Gibt es auch nicht. Morgen ist wieder Schluss. Spätestens übermorgen. Twiggy guckt mahnend vom Kühlschrank. Der Minirock ist nicht für Dicke! Ach, wären die Verlockungen nur nicht so zahlreich!

 

Später

Mit meiner Freundin sitze ich in der Sauna. Wir hoffen, wir werden das Fett genauso ausschwitzen wie die Weihnachtsgans im Backofen. Die Kochkünstler wandern durch die heißen Schwaden und durch unser Gehirn. Essen im Konjunktiv. Der macht nicht dick. Die Rezepte von Bocuse und Co. nehmen wir in den Mund, aber nicht in den Magen. Das Böse ist in sicherer Entfernung: der Kühlschrank.

„Sie reden nur vom Essen. Sind Sie auf Diät?“, fragt die Mitschwitzende. Ertappt! 

Nachts träumen wir von den verbotenen Leckereien, lecken uns im Schlaf die Mäulchen. Morgens springen wir zuerst auf die Waage. Der Zeiger muss nach links wandern, sonst ist der Tag im A…

 

Und wenn wir dennoch schwach werden, wenn wir der Versuchung nicht widerstehen können, wenn die Gier uns am Nacken packt wie ein Raubtier…

Dann stecken wir einen Finger in seinen Rachen. Ist nicht schön, aber Strafe muss sein.

 

Da geht noch was. Mehr Output als Input. Zirkeltraining, Laufen, auf dem Boden kriechen. Egal! Hauptsache Kalorien verbrauchen. 

Oder die Wunderpille schlucken, die uns den verdammten Appetit hemmt. Sie macht uns zwar ganz rappelig, föhnt unser Gehirn leer. Wozu brauchen wir das noch, wenn der Minirock endlich passt in Größe 34. 

Wir sind zu zweit. Nein, wir sind schon ganz viele. So ein Virus ist gesellig.

 

Später

Urlaub. Sonne. Abendessen mit Blick auf das Meer. 

Sie ist keine fünfzehn mehr. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter. Etabliert sozusagen. Der Minirock ist aus der Mode gekommen. Zeit sich zurückzulehnen und das pralle Essensangebot zu genießen!

Das Hotel bietet eine Molkekur an. Würde ihr nicht eine Fastenkur guttun? Sie quetscht prüfend ihr Schenkelfleisch zwischen den spitzen Fingern. Zu fett!!! Ekelig!

Erinnerungen werden wach. Das dornige Gestrüpp des Hungers. Wer sich einmal durchgeschlängelt hat, lebt im Paradies der Seligen.

 

Sie liegt auf der Terrasse in der Sonne, die anderen sitzen im Speisesaal. Sie hat zweifelsohne die bessere Wahl getroffen, trinkt das Glas mit der trüben Flüssigkeit neben ihr leer und schaut zu den Wolken auf.  Sie beide auf Du und Du, so federleicht.

 

Nach drei Tagen steigt sie hinab in den Sündenpfuhl, in den Speisesaal. Sie will sich die Schweinderln aus der Nähe ansehen, wie sie vor ihren Trögen sitzen und schmatzen. Sie beäugt interessiert das Essen auf ihren Tellern.

„Liebling, möchtest du nicht mal probieren?“

Sie schüttelt den Kopf und lächelt.

Die Pasteten haben ihre Konsistenz verloren, das Ragout seinen verführerischen Geruch, das Baiser versinkt im Vanillemeer. Es sind Bilder aus Tausendundeiner Nacht, mehr nicht!

Wie konnte sie je darauf reinfallen.

 

„Frau Schmale, Sie müssen etwas essen! Denken Sie an Ihre Familie! Die braucht Sie. Wenn Sie nicht essen, werden Sie sterben. Das wollen Sie doch nicht. Sie sind doch noch so jung.“

 

Sie kaut an der Banane, die man ihr hingeschoben hat. Ein Millimeter, mehr nicht. Sie wird nichts herunterschlucken. Irgendwann wird der Doc sie gehen lassen müssen und dann kann sie endlich alles auskotzen.

 

1840

„Konrad, nun iss doch endlich etwas von der Suppe! Schau, ich habe sie extra für dich gekocht. Du wirst ja jeden Tag weniger. Was ist nur mit dir los?“

 

Die Würmer in seinem Darm öffnen ihre hungrigen Mäuler. Sie gedeihen prächtig und schnappen Konrad alles weg. Er spürt den Schmerz ihrer Zähne in seinen Eingeweiden.

Konrad schiebt die Suppe weg.

„Lass gut sein, Mutter! Ich kann deine Suppe nicht essen.“

 

2020

„Die suchen doch nur das Haar in der Suppe. Jetzt soll ich auf meine geliebten Avocados verzichten. Dabei ist Guacamole so lecker und gesund! Da zeigen sie einem im Fernsehen abgeholzte Wälder, vertrocknete Landschaften. Was hat das mit meiner Avocado zu tun? 

Heiße ich Greta?“