Von Franck Sezelli

Es war an einem sonnigen Samstagmorgen beim Frühstück, als Belle ihrem Mann zärtlich über den Handrücken strich und ihn fragte: »Simon, weißt du eigentlich, was für ein Tag morgen ist?«

»Darling, dieses Datum werde ich doch nicht vergessen. Es ist unser 15. Hochzeitstag. Aus diesem Anlass werden wir einen kleinen Ausflug unternehmen.« Simon Wolfe hatte seine Verlobte Belle an einem ebenso schönen Tag wie heute im Jahr 1849 zum Traualtar geführt. Seitdem wohnten sie in der hübschen Villa in Albany.

»Ein Ausflug? Wohin willst du mit mir fahren?«

»Nach Saratoga Springs, mit der Railroad sind wir schnell dort. Ich habe die Eisenbahnbillets schon gekauft.«

»Da freue ich mich, mein Liebster, du hast immer so gute Einfälle. In Saratoga gibt es doch einen schönen Kurpark, hörte ich.«

»Ja, das stimmt. Wegen der Mineralquellen kommen viele Besucher dorthin. Aber zuerst möchte ich mit dir auf die Rennbahn gehen, die im letzten Jahr eröffnet wurde.«

 

Am Sonntagvormittag besuchten Simon und Belle Wolfe die Pferderennen auf dem Saratoga Race Course. Es war für Belle das erste Mal, das sie ein solches Spektakel erlebte. Sie konnte sich der Faszination dieses Platzes und Ereignisses nicht entziehen. Sie fieberte mit den vielen sonntäglich gekleideten Besuchern auf der Tribüne bei jedem Rennen mit, obwohl sie die Pferde und Jockeys gar nicht kannte.

»Verstehst du jetzt, my darling, warum ich mit meinem Freund James schon einige Male hier war? Vielleicht möchtest du uns auch mal begleiten? Oder noch besser, wenn wir es schaffen, James’ Gattin Mary zu überreden mitzukommen, dann könnten wir uns zu viert einen schönen Tag machen.«

»Ich glaube, Simon, für dich sind bei diesen Rennen doch die Wetten das Wichtigste. Aber sind die nicht illegal?«

»Nur, wenn man sich erwischen lässt … Von meinem letzten Gewinn bezahle ich heute unseren Ausflug.« Er lächelte seine Frau dabei verschmitzt an.

Belle sagte dazu klugerweise nichts.

 

Der anschließende Spaziergang im Kurpark war erholsam. Die Sonne schien warm auf das Völkchen, das über die Kieswege schlenderte und den Tag genoss. Belle fielen einige Entgegenkommende auf, die bunte Papiertüten in den Händen hielten und im Laufen daraus recht ungebührlich, aber vollkommen ungeniert, in aller Öffentlichkeit etwas naschten. Die gleichen Tüten hatte sie schon auf der Renntribüne gesehen. Konsterniert fragte sie Simon: »Was sind das für Süßigkeiten, die so viele hier gewissermaßen auf der Straße essen? Hast du das eben gehört bei dem dicken Mann, der an uns vorbeikam? Das klang ja so raschelnd, als ob er trockene Herbstblätter verschlingt.«

»Das gibt es hier erst seit einiger Zeit. Aber es sind keine richtigen Näschereien oder Süßigkeiten. Sie heißen Saratoga Chips, du wirst sie nachher noch kennenlernen. Jetzt möchte ich nämlich mit dir zum Essen an den Saratoga Lake fahren.«

Schnell fand das Ehepaar eine Mietdroschke und ließ sich nach Malta ans Südufer des Sees kutschieren. Vor dem Crum’s, einem sehr bekannten und angesagten Restaurant der Umgebung, ließ Simon halten. Man hatte hier eine herrliche Aussicht auf den großen See, dessen Blau heute besonders anziehend wirkte.

Der Wirt des Hauses begrüßte seine Gäste persönlich und führte sie an den Tisch, wo sogleich ein Kellner die Speisekarte brachte. Nachdem Simon seiner Frau eine Menüfolge und den passenden Wein vorgeschlagen und diese bestellt hatte, sahen sie sich in dem Lokal um. Es war gut ausgestattet, ohne extravagant zu wirken. Belle und Simon konnten sich hier wohlfühlen.

Auf jedem Tisch stand ein kleines Körbchen mit den trockenen gelblichen, bizarr geformten Blättern, die so aussahen wie jene, welche die Leute im Kurpark gegessen hatten.

»Sind das die Saratoga Chips, von denen du gesprochen hast, Simon?«

»Ich glaube schon, habe sie aber auch noch nicht gekostet. Auf der Speisekarte standen Potato crunches, das ist vielleicht dasselbe. Am besten, wir kosten mal …«

Es waren wirklich keine Süßigkeiten. Sie waren sehr knusprig und schmeckten salzig. Obwohl sie ihren Appetit schlagartig erhöhten, hielten sich die Wolfe’s vornehm zurück und warteten, bis ihnen aufgetischt wurde.

Nach dem Hauptgang, vor dem Dessert, kam der Wirt wieder an ihren Tisch und fragte, ob sie zufrieden waren und womit er ihnen noch dienen könne.

