Von Maria Lehner

„Wohnen im Hinterhof“, hatte es im Anzeigentext geheißen. Von Hofnutzung und „vernetzender Atmosphäre“ war die Rede, von begrünten Oasen im allgegenwärtigen Großstadtgetriebe. Das macht den Charme dieses Bezirks aus: Innenhöfe, Durchhäuser und „Pawlatschen“ (das sind diese holzverkleideten offenen Gänge an der Hofseite), kleine Gewerbebetriebe und Läden in den Barockhäusern. Die Mauern sind mit Wildem Wein bewachsen. Ein Essigbaum steht dort – und ein prächtiger kleiner Ginkgo. Wie schön wäre es, unter dem zu sitzen. Man könnte mit der Frau plaudern, die ihn so vorsichtig gießt. Das junge Paar unterzeichnet den Mietvertrag. Sie werden in zwei Monaten einziehen.

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Drei Leute stehen am Fenster. Das junge Paar und der Vermieter. Enttäuscht. „Es war so schön. Eine Hofwohnung mit Aussicht auf den Baum. Und jetzt das.“

Der Vermieter, ein älterer Herr, seufzt: „Wir sind alle traurig. Von einen Tag auf dem anderen war er spurlos verschwunden. Als wäre er einfach weggegangen“. 

Der junge Mann meint: „Bäume sind Naturdenkmäler. Es gibt ein Baumkataster, soviel ich weiß“.

Ja, wird ihm bestätigt, ein solches Verzeichnis gebe es und die Frau Glück von der Fleischhauerei, die den Baum gesetzt und womöglich wohl auch gefällt habe, sei angehalten worden, einen neuen zu pflanzen.

 

„Von welcher Fleischhauerei?“, fragt die Frau.

„Ach!“ – der Vermieter berichtigt gedankenverloren: „Wir sagen immer noch Fleischhauerei, obwohl da jetzt ein neuer Shop ist. Das ist eine längere Geschichte.“

Die beiden haben Zeit.  Sie werken vor sich hin und hören ihrem Vermieter zu. Auch er hat Zeit. Er findet es erfreulich, dass Bewohner sich für ihr Grätzel, den Bezirksteil also, interessieren – ist er doch ein kleines Paralleluniversum mit eigener Vergangenheit. Ein langes Erzählen hebt an:

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Ja, früher war da die Fleischhauerei. Mutter und Tochter betrieben den Laden mit dem originellen Namen „Glücks Schwein“. „Sie verstehen: Glück ist der Familienname“, sagt der Vermieter. Die jungen Leute lachen.

Man hatte sich auf Schwein spezialisiert. Schweinsbauch, Schweinsschulter, Schnitzelfleisch, Schweinsherz, Schweinsnieren und Leber vom Schwein. Herrlich! Auch aus anderen Bezirken waren die Leute gekommen. Zur Fleischhauerin und ihrer Tochter. Nein, es habe keinen Mann gegeben. Die beiden seien tüchtig gewesen und hätten sich auf die überschaubare Warengruppe von einem einzigen Lieferanten beschränkt. Vorzügliche Produkte. Es roch appetitlich. Die zwei, wurde augenzwinkernd berichtet, sahen aus, wie man sich Fleischhauer vorstellt: dicklich, rosig, prall, gesund, mit Pausbäckchen und starken Armen. Die Tochter half mit. Immer waren sie fröhlich, die Glücks. Der Laden war blitzsauber.

 

Irgendwann waren sie nicht mehr so gut gelaunt. Nachbarn sagten, es gebe oft Streit. Ihre Tochter, erzählte die Fleischhauerin, sei in „schlechte Gesellschaft“ geraten. An Suchtmittel und Kriminalität dachte man zuerst. Aber sie erklärte: „Baumumarmer, Öko-Freaks, Tierretter, Fleischverweigerer…“. Nun ja: ein starkes Stück für eine Fleischhauerstochter.

