Von Raina Bodyk

1958  

 

„He, Kumpel, haste jeseh‘n, der Atze hat ne echte Jeans an! Ohne die biste nur een halber Mensch! Hat der Westverwandte? Schnieke sieht die aus. Is doch wat anderet als unsere ‚Cottino-Hosen‘, die sehn aus wie jewollt und nich jekonnt.“ Der zehnjährige Wolle sieht neidisch rüber zu dem Glücklichen, der mit geschwellter Brust vor seinen Mitschülern hin und her stolziert.

„Mann, dit is sogar eene Levi’s 501! Det is ´n Hamma! Dadrin musste dir fühlen wie in‘ Himmel! Ich wünschte, ich hätte ooch Leute drüben“, schiebt sein Freund Harry nach. „Aber is hier nich unjefährlich. Wie der sich an die Sabine ranwanzt! Der Piefke! Mir kiekt die nich mal an. Hab eben keene Jeans!“

Wolle stubst ihn an: „Is jetz ejal. Komm weg, et jibt Ärjer!“ und deutet nach hinten.

 

 

Von dort naht der Rektor, kerzengerade aufgerichtet und mit einem Blick, der jeden, den er damit anschaut, zu Eis gefrieren lässt. Den Jungen schwant Böses.

„Artur Schulze! Was …? Was, frage ich dich, hast du da an?!“

„Nur e-eene N-nietenhose.“

„Nur?! Wer dieses imperialistische Schmutzzeug, anders kann ich dieses Ding nicht nennen, trägt, besitzt keinerlei Sinn für Anstand.“ Er zielt angeekelt mit seinem arthritisch verkrümmten Zeigefinger auf den Stein des Anstoßes.   

„Wenn der Klassenfeind dieses obszöne Teil tragen und Unzucht und Unmoral verbreiten will, bitte schön. Unsere sozialistische Volksgemeinschaft braucht so was nicht! Guck dir doch nur mal an, wie du aussiehst. Die ist so eng, da zeichnet sich ja alles ab, deine Hinterbacken und … Du gehst jetzt sofort nach Hause und ziehst was Anständiges an. Vorher kommst du mir nicht mehr in meine Klasse!“

Wolle und Harry haben ihren glühenden Neid von vorhin vergessen und schauen mitleidig hinter Atze her, der gesenkten Kopfes den Schulhof verlässt.

„Mein Papa hat neulich ooch so wat erlebt. Da hat eener von die Vopos `nen Jung in so `ner Hose gezwungen, auf offener Straße so lange Kniebeugen zu machen, bis die am Arsch jeplatzt is!“

„Und – hat er dit hinjekrijt?“

„Mann, dit is doch nich der Punkt! Wat jeht et die Polente an, wat ick anziehe?!“

 

 

1964      

 

„Ey, Wolle, wo haste denn die Nietenhose her?“

„Im Sommer war ick doch mit meene Eltern bei de ‚sozialistischen Freunde‘ in Ungarn. Da hab ick doch die Bravo und die Louis Amstrong-LP’s her, die wir uns neulich rinjezogen ham. Da hab ick ooch die Hose heimlich jekooft, als meen Vater nich hinjekiekt hat. Se war aber zu jroß. Nu kiek bloß mal, wat die inne Änderungsschneiderei draus jemacht ham.“ Wolle dreht sich zögernd um. Die Tränen der Enttäuschung in seinen Augen sieht sein Kumpel so gottseidank nicht.

„Nee, ne? Wat is dat denn? Wieso sind die Arschtaschen in der Mitte nebeneinander?“, fragt Harry ganz entsetzt.

„Der Schneider von de Oma sollte die Hose enger machen. Nur hat der so viel Stoff am Hintern weggeschnitten, dass jetzt die Taschen … Siehste ja!“

„So kannste echt nich rumloofen. Wir fahr‘n nach Pankow. Die Vietnamesen können die Levi’s richtig jut nachmachen.“

 

 

Eine Woche später. „Wat sachste nu?“ Mit diesen Worten dreht sich Wolle selbstgefällig um die eigene Achse, wackelt mit den Hüften und strahlt, was das Zeug hält.

