von Ingo Pietsch

Die Bank, auf der ich saß, war ziemlich gemütlich. Und ich hatte in meinem Leben schon auf vielen Bänken gesessen.

Auch die Aussicht war nicht zu verachten: Ein Hügel, der vollständig bewaldet war, ein Wanderweg, der sich daran entlangschlängelte und zu linker Hand fuhr gerade ein Schnellzug der Österreichischen Bundesbahn vorbei.

Schon als Kind hatte ich für Eisenbahnen geschwärmt und sogar fast mein ganzes Leben lang für die Deutsche Bahn gearbeitet.

Ich genoss den warmen Wind des Frühlings und hörte dem Vögelgezwitscher zu.

Normalerweise verlebte ich meinen Lebensabend zusammen mit meiner Frau in der Nähe von Berlin. Doch ein Fernsehbericht vor fast einem Jahr hatte mich diese weite Reise machen lassen.

Angeblich hatte man 2016 in Polen einen so genannten Zug aus dem zweiten Weltkrieg entdeckt, der mit Kunstschätzen beladen aus Deutschland herausgeschmuggelt worden war.

Durch das Bild dieses Zuges hatten mich Bilder von Erinnerungen eingeholt, die ich all die Jahre verdrängt und fast vergessen hatte.

Ich fingerte aus dem Rucksack neben mir meine Brotdose und Trinkflasche und genehmigte mir eine Nachmittagsbrotzeit.

Ich war mit der Bahn hierher gekommen und schon mitten in der Nacht losgefahren.

Die Fahrt war sehr anstrengend gewesen und Müdigkeit überkam mich.

Plötzlich verdunkelte sich die Sonne und ich schreckte auf.

Vor mir stand ein Mann, der sich als der Reporter vorstellte, den ich kontaktiert hatte.

Die Redaktion hatte versucht, mich am Telefon abzuwimmeln, da immer wieder Verrückte anriefen und von angeblichen Goldschätzen berichteten.

Da ich sämtlich Kosten übernehmen wollte und der Reporter ohnehin in der Nähe wohnte, stimmte man einem Treffen zu.

Er nahm neben mir auf der Bank platz und fragte mich, ob er das Gespräch mitschneiden dürfte. Er war sehr nett und zuvorkommend, und so stimmte ich zu.

„Sie behaupten also, sie wüssten, was es mit den immer wieder gefunden Goldbarren und Schmuckstücken rund um den Bodensee auf sich hat?“, begann er das Interview.

Ich holte tief Luft: „Es war der 24. April 1943.“

„Da waren Sie wie alt? Fünf, sechs?“, unterbrach er mich.

„Sieben. Mein Onkel war Lokführer und es stand eine Fahrt in die Schweiz an. Da er wusste, dass ich die Berge liebte, aber noch nie da gewesen war, wollte er mich mitnehmen. Er versteckte mich in der unter einem Kartoffelsack im Führerhaus (es lagen dort mehrere zum Hinsetzen) – nur seine Kollegen wussten Bescheid.

Unser Zug bestand aus der Zugmaschine und vierzig vollbeladenen Waggons. Ein Trupp Soldaten verlud gerade die restlichen Kisten. Mein Onkel meinte, es seien keine richtigen Soldaten; ihre Uniformen saßen schlecht und sie benahmen sich zu schlaksig für militärischen Drill. Sie waren einfach zu schnieke, wie er sich ausdrückte. Der einzige, der herausstach, war ein Hauptmann. Wie er sich bewegte, seine Gesten, der harte Gesichtsausdruck. Mit ihm würde sich niemand anlegen wollen. Wenn er einen Befehl gab, spurten alle sofort. Ständig blickte er auf seine Taschenuhr.

Wir fuhren am späten Nachmittag los, die ganze Nacht durch und kamen am folgenden Nachmittag in der Gegend des Bodensees an, wo wir eine Pause machten und Kohle nachluden.“

Was ich dem Reporter nicht erzählte, war, dass auf dem Bahnhof in Berlin noch zwei weitere Züge standen: Gepanzert, wie auf den Fotos aus dem Fernsehbericht.

Ich habe solche Züge seitdem auch nicht mehr gesehen. Ich, als Zugexperte, konnte mir auch gar nicht vorstellen, ob die Lokomotive einen vollbeladenen Zug dieses Gewichts überhaupt ziehen konnte. Wer weiß, wozu sie dienten.

