Von Miklos Muhi

1.

 

»Hallo Frau Beller. Ich werde jetzt den Tisch abräumen.«

»Beeil dich, Klaus! Bald kommt mein Mann nach Hause«, antwortete die alte Dame aus dem Sessel, ohne Fritz auch nur eines Blickes zu würdigen.

 

Er nahm seine FFP2-Maske ab. Er hatte sich freiwillig für den Einsatz in der Quarantäne-Station des Altenheims gemeldet und kannte alle seine Patientinnen und Patienten gut. So wusste er, dass Frau Beller ihn mit ihrem ehemaligen Liebhaber verwechselte, denn sie schwebte auf einer Wolke aus falsch gefalteten Beta-Amyloid-Peptiden in der Zeit von vor 30 Jahren.

 

Sie schaute sich den ganzen Tag lang alte Filme auf dem Nostalgie-Kanal des Heimes an und aß nur wenig. Nach den Mahlzeiten war sie vom Fernseher nicht wegzukriegen.

 

Fritz setzte sich zum Tisch und aß alles auf, was Frau Beller übrig gelassen hatte. Er benutze das Geschirr der Patientin. Nachdem er alles vertilgt hatte, trank er das Wasser aus dem Glas vom Tisch, stand auf, atmete tief durch und sammelte das Geschirr ein. Bevor er die Tür öffnete, setzte er seine Maske wieder auf.

 

»Auf Wiedersehen, Frau Beller«, sagte Fritz.

»Schneller, sonst findet dich Anton hier und es wird Ärger geben«, antwortete sie, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden.

 

Vor der Tür herrschte geschäftiges Treiben.

»Der Beller geht es ausgezeichnet, wie ich sehe. Sie hat keine Symptome, aber gehörig Appetit neuerdings«, meinte Claudia, die Schichtleiterin.

 

2.

 

»Fritz Haumann, Ihnen wird Einbruch in Tateinheit mit Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Verstoß gegen das BtMG vorgeworfen. Haben Sie das verstanden?«

Im Gerichtssaal herrschte nach der Frage der Richterin Stille. Die Kamerateams vor der Tür konnte man kaum hören. Die Öffentlichkeit war von den Verhandlungen ausgeschlossen. Nur der Gerichtsschreiber, der Angeklagte mit seinem Pflichtverteidiger, der Staatsanwalt und der Anwalt der Nebenklage waren anwesend. Alle trugen FFP2-Masken, diesmal auch Fritz.

»Ja«, antwortete er.

 

Die letzten Wochen waren wie im Flug vergangen. Nachdem Fritz sein positives Testergebnis von einem privaten Anbieter, der viel Wert auf Diskretion legte, bekommen hatte, fing er mit den Vorbereitungen an.

 

Zuerst wartete er einige Tage auf Symptome. Er hustete ab und zu, aber als Fieber konnte man die 37,5 Grade nicht bezeichnen. Für eine Krankschreibung reichte es aber und das war genau das, was er wollte.

 

»Ich werde jetzt die Anklageschrift verlesen«, kündete die Richterin an. Sie nahm einen Aktenordner in die Hand und öffnete ihn. »Sie werden beschuldigt, in der Nacht vom 15. zum 16. Dezember beim Nebenkläger Etzel Helleman eingebrochen zu haben. Sie werden weiterhin beschuldigt, allen Personen, die sich im Haus befanden und schliefen, ein starkes Betäubungsmittel gespritzt, sie gefesselt und dann angehustet zu haben, wohl wissend, dass Sie mit COVID-19 infiziert waren. Sie hätten laut Anklage alle infiziert. Zum Glück hat keiner ernsthaften Symptome entwickelt. Was sagen Sie dazu?«

»Ich habe das nicht gewollt«, antwortete Fritz.

»Geehrtes Gericht! Mein Mandant zeigt doch Reue und ist bereit, seinen Anteil zur Wahrheitsfindung zu leisten. Ich bitte das geehrte Gericht, das zu berücksichtigen«, warf sein Pflichtverteidiger ein.

