Von Andrea Gebert

 

„Heinz!“

Wenn Rosi schreit, überschlägt sich ihre Stimme und Heinz muss lachen.

Kann er das nicht unterdrücken, bestraft ihn Rosi mit Schweigen. Dann vergeht ihm das Lachen. Rosi ist eine leise, freundliche Frau, zumindest so lange er nüchtern ist, und das passiert selten. 

Heinz gehört der Grubenwehr der „Wismut“ an. Richtig heißt es: „SDAG Wismut1“, aber das sagt niemand, weil es jeder weiß und im Umkreis von siebzig Kilometern sowieso jeder Zweite dort arbeitet. Meistens erkennt man es an den Autos; die bei der „Wismut“ sind, fahren neuere Autos, denn sie müssen nicht wie  normal Sterbliche zwölf Jahre auf den Trabbi warten, sondern nur sieben.

Uran- das Gold der „Wismut“. Die Russen waren helle, hatten die Amis in dem Glauben gelassen, dass es in Thüringen nichts zu holen gab. Dabei waren die Radonquellen schon zu Kaiserzeiten bekannt und die obersten Pechblenden nur hundert Meter unter der Erdoberfläche, so dass anfangs im Tagebauverfahren abgebaut werden konnte.

Nach achtzehn Jahren untertage hat sein Rücken nicht mehr mitgespielt, nun fährt er nicht mehr Schicht für Schicht mit den Kumpels ein, er sieht sie erst wieder, wenn sie schwer verletzt im Stollen liegen. Dafür hat er sich noch mal acht Monate lang auf die Schulbank gesetzt. Ist ihm schwer gefallen das Lernen, genauso wie früher, aber er hat die Prüfung  geschafft. „Wenn du deinen Dickschädel richtig anstrengst, klappt es!“, hat Rosi vorher gesagt. Stimmt nur halb, denn eigentlich hat er es nur wegen und für Rosi geschafft. Die liebt er, seit sie ihm damals, als er bei der Armee war, fast vor`s Auto gelaufen ist.

Einen Zil 2  fuhr er damals, mächtiges Geschoss und darauf war er stolz.

Er hatte ne Menge Mädchen, fast jedes Wochenende tauschte er sie aus, nannte sie alle „Süße“, weil er sich die Namen nie merken konnte. Mit Rosi war es anders, erst wollte sie nicht und er musste sich mächtig ins Zeug legen und dann war sie schwanger.

Da hatte er sich zu sehr ins Zeug gelegt. Blieb nur Heiraten. Ist lange her und er hat es nie bereut.  

Die Kumpel, die er bergen muss, sind meistens so schwer verletzt, dass es besser wäre, wenn sie gleich den Löffel abgeben würden. Innere Blutungen, abgerissene Gliedmaßen, die nicht mehr aufzufinden ist… Aber mit diesem Risiko lebt jeder Kumpel. Dafür gibts ne Menge Geld, Urlaubsreisen an die Ostsee, Bananen und anderes mehr, was der  Ostdeutsche nicht kennt und Fusel oder besser gesagt akzisefreien Trinkbranntwein.

 

Heinz` Tagesration ist eine halbes Flasche, Tendenz zunehmend.

„Muss in die Garage, was reparieren“, sagt er zu Rosi, wenn er trinken geht, und verschwindet, bevor sie ihren vorwurfsvollen Blick aufsetzt. Als Steffen, ihr Sohn, noch klein war, wollte sie immer, dass er ihn mitnimmt.

Er weiß, dass Rosi gehofft hat, sein täglicher Bedarf würde sich bei der Grubenwehr reduzieren.  Als er noch einfacher Hauer war, hat er getrunken, weil er nach der Schicht zu nichts anderem mehr zu gebrauchen war. Anderthalb Stunden bis zum Schacht in Ronneburg, dann in die Kaue zum Umziehen und ab in den Korb. Acht Stunden mit Bohrhammer und Picke und dazu die ständigen Detonationen vom Sprengen. Der Dreck flog ihnen um die Ohren und dann begann die Suche in der Pechblende. 

Jetzt trinkt er, damit die Unfallbilder in seinem Kopf verblassen.                  

Meistens schreit Rosi, wenn sie etwas geplant hat und er nicht rechtzeitig aus der Garage gekommen ist. Ist ihm nicht egal, auch wenn sie es denkt. 