„Die Mannschaft befestigte etliche rote Reichsflaggen an den Waggons und dann fuhren wir weiter. Wir klapperten jeden Ort an einem Gewässer ab, ob See oder Bach. Die Anwohner jubelten uns zu, als erwarteten sie eine hochrangige Persönlichkeit oder sogar den Führer selbst. Der Hauptmann ignorierte dies völlig. Immer wenn durch eines der Fenster spähte, war mit irgendwas beschäftigt. Bei jedem Stopp trugen die Soldaten dann unter dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit eine Holzkiste zum Wasser und versenkten sie dann. Ich vermute, sie wollten einfach eine falsche Fährte legen, damit sich niemand weiter um den Zug kümmert.“

„Was hatte der Zug denn geladen?“, der Reporter schüttelte sich.

„Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau. Ich hörte den Hauptmann beim Verladen rufen, dass die Männer vorsichtig sein sollten, und dass die Kisten unvorstellbar wertvoll seien. Es fielen auch Worte wie Gemälde, Schmuck und Bernstein.“

„Das Bernsteinzimmer vielleicht?“

Ich schüttelte den Kopf: „Ich weiß es wirklich nicht. Nachdem wir den Bodensee hinter uns gelassen hatten, rissen sie alle Flaggen wieder ab und wir fuhren weiter. Aber nicht in die Schweiz, wie geplant, sondern nach Österreich. Hier nach Klaus Weiler.“

Meine Stimme wurde schwer, als ich mich wieder an die Einzelheiten der Endstation unserer Reise erinnerte.

„Ich wusste nicht einmal dass wir in Österreich und nicht in der Schweiz waren.

Es war schon dunkel und ich musste dringend mal austreten. Da kam es gerade recht, dass der Zug halten sollte. Ich sprang von der Lok und versteckte mich in den Büschen. Wir hielten genau dort vorne.“ Ich zeigte nach links. „Es wurde eine Weiche umgestellt und der Zug fuhr rückwärts dort entlang.“ Ich wies geradeaus. „Dort in dem Hügel rechts, gab es einen alten Stollen, der als Lokschuppen benutzt wurde. Die Scheinwerfer der Lok leuchteten mir die ganze Zeit entgegen, während sie nach und nach im Tunnel verschwand. Nach einer gefühlten Ewigkeit erstarb das Geräusch der Dampflokomotive und das Licht verlosch. Ich hörte den Hauptmann Befehle rufen. Plötzlich schrie die Zugbesatzung. Ich vernahm die Stimme meines Onkels. Dann fielen Schüsse eines Maschinengewehrs.

Nur der Hauptmann und zwei seiner Männer verließen den Tunnel bei Laternenlicht. Einer rollte ein Kabel aus und schloss es an einen Druckhebel an. Als er fertig war, zog der Hauptmann blitzschnell eine Pistole unter seinem Mantel hervor und streckte beide mit Kopfschüssen nieder. Er zerrte die Toten in den Tunnel und sprengte dann den Eingang.“ Mir liefen Tränen über meine Wangen. Ich hatte all` das so viele Jahre verdrängt.

„Das ist eine sehr spannende Geschichte. Aber haben Sie irgendwelche Beweise für ihre Erzählung?“ Der Reporter war nicht sonderlich überzeugt und ich konnte ihn verstehen.

Ich fischte in meinem Rucksack herum und gab ihm ein in Lappen eingeschlagenes Bündel. Er nahm es und wickelte es aus. Darin befand sich ein Goldbarren, verziert mit Hakenkreuz und Reichsadler. „Den gab mir mein Onkel, als wir losfuhren. Es war seine Bezahlung, für die Fahrt ohne Wiederkehr. Haben Sie eine Schaufel dabei? Dann werden Sie auch die Schienen finden.“

„Und Sie meinen, der Zug befindet sich immer noch dort unter dem Hügel?“ Die Augen des Reporters glänzten. Ich vermutete, er malte sich gerade den Ruhm aus, der ihm zuteil werden würde, wenn es stimmte, was ich ihm zerzählt hatte. Ein Zug voller verschollener Kunstgegenstände. Über siebzig Jahre konserviert.

Ich fing an, meinen Rucksack zu packen. „Ich habe keine Ahnung, was sich unter diesem Hügel befindet. Ich habe niemals wieder etwas von diesem Hauptmann gesehen oder gehört. Ich habe mit dieser Sache abgeschlossen. Und falls sie dort etwas finden, erwähnen sie bitte meinen Namen nicht. Die armen Seelen dort drinnen haben viel zu lange auf ihre Erlösung gewartet.“

Ich war aufgestanden und wollte gehen.

„Warum gerade jetzt?“, fragte er mich.

„Niemand sollte so in Vergessenheit geraten und ich bin der Einzige, der sich noch daran erinnert.“  Ich drehte mich noch einmal zum Hügel um und ging.