Von Anne Zeisig

Der Stoff der karierten Kittelschürze ist verschlissen, die Farben verblichen.

Herlinde wischt sich die schweißnassen Hände daran ab.

Die Herbstsonne blinzelt durch das Küchenfenster, rückt den Staub ins rechte Rampenlicht.

‘Das kann mir nun egal sein’, denkt sie und wendet den Rollstuhl, der sie gefangen hält. 

 

„Nur noch dieser Karton?“ Der Möbelpacker steckt seinen massigen Oberkörper durch die halb offene Tür.

 

Sie nickt. Mehr kann sie auch nicht mitnehmen in ihre neue Unterkunft.

Ein Zimmer mit Bad.

„Wenigstens ein Einzelzimmer“, flüstert sie heiser.

 

Der junge Kerl hält inne: „Ich habe Sie nicht verstanden.“

 

Herlinde winkt ab. „Der Letzte. Ja.“

 

Hier sind es siebzig Quadratmeter. Dreieinhalb Zimmer. Petras Kinderzimmer fungierte in den letzten Jahren als Gästezimmer, wenn die Tochter mit den beiden Buben Asyl bei ihr suchte, weil deren Mann im Suff wieder gewalttätig gworden war.

 

„Bleib hier mit den Jungs!“, hatte sie ihr oft geraten, „kannst putzen wie ich, hast deine Ruhe und dein Auskommen!“

 

Aber der Hallodri versprach immer wieder, sich zu bessern. 

 

Viel Rente hatte sie nicht. Aber da es sich um eine Sozialwohnung handelte, war die Miete in dem Vorort erträglich. Und Ersparnisse für einen Umzug in eine kleinere Wohnung gab es eh nicht. 

Wovon auch? Wenn man vom Existenzminimum lebt.

 

Aber für die Enkel zu den Geburtstagen und an Weihnachten, dafür legte sie immer etwas beiseite.

Aß sowieso lieber Eintöpfe, anstatt Fleisch. 

 

„Du bist zu stolz, um zum Sozialamt zu gehen!“, hatte ihr die Tochter vorgeworfen.

 

„Und du bist dumm, sonst würdest du diesem Nichtsnutz den Rücken kehren.“

 

Aber ja. Petra hatte sie durchschaut.

Eine Nummer ziehen und warten auf dem kalten, zugigen, kahlen Flur? Eingereiht in Faule und Süchtige?

Nicht Herlindes Art.