Das Mädchen, jetzt vielleicht neunzehn Jahre alt, wurde kaum gesehen. Die Fleischhauerei betrat sie selten. Schreiduelle waren an der Tagesordnung. An einem Abend solle „es“ dann passiert sein. (Aber das Folgende sei nicht verbürgt, sagt der Vermieter, er berichte bloß aus zweiter Hand):  Nicht nur, dass ein Gewitter bevorstand, auch in der Fleischhauerei solle die Stimmung aufgeladen gewesen sein.

Sie, die Glück, solle gebrüllt haben „Ich hab‘s so satt mit deinen Vollspaltenbödenschweineleidpredigten und dem Baumlamento!“.

Die Tochter soll dann hysterisch zurückgekeift haben, dass sie weder für das Tierleid verantwortlich sein, noch wie ein Schwein aussehen wolle, was unwiederbringlich das Schicksal der Fleischesser sei, wie man an der Mutter deutlich sehen könne. Ein Wort habe das andere ergeben.

Schließlich solle die Mutter – und genau in dem Moment hätte ganz in der Nähe ein Blitz eingeschlagen – bebend vor Zorn geschrien haben: „Dann sei verflucht und werd´ selbst ein verdammter Baum!“.

Die darauffolgende Stille solle gespenstisch gewesen sein.

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Hin und wieder ihr Auspacken unterbrechend und staunend, hören die beiden weiter zu. Die weiteren Details sollen von einer ­­– ehemaligen! – Vertrauten der Fleischhauerin ausgeplaudert worden sein. Schrecklich ist das im Grätzel und der Vermieter zitiert schelmisch: „Man sagt ja nichts, man red´t ja nur…“.

 

Nach einer Weile wurde, das jedenfalls könne er sicher sagen, das Geschäft geschlossen. Die Fleischhauerin schaffte es allein nicht. Das Mädchen sei zuvor noch einmal im Laden gesehen worden. Von der Frau Hofrat.

Die Mutter habe gescholten „Bist du angewachsen! Gemma, gemma! Die Frau Hofrat wartet auf ihr Schnitzelfleisch!“.

Die Frau Hofrat, so wird in Wien die Frau vom Herrn Hofrat genannt, hätte beschwichtigt, aber die Fleischhauerin habe ihr dann ihr Leid geklagt: Dass das Mädchen zu nichts mehr zu gebrauchen sei, richtig hölzern käme sie ihr vor. In so jungen Jahren schon knirschen ihre Gelenke. Unter den Handschuhen werde die Haut Tag für Tag schuppiger. Das komme sicher von dem Zeug, das sie esse: Porridge, Misosuppe, Mandelmus und all die Grauslichkeiten.

Die Frau Hofrat hätte entsetzt gemeint, dass für „das Mädel“ (so nennt sie die Tochter von der Glück immer) ein Arzt hermüsse.

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Und so sei es weitergegangen: Man habe etliche Hautärzte, Neurologen, Orthopäden konsultiert und sogar ein „Konsilium“, dem etliche Fachmediziner beiwohnten, abgehalten.

Ein alter, längst im Ruhestand befindlicher, Neurologe soll entsetzt gemurmelt haben „Akute Dendrifikation! Dramatisch!“. Einer der Kollegen hätte aufgelacht: „Ver-baum-ung???“

Der alte Professor habe ernst genickt. „Und dagegen kann man absolut nichts machen. Die Entscheidung des Menschen, ein Baum zu werden, ist stärker als alle Medizin der Welt. Das war schon bei Daphne so.“ Daphne? Ah ja, da war was…

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Und dann sei es ziemlich rapide gegangen: die Unbeweglichkeit („wie angewurzelt“) und oftmaliges Hinfallen („wie ein Holzklotz“); die Haut sei hart und schuppig wie Borke geworden; das Haar sei ausgefallen und stattdessen seien durch die Kopfhaut kleine grüne Pickel gestoßen. Das Mädchen habe nur mehr liegen wollen. Möglichst viel Sonne und Luft habe sie sich gewünscht. Solang sie noch reden konnte. Schließlich aber sei sie taub und blind geworden. Ihre Finger, auch die Fingernägel, hätten sich in erschreckender Weise verändert; sie seien lang und spitz geworden wie Äste und hätten nach dem Licht getastet. Und viel Wasser habe sie gebraucht.

