Von Peter Burkhard

Niemand wurde der Krähe gewahr, die in der Frühe des Tages laut krächzend den Schienen entlang hüpfte, um Jung und Alt die Todesnachricht zu überbringen.

 

* * *

 

Zehn Jahre nach seiner Pensionierung verlor Jean-Luc Seliger alles, was ihm lieb gewesen war, seine Frau, den Glauben und die Zuversicht. Nichts hatte Judith ihm nach ihrem Weggang gelassen, fünf Jahrzehnte gemeinsamen Glücks einfach weggeworfen, für einen, der zwanzig Lenze jünger war als sie. In den Jahren danach gelang es Jean-Luc mit viel Mühe, sich schrittweise ins Leben zurückzukämpfen, bis zu dem Tag, als eine verfluchte virulente Infektionskrankheit die Menschheit befiel und seinem Schicksal eine erneute, diesmal endgültige Wendung gab.

„Jean-Luc“, dachte er bei sich, „siehst du nicht, wie sich dein Leben zum Schlechten verändert hat? Vormals war es ein quirliger Bach, heute kommt es bloss noch als eingeengtes, kraftloses Wässerchen daher, von einer Quelle, die langsam, aber sicher versiegt. Was nützt es dir, wenn du das Glas der Lebensfreude schnel­ler leer getrunken hast, als ein immer schwächer werdendes Rinn­sal es zu füllen vermag? Was hilft es, wenn du dieses Glas allein in der Hand hältst, es fragend betrachtest und den Inhalt mit niemandem mehr teilen kannst?“

Von solchem Zweifel befallen stellte er sich laut die Frage: „Alter Mann, ist es wirklich das, was du willst?“

„Nein“, war schliesslich seine klare Antwort, „das will ich nicht.“

* * *

In der klirrend kalten Luft des Wintermorgens sass Jean-Luc aufrecht auf einer Sitzbank am Seeufer. Sein Oberkörper war nur mit einem weissen, langärmligen Hemd bekleidet, aus dessen Kragen eine dunkelrote Krawatte über die Brust fiel. Neben ihm auf der Bank lag eine sorgfältig zusammengelegte, beige Winterjacke und darauf eine kleine, fast leere Schnapsflasche. In der Brusttasche des Hemdes steckte ein neueres Modell eines iPods und aus seinen behaarten Ohren ragten kaum sichtbar zwei winzige kabellose Kopfhörer. Mit der rechten, bläulich angelaufenen Hand umklammerte er eine unverkennbar teure Kamera.

Wenige Meter nebenan, am Fusse einer alten Platane, balgten sich zwei feiste Ratten um einige Brot­krümel und in den Ästen über ihnen blinzelten die Tauben träge in den noch jungen Tag. Es herrschte eine friedliche, geradezu mystische Stimmung über dem sonst menschenleeren Seeplatz.

Zur selben Stunde, kurz nach Tagesanbruch verliess Mike das nahe gelegene Hotel Au Lac, eine Pension, welche schon seit Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst war, mehr noch als die meisten ihrer randständigen Bewohner.­ Der schweigsame Herr auf der Bank fiel ihm erst auf, als er gedankenversunken und mit seinem Feuerzeug hantierend fast über dessen Füsse gestolpert wäre.„Hey, Alter, pass doch auf, du hast mir beinahe das Bein gestellt.“

Der Mann rührte sich nicht und starrte weiterhin zum See, als ob er die Anwesenheit des Störenfrieds bewusst ignorieren würde. Damit geriet er bei Mike an den Falschen: „Hey, du Zittergreis, ich rede mit dir, hast du keine Manieren? Du könntest dich wenigstens entschuldigen. Was machst du überhaupt hier in dieser Aufmachung und um diese frühe Zeit?“ Der Angesprochene reagierte selbst dann noch nicht, als sich Mike neben ihn setzte und mit dem Ellbogen anstiess. Stattdessen kippte er mit steifem Oberkörper langsam auf die linke Seite und begrub Jacke und Flasche unter sich. Die Kamera rutschte ihm aus der Hand und blieb am Trägerriemen knapp über dem Boden hängen.