Sein bester und einziger Freund ist Rolf. Den kennt er schon, seit er sechzehn ist. Sie hatten gemeinsam die Dreherlehre beim VEB Metallbau Meuselwitz gemacht und sich nach der Armeezeit  gleich bei der „Wismut“ beworben. Der Lohn dreimal so hoch und einkaufen fast wie im Westen- schön blöd wären sie gewesen, in dieser dämlichen Metallbude zu versauern. Nur einmal hatten sie Streit: Rolf wollte drei Jahre zur Fahne 3, weil man dadurch das Abi nachholen konnte, um später vielleicht einen der begehrten Studienplätze zu ergattern, obwohl die Eltern keine einfachen Arbeiter waren. Allerdings hätte er dazu in die SED eintreten müssen. Heinz hatte Rolf als einen, der seinen Mantel nach dem Wind hängt, bezeichnet, er hatte ihn beschworen, er hatte ihn beschimpft und schließlich hatten sie sich geprügelt. So sehr, dass Rolfs Nasenbein gebrochen war und die neue Levis, die ihm seine Oma aus dem Westen geschickt hatte, zerrissen. Drei Wochen später hatte Rolf seine Kandidatur zurückgezogen und eine neue Jeans.

Schließlich hatten sie die anderthalb Jahre bei der Fahne zusammen heruntergerissen, zuerst als Hüpperschweine 4, die von den EK´s5  malträtiert und drangsaliert wurden, um später selbst als EK`s den Neuen das Gleiche angedeihen zu lassen. Eigentlich wollten sie abhauen, aber nachdem Heinz  Rosi kennengelernt hatte, kam das nicht mehr in Frage.

Rolf ist immer noch Hauer. Der hat Pech mit den Frauen gehabt und zahlt mittlerweile für vier Bälger Unterhalt. Müsste eigentlich trotzdem genug hängen bleiben, aber er kann irgendwie das Geld nicht zusammenhalten.

 

„Komm raus von dort unten“, hat Heinz gesagt, „ das Zeug macht uns alle krank“.

Doch Rolf will nicht auf die Untertagezulage verzichten.

Jeden Sonntag  treffen sie sich in der Garage zum verlängerten Frühschoppen.

Wenn er geht, zeigt Rosi wortlos zur Uhr: Eins, und keine Minute später!

Er verspätet sich selten, dafür kocht Rosi zu gut und außerdem will er keinen Ärger, nur seinen anschließenden Mittagsschlaf. 

Gestern haben sie ordentlich gebechert, dreimal ist ihm während des Mittagessens das Kinn in die Soße gestippt, weil sein Kopf so schwer war. Beim ersten Mal hat Rosi noch gelacht, danach gab`s  ziemliches Theater – muss er unbedingt heute abend Rolf erzählen, nimmt er sich vor, während er zur Mittelschicht fährt.  

Dass es im Schacht eine Explosion gegeben hat, sieht er sofort, weil die Schichtleiter wie die Hühner vor dem Schacht herumrennen. Ein Teil des Stollens ist eingestürzt, hat der Steiger gemeldet. Sieben Verletzte, zwei noch vermisst. Also ab in den Korb und runter.

Dichter Rauch, sie sehen kaum etwas und arbeiten sich langsam voran, die Schleifkörbe hinter sich herziehend. Als er Rolf sieht, wird ihm schlecht. Der lehnt so komisch verdreht am Stoß6  und unter seinem Oberkörper ist Ende. Dass der noch bei Bewusstsein ist!

Heinz schluckt die Kotze hinunter, die sich durch seine Speiseröhre nach oben drängt.

„Hauptsache, obenrum stimmt noch alles“, lallt Rolf, während sie ihn behutsam in den Korb bugsieren.

Gegen zehn am nächsten Tag fährt Rosi zur Garage. Sie hat sich über das leere Bett  neben sich keine Gedanken gemacht, als sie aufgestanden ist. Heinz kommt oftmals nach der Schicht nicht gleich nach Hause und wenn es besonders spät wird, schläft er im Gästezimmer, damit er sie durch sein Schnarchen nicht weckt. Die leere Couch hat sie ein wenig irritiert, denn er schläft nur ungern in fremden Betten. Zuerst hat sie bei Rolf angerufen und auf das Tuten des Freizeichens gehört. Dann hat sie die Telefonliste mit den Nummern der Grubenwehrleute abgearbeitet.

Das Auto steht vor dem Tor. Erleichtert drückt sie die Klinke herunter.

Er liegt vor der Werkbank, die leeren Flaschen neben ihm. Sie schreit und schreit, doch er hört sie nicht mehr.

 

1 Sowjetisch-Deutsche-Aktiengesellschaft        

2 LKW russisches Fabrikat 

3 Umgangssprachlich für Armee

4 Neulinge 

5 Entlassungskandidaten

6 Stollenseite

V 1