Harry ist platt. „Mann, is die echt?“

Als sein Freund den Kopf schüttelt, fährt er voll Bewunderung fort: „Dit jibs ja janich! Sieht wie das Orijinal aus. Sogar das Levi’s-Etikett is druff!“

Wolle schwärmt: „Dit hättste seh`n soll‘n! Überall stapelten sich blaue Stoffballen, halbfertige Hosen und mittenmang dieser Herr Luong an seiner alten Singer-Maschine und nähte, was das Zeug hielt. Jeder will eine tragen. Wo der die Lederschilder her hat, keene Ahnung. Jeprägt hatter das Firmenlojo selber mit so `nem Brenneisen.“

„„Eenfach knorke!“

„Jehen wir heute abend schwoofen?“

„Klar, jemacht. Aber so könn‘n wir nich in et Klubhaus. Du weeßt doch …“

„Nietenhosen – keen Einlass!“, schreien beide unisono.

„Dann lassen wir eben woanders de Puppen tanzen!“

Vorübergehende Passanten murmeln empört:

„Gammler!“

„Rowdys!“

„Asoziale!“

Die beiden Jungen biegen sich vor Lachen.

 

 

1965 

 

Genosse Erich Honecker, Verantwortlicher für Sicherheitsfragen im Politbüro, hat endgültig den Einfluss der kapitalistischen Verführung durch Kleidung und Musik satt bis obenhin.

„Unser Genosse Ulbricht hat es ja mal so schön auf den Punkt gebracht: ‚Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen.‘“ (1)

Ein Parteifreund stimmt aus tiefster Überzeugung zu: „Gestern haben meine Söhne wieder diese Heulboje Elvis aus USA gehört. Nicht zum Aushalten! Ich hab ihnen den Artikel in der „Junge Welt“ gezeigt, wo über den Kerl stand: ‚Sein ‚Gesang‘ glich seinem Gesicht: dümmlich, stumpfsinnig und brutal. Der Bursche war völlig unmusikalisch (…) und röhrte wie ein angeschossener Hirsch, nur nicht so melodisch.‘“ (2)

Daraufhin applaudieren und johlen die Genossen heftig. Ganz ihre Meinung!

„Ihr klatscht, aber ihr hättet mal meine Jungs hören sollen! ‚Wir wollen Rock und Beat, abtanzen bis zum Umfallen. Uns frei fühlen, keine Grenzen und Mauern.‘“

Das Zentralkomitee diskutiert über die schädlichen, dem Sozialismus fremden Tendenzen und das Rowdytum in der Jugend. Als Resultat verfügt das Politbüro, dass Beatmusik im Radio und Fernsehen verboten wird, den existierenden Beatgruppen in der DDR wird die Lizenz entzogen.

Denn diese Bestrebungen sind der „Versuch westimperialistischer Drahtzieher, die akustische Kriegsvorbereitung in die DDR zu tragen.“ (3)

 

 

1972

 

„Mein Vater hat mir heute ne Predigt jehalten von wejen ins Theater jehen und so. Ick hab keen Interesse da dran. Kapiert der dit nie?“, beschwert sich Harry.

„Mann, du bist vierundzwanzig. Du musst doch selbst entscheiden dürfen, wat de willst“, empört sich sein Freund Wolle.

„Na ja, da war halt een Stück, wo se alle auf der Bühne Nietenhosen anjehabt ham und der Hauptdarsteller soll jesacht ham: ‚Jeans sind eine Einstellung und keine Hose.‘ (4)  Dat hat dem Ollen mächtig imponiert. Dat find ick ja ooch jut, aber muss ick deswejen ins Theater?“

„Recht hat er trotzdem. Vielleicht kommt dit oben mal an und et ändert sich wat in de sozialistische Jesellschaft. Denk doch bloß mal, Levi’s in allen Läden, Karriere machen und Jeld verdienen, ohne dass de erst inne Partei eintreten musst.“

Harry staunt nicht schlecht: „Wenn du dit so sagst …“

„Jib doch zu, dass wir die Röhren tragen, weil se aus `m Westen sind und wir damit die da oben ärgern können.“

 

 

1974  

„Ist schon witzich, oder, dass wir jetz inne Textilfabrik arbeeten, die Nietenhosen herstellt? Was war dit früher schwer, da ranzukommen! Und jetzt machen wir se selber!“ Wolle lacht.