„Hey, spinnst du? Was ist denn mit dir los?“ Mike schnippte seinen noch brennenden Glimmstängel ins Wasser zwischen die aufgeschreckten Möwen und beugte sich über die Gestalt. Für einen Moment verschlug es ihm den Atem. Er rüttelte ungläubig am reglosen Körper und zog ihn am Arm.

„Mann, ich glaub es nicht, hey, Alter, bist du wirklich tot? Mausetot?“

Als er merkte, dass der alte Mann tatsächlich kein Lebenszeichen mehr von sich gab, setzte er ihn wieder hin, so wie er ihn eben zuvor angetroffen hatte. Kopfschüttelnd ging er vor dem Toten in die Hocke und glotzte ihn eine Weile unverwandt an, bis er einen Hundehalter bemerkte, der seinen Köter an langer Leine auf die beiden Ratten losliess. Mike setzte sich blitzschnell neben den Leichnam, legte ihm den Arm um die Schulter und flüsterte ihm zu: „Schön stillhalten Kollege, der ist gleich wieder weg.“

* * *

Noch leicht unterkühlt von seinem irren Morgenspaziergang, sass Mike auf dem Bett und musterte die entwendeten Gegenstände. Er steckte sich die Stöpsel in die Ohren und testete den iPod. Eine ihm unbekannte Coverversion von Simon and Garfunkels „The sound of silence“ traf exakt seinen Musikgeschmack, trotzdem kam er nicht drauf, um welchen Titel es sich handelte.

Die Speicherkarte des teuren Fotoapparates war leer. „Was soll das denn, hast du Depp deine Fotos gelöscht? Überhaupt, warum hattest du dieses Gerät bei dir?“ Mike legte die Kamera verwundert vor sich hin labernd auf den Nachttisch. „Wolltest du etwa in der Nacht ein Selfie knipsen mit Gevatter Tod, dem elenden Kerl?“ Er zündete sich eine weitere Zigarette an und lachte laut heraus.

Als letztes durchwühlte der Frevler neugierig die Taschen der Winterjacke und stiess dabei auf ein gefaltetes Blatt Papier. Er las die handgeschriebenen Zeilen: „ Dies ist mein alleiniger letzter Wille. Ich, Jean-Luc Seliger, habe beschlossen, heute heimzugehen. Mein Sterbehemd wird ohne Taschen sein, so vermache ich denn all meinen Besitz meiner Wohngemeinde. Erfüllt mir nur einen einzigen bescheidenen Wunsch: Gebt mir die beiden treuen Begleiter, die mir verblieben sind, nämlich etwas Musik und meine geliebte Kamera, mit auf meinen Weg …“ Nachdem er den ganzen Text mehrmals ungläubig überflogen hatte, sackte Mike in sich zusammen.

* * *

Der Verstorbene vom See war längst zu Grabe getragen, als der Frühling Einzug hielt. Mike genoss die sonnigen Tage und verbrachte mit seinem Freund Rudi viel Zeit auf der Mauer des kleinen Bootshafens. Trotz steigender Temperaturen trug er seine neue, beige Winterjacke jeden Tag und niemand fragte ihn nach deren Herkunft.

Rudi schnüffelte an einem Stücklein Shit und grinste: „Das ist feinste Ware, garantiert aus sicherer Quelle.“

Ohne aufzuschauen, zertrat Mike eine weggeworfene Kippe und meinte: „Ok, ich geb dir einen Lappen.“

Umständlich kramte er in der Innentasche seiner Jacke nach dem Geld, wobei ein Stück Papier unversehens zu Boden fiel. Sein Kumpel hob den Zettel auf, entfaltete ihn und las mit lauter, rauchiger Stimme: „Dies ist mein alleiniger letzter Wille. Ich, Jean-Luc Seliger, habe  …“

„Was machst du da? Verdammt, gib das her, das geht dich nichts an!“ Mike riss ihm das Papier aus der Hand, steckte es verärgert ein und schubste seinen verdutzten Kollegen von sich weg. „Arschloch, vergiss unsern Deal!“

Zurück in seinem Refugium, liess er die Jacke zu Boden fallen und schmiss sich auf seine Schlafstätte. Sein Blick blieb an der Decke haften. „Verdammt Rudi, das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen!“

Nachdem er sich etwas gefasst hatte, warf sich Mike ruckartig herum und liess sich bäuchlings auf den Boden gleiten. Er zog den Zettel aus dem Kleidungsstück und begann zum x-ten Mal den Text zu lesen, der ihn seit jenem Vormittag Anfang Februar beschäftigte, als er in seinem Versteck die entwendeten Sachen des Toten untersuchte.

Am nächsten Morgen, als Rudi sich für den Vorfall am See entschuldigen wollte, fand er seinen Kumpel halb wach und sternhagelvoll in dessen Zimmer. „Ach du Scheisse, was ist hier passiert? Hey, ich bins, Rudi, wie siehst du denn aus? “ Er schob seinem Freund ein Kissen unter den Kopf, „nun red schon!“

Es dauerte eine gefühlte halbe Stunde, bis Mike endlich soweit bei Sinnen war, dass er verständlich sprechen konnte.

„Ich bin ein Versager, ein nichtsnutziger, lausiger Arsch, ich habe die Sachen eines abgekratzten Typs geklaut“, er steigerte sich in einen Anfall von Selbstbeschimpfungen und unverständlichen Erklärungen, „er hat es nicht verdient, ich habe das nicht gewollt, ich konnte das ja nicht wissen …!“

„Mike! Mann, hör auf, ich verstehe kein Wort!“

Zwei, drei Stunden und einige Espressi später erzählte Mike seinem Freund den Rest der Geschichte: „Seither quält mich ständig das schlechte Gewissen, weil ich dem Toten nicht nur sei­nen Besitz gefilzt, sondern auch seine Würde genommen habe. Mit jedem neuen Tag wird mir das bewusster, welches Unrecht ich ihm getan habe. Doch wie soll ich einem Leichnam sein Zeugs zurückgeben, kannst du mir das sagen?“

Rudi lächelte und schwieg.

* * *

Die Sonne schien, sattgrüne Blätter und erste Blüten der Friedhofbäume drängten zum Licht, als ein Typ mit dicker, beiger Jacke suchend durch die Reihen der letzten Ruhestätten schlich. Vor einem dürftig unterhaltenen Grab blieb der Besucher unvermittelt stehen und hielt für ein paar Momente reglos inne. Er blickte sich verstohlen um, holte eine kleine Gartenschaufel aus dem Ärmel und pflanzte eine mitgebrachte, dunkelrosa blühende Erika behutsam in die feuchte Erde. Dann murmelte er stimmlos vor sich hin: „Ich weiss jetzt, wo du ruhst mein Freund, ich komme wieder!“

* * *

Jetzt, eine Woche später, nähert sich Mike in finstrer Nacht zum zweiten Mal den Gräbern. Einen Schuhkarton unter den linken Arm geklemmt, die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht gezogen, schreitet er im tanzenden Licht seiner Taschenlampe durch den Nieselregen. An Jean-Lucs Grab angekommen, kniet sich der reuige Sünder mit einem schweren Seufzer auf den nassen Boden und räumt ein paar Steine weg. Mit seiner kleinen Schaufel gräbt er hastig ein Loch, vergrössert es mit blossen Händen und legt die Schachtel hinein. Danach schüttet er alles sorgfältig zu, um keine Spuren zu hinterlassen.

Als einziger Zeuge verfolgt ein Käuzchen aufmerksam und aus sicherer Warte den in sich gekehrten Mann, der mit dreckverschmierten Gesicht und gefalteten Händen im Gras kniet und regungslos dem Klang der Stille lauscht. Derweil sich seine Tränen und die feinen Tropfen des Nieselregens in der muffigen Erde vereinen.

V3