Das „Irgendwas“ („Mädchen“ konnte man den Pflock jetzt nicht mehr nennen) sei immer länger geworden und die zusammengewachsenen Beine hätten unten (bei den Fußsohlen und vor allem bei den Zehennägeln) Tentakel bekommen, die dem Boden zustrebten. Der erfahrene Arzt soll daraufhin gedrängt haben: „Sofort einpflanzen, sie wurzelt schon!“.

Die Fleischhauerin, jetzt eine elendstraurige Person, hätte geweint und gestammelt: „Das habe ich nicht gewollt! Nein: das habe ich nicht gewollt“.

Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, dass einer ihrer bescheideneren Wünsche erfüllt worden wäre. Nun war es ausgerechnet bei diesem gelungen.

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Im Hof soll kurze Zeit später ein kleiner schöner Ginkgo gestanden haben. Die traurige Frau soll darunter gesessen haben, immerzu sehnsüchtig den Baum betrachtend, sanft über seine Blätter streichend. Sie habe die Schmetterlinge beobachtet, die um ihn herumtanzten, oder freundlich die Vögel gefüttert, die in der Baumkrone sangen. Sie soll immer wieder geflüstert haben: „Verzeih!“ Sie soll unter dem Baum sitzend Bücher gelesen haben – über den Weltfrieden durch den Verzicht von Fleischkonsum. Langsam habe sie wieder neuen Lebensmut geschöpft und in der ehemaligen Fleischhauerei den „Vegan Shop Ginkgo“ eröffnet.

 

„Was? Der Vegan Shop also – das heißt, wir haben bei ihr und der anderen Frau eingekauft?!“, wundert sich der Mann. „Sehen Sie doch nur – besseren Seidentofu und eine größere Auswahl an Johannisbrot-Produkten findet man in der ganzen Stadt nicht! Die Frau kam mir lebensfroh vor. Beide Frauen eigentlich. Und sie wirkten wie ein gutes Team. Das passt gar nicht zu Ihrer Erzählung“.

 

Der Vermieter meint, dass der Hinterhoftratsch auch noch nicht zu Ende sei. Auf das Drängen der beiden hin erzählt er weiter: Man solle die unglückliche Frau Glück in den Nächten oft jammern gehört haben, dass sie das nicht gewollt habe. Vor Kurzem erst soll dann wieder ein Blitz in der Nähe in den Boden gefahren sein, während sie so greinte. Tags darauf war der Baum weg. Spurlos verschwunden samt Wurzelstock.

 

Die Neubepflanzung habe sie schon bezahlt und beauftragt, denn der Laden gehe so gut. Es werde also wieder einen Baum geben. „Und die junge Frau, die wir gesehen haben?“, wird der Erzähler gefragt. Er setzt fort: Auch da könne er nur mutmaßen, aber am Morgen nach dem Gewitter sei eine junge Frau vor der Tür der ehemaligen Fleischhauerei gestanden und habe erstaunt die Aufschrift gelesen. Die Frau vom Vegan-Shop sei herausgestürzt und habe die Ankommende stumm in die Arme geschlossen. Es könnte – dem Alter nach – die lang verschollene Tochter sein. Wahrscheinlich war das mit der Verbaumung nur ein „G´schichterl“ gewesen und die junge Frau ist irgendwo in der Welt herumgereist?

 

Die neuen Mieter erinnern sich, dass die junge Frau unter ihrem bunten Tuch grüne Haare hat. Sie finden das im siebenten Wiener Gemeindebezirk nicht weiter auffällig. Aus der Tragtasche, aus der sie die Einkäufe in den Kühlschrank räumen, fällt ein Folder: „Wir freuen uns, Sie als Nachbarn und Kunden zur Pflanzung unseres Baumes einladen zu dürfen“ (Datum, Zeit, Ort waren angegeben). „Glück & Glück, Vegan-Shop Ginkgo“ steht da noch.

 

Der Vermieter, der alte Herr, steht auf und geht zufrieden nach Hause. Er hat noch viele G´schichterln auf Lager…

 

Version 3