»Herr Anwalt«, sagte Fritz, »halten Sie endlich die Klappe!«

»Ich muss doch sehr bitten«, sagte der Pflichtverteidiger, noch bevor der richterliche Hammer zuschlug.

»Herr Haumann, ich warne Sie! Eine solche Wortwahl wird nächstes Mal Konsequenzen haben. Haben Sie das verstanden?«

»Jawohl, Frau Richterin. Die beanstandete Wortwahl richtete sich an meinen Rechtsvertreter. Er hat keine Ahnung, was ich sagen will. Kann ich das erläutern, ohne dass er dazwischenfunkt?«

»Sicherlich, Herr Haumann, das ist Ihr gutes Recht. Der Kollege wird das bestimmt respektieren.«

»Das wäre mal was ganz Neues«, sagte Fritz, während sein Anwalt seufzte.

»Was möchten Sie uns sagen, Herr Haumann?«

»Dass ich das nicht gewollt habe.«

»Was haben Sie denn nicht gewollt? Bei den Hellemans einzubrechen und alle zu infizieren? Anhand der Anklageschrift entsteht der Eindruck, dass Sie diese Tat von langer Hand geplant haben. Affekt sieht anders aus.«

»Das meine ich nicht. Die haben doch so gut wie keine Symptome entwickelt, oder?«

»Noch nicht«, warf der Anwalt der Nebenklage ein.

»Warten Sie, bis Sie dran sind, Kollege«, sagte die Richterin und wandte sich Fritz zu. »Reden Sie bitte weiter.«

»Etzel Helleman ist einer dieser gemeingefährlichen, egoistischen Spinner, die den Menschen weismachen wollen, dass es so etwas wie COVID-19 gar nicht gäbe. Er behauptet immer wieder öffentlich, dass die Regierung das Ganze nur erfunden hätte, um eine Diktatur zu schaffen.«

»Wir werden Sie wegen Beleidigung und Verleumdung verklagen!«, rief der Anwalt der Nebenklage.

»Das können Sie machen, wenn Sie dran sind. Bis dahin warten Sie einfach!«, sagte Fritz kühl. Der Anwalt schwieg.

»Ich gebe zu, die Sedativa im Darknet gekauft, ins Haus eingebrochen und alle infiziert zu haben. Aber das habe ich nicht gewollt.«

»Ich kann Ihre Absicht, reinen Tisch zu machen, schätzen, aber ich verstehe immer noch nicht genau, was Sie nicht gewollt haben.«

»Ich arbeite als Pfleger in einem Altenheim. Seit diese Pandemie losgegangen ist, ist unsere harte Arbeit noch härter geworden. Ich sehe tagtäglich, wie Menschen weggerafft werden, wie sie elend und langsam ersticken, weil ihre Lungen sich mit Wasser füllen. Wir haben alle mögliche Schutzmaßnahmen ergriffen, alles vergeblich, weil solche Idioten wie der Helleman und seine dumme Gefolgschaft unsere Anstrengungen torpedieren. So müssen wir immer wieder Familien mitteilen, dass ihre Angehörige, die sie seit Monaten nicht besuchen durften, im wahrsten Sinne des Wortes verreckt sind. Und dann sieht man diese dämlichen Spinner im Fernseher. Sie behaupten von sich Denker zu sein, doch skandieren sie wirren Schwachsinn. Sie stürmen den Bundestag und labern davon, dass Putin oder Trump oder sonst noch so ein Arschloch in Berlin wäre und dass russische und amerikanische Truppen zu ihrer Hilfe eilten. Ich habe nicht gewollt, dass alle fast ohne Symptome durchkommen. Die ganze verdammte Bande elendig verrecken zu sehen, das habe ich gewollt, und ich stehe dazu. Jetzt können Sie mich in den Bau schicken, wenn Sie wollen. Helleman und seine dämliche Bande werden keinen Cent von mir sehen. Die haben vergeblich diesen Affen auf mich gehetzt«, sagte Fritz und zeigte auf den Anwalt der Nebenklage.

 

Nur das einsickernde Murmeln der Journalisten trübte die Stille im Saal. Es dauerte lange, bis die Richterin wieder zum Hammer griff, um die Sitzung zu vertagen.

 

Version 2