Simon Wolfe, schon immer ein wissbegieriger, wenn nicht neugieriger Mann, bedankte sich höflich, lobte die Speisen und nutzte die Gelegenheit. »Sagen Sie, Mister, woher kommt eigentlich der Name dieses Lokals?«

»Es ist mein Name, der Name des Eigentümers des Restaurants. Genau genommen, ist Crum mein Spitzname, den ich schon vor vielen Jahren bekommen habe. In Wirklichkeit heiße ich George Speck. Als ich als Koch gearbeitet habe, gaben mir Kellner und Gäste aus irgendeinem Grunde den Namen Crum, weil sie sich den deutschen Namen Speck nicht merken konnten.«

»Entschuldigen Sie bitte, Mister Speck, ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Aber wie ein Deutscher sehen Sie in meinen Augen nicht aus.«

»Das kann ich verstehen, Mister …«

»Wolfe, Simon Wolfe. Und dies hier ist meine Frau, Belle Wolfe.«

»Yes, Mister Wolfe, ich bin natürlich kein Deutscher, mein Großvater ist deutscher Abstammung und hat eine Schwarze geheiratet, während meine Mutter indianisches Blut in sich trägt.«

»Danke sehr, aber eigentlich wollten wir das gar nicht fragen. Uns interessieren eher die Potato crunches auf der Speisekarte und diese Leckerei in den Körbchen. Sind das die Saratoga Chips? Und sind das dieselben? Wir haben die vorher nie gesehen oder gegessen.«

»Ja, das ist dasselbe. Vor Jahren habe ich sie per Zufall erfunden. Ich arbeitete damals als Koch im ersten Haus am Platz, im Cary Moon’s Lake House in Saratoga Springs. Da gab es einen sehr nervigen Gast, dem man es nie recht machen konnte. Er beschwerte sich ständig über meine angeblich zu dicken Bratkartoffeln. Es war im August 1853, als mir einfiel, dass meine Schwester Catherine einmal mit Kartoffelscheiben ein kleines Malheur hatte. Um diesem unsympathischen Mann eins auszuwischen, machte ich bewusst nach, was meiner Schwester mit einem Kartoffelschnitz aus Versehen passiert war. Ich schnitt die Kartoffeln in hauchdünne Scheiben und warf sie in heißes Fett. Nach dem Frittieren und Abtrocknen salzte und pfefferte ich sie kräftig und servierte diesem unzufriedenen Gast als Rache diese potato crunches persönlich. ›Mister, ist es Ihnen so recht?‹, fragte ich ihn.«

»Und?«, unterbrach Belle Mister Crum. »Wie hat er reagiert? So konnte er sie doch keinesfalls mit der Gabel essen.«

»Er versuchte das gar nicht erst, sondern nahm einfach die Finger. Zu meinem ungläubigen Erstaunen schmeckten sie ihm. Das war nicht meine Absicht gewesen!«

»Das war damals zwar nicht in Ihrem Sinne, aber andererseits doch auch Glück«, meinte Simon. »Wenn der Mann sich zu sehr provoziert gefühlt hätte, wäre es für Sie sicher auch nicht so gut gewesen …«

»Da haben Sie Recht, Mister Wolfe. Später wurde mir hinterbracht, dass dieser Gast Cornelius Vanderbilt gewesen sein soll, ein für seine Rücksichtslosigkeit sehr bekannter Geschäftsmann. Er soll damals sogar stiller Teilhaber des Hotel Moon Lake Lodge, in dessen Restaurant das geschah, gewesen sein. Aber das ist nicht sicher.

Allerdings erzählt man von Vanderbilt, dass er einmal ehemaligen Geschäftspartnern einen Brief geschrieben hat mit ungefähr den folgenden Worten:  ›Meine Herren! Sie haben es gewagt, mich zu betrügen. Ich werde Sie nicht verklagen, denn die Justiz ist zu langsam. Ich werde Sie ruinieren. Hochachtungsvoll, Cornelius Vanderbilt‹. Ich glaube, das passt zu seinem Charakter.«

»Das ist ja eine interessante, sehr spektakuläre Geschichte!«

»Yes, ich habe dann noch ein paar weitere Versuche unternommen und diese Kartoffelchips auch anderen zum Kosten gegeben. Sie kamen immer gut an. So sind sie dann auf die Speisekarte gekommen und wurden und werden auch heute noch in kleinen Schachteln zum Mitnehmen verkauft.«

Belle warf ein: »Sie schmecken aber auch zu gut! Natürlich nicht als Ersatz für Bratkartoffeln …«

George Crum lächelte: »Diesem Zufall haben wir zu verdanken, dass das Moon Lake und die Saratoga Chips in ganz Neuengland bekannt wurden. Davon habe auch ich persönlich profitiert und konnte schließlich dieses Restaurant aufmachen.«

»Es ist wirklich ein erstklassiges Restaurant. Wir kommen gern wieder – und das nicht nur wegen der Kartoffelchips.« Simon stand auf und drückte dem Wirt die Hand. »Gern nehmen wir auch zwei Schachteln Ihrer Crunches mit. Aber zuvor freuen wir uns auf das Dessert.«

 

Nach dem Verlassen des Crum’s drückte Belle ihren Mann und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Vielen Dank für diesen schönen Ausflug. Jetzt möchte ich aber zurück nach Albany und unseren Hochzeitstag zu Hause schön ausklingen lassen.«

 

***

 

Wenn ich mit Elisabeth für den Wocheneinkauf durch den Supermarché gehe und sie fragt: »Ob wir mal nach den Lay’s sehen?«, muss ich immer an George Crum denken. Denn Lay’s bezeichnet die von uns bevorzugte Chips-Marke, am liebsten nehmen wir Chips à l`Ancienne, die Chips auf herkömmliche Art. Es war der Handelsreisende und Unternehmer Herman Lay, der in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts die Kartoffelchips im Süden der USA verbreitete und später produzierte. Von dort gelangten sie schließlich in die ganze Welt.

Was würde wohl der Erfinder George Crum sagen, wenn er sehen könnte, wie jeden Abend Millionen Menschen überall seine frittierten Kartoffelscheiben bei Bier, Wein oder anderen Getränken in sich hineinstopfen? Ich denke, er würde sagen: »Das habe ich nicht gewollt!«

 

 

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