Harry nickt: „Hätte Honecker nit endlich die Maschinen aus dem Westen jekooft, nähten wir immer noch diese ‚Cottinos‘ mit ihrer hundsmiserablen Qualität. Jetzt die ‚Boxer‘, ‚Wisents und ‚Shantys‘ sind echt nich übel.“

„Na ja, der Stoff ist noch en bisken hart. Die laufen trotzdem nit schlecht. Unsere Arbeitsplätze sind jesichert!“

Wolle grinst. „Die Leute ham sich an den Anblick jewöhnt, keen Lehrer regt sich mehr uff darüber. Wenn die jetzt noch den Stonewashed-Effekt hinkrijten, könnten wir uns jlatt wie ‚Blue Jean Boys‘ fühlen!“

 

 

1978    

 

„Genosse Erich, wenn du hier unterschreiben würdest.“

Der nickt. „Ich weiß nicht, was mit der Welt los ist. Was ist an diesen Jeans so besonders, dass alle danach schreien und am lautesten unsere Jugend?! Musste erst letztes Jahr 6,1 Millionen Westmark ausgeben für so eine lächerliche Jeans-Farbanlage, die fähig ist, die Hosen indigoblau einzufärben. Indigoblau! Überflüssig wie ein Kropf. So eine Blamage! Unsere Leute haben das ja mal wieder nicht hingekriegt!“
Seufzend segnet der Genosse den Kauf einer Million dieser verhassten Hosen aus den USA mit seiner Unterschrift ab, eine heimliche Aktion, sozusagen zur ‚Bedarfsbefriedigung‘.  Sie müssen die Jugend im Griff behalten.

 

 

„Et jeht los! Komm, fix!“ Wolle und Harry eilen wie viele andere Mitarbeiter in die Werkskantine. Sie folgen der Einladung der Geschäftsleitung:

 

„Sonderverkauf von Jeans, original amerikanische Strauss-Levis.
Der Betriebsausweis ist unbedingt mitzubringen.“

           

„Mann, Harry. Wir krijen unsere ersten echten Levi’s! Ick kann es kaum fassen.“

Wolle strahlt ihn an: „Meen jroßer Traum erfüllt sich! Hoffentlich krijen wir eene ab. Die da oben waren so schlau, nur eene Million davon zu bestellen. Dit is doch nur een Troppen uff‘n heeßen Steen!“

„Warum ham se dit denn jemacht?“

Eine Angestellte aus der Verwaltung weiß mehr: „Ich habe gehört, der Außenhändler für die DDR soll völlig überfordert gewesen sein. Wo sollten so schnell die Hosen herkommen, welche Größen, welche Mengen? Nicht weitersagen, aber die Verhandlungen mit den Amerikanern sollen sehr hart gewesen sein.“

Wolle hakt nach: „Haste ooch mitjekrijt, warum die nich inne Jeschäfte verkooft werden?“

Die Frau muss lachen. „Die Geschäfte haben sich geweigert, den Verkauf zu übernehmen. Sie fürchten Hamsterkäufe, Tumulte, Prügeleien, endlos lange Anstehschlangen.“

„Kann ick jut versteh‘n!“

 

 

1985     

 

Wolle begleitet seinen Sohn und dessen Klasse als zusätzliche Aufsichtsperson zu einer Werksbesichtigung des Shanty-Werks in Rostock, das Nietenhosen produziert. Gemeinsam mit der Klasse geht er hinter dem Betriebsführer her, bis er plötzlich stockt.

Er glaubt, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Was da produziert wird, sind alles Westklamotten – mitten im Osten! Er ist geschockt und plötzlich stinksauer. Die eigenen Leute mussten all die Jahre mit dem Mangel leben und selbst nähen, färben, stricken, wenn sie etwas peppiger aussehen wollten. Seine Mutter hat aus Bettlaken,
wo sollte sie sonst Leinenstoff hernehmen, Hemden und Blusen gefertigt.

Und hier! Hier …

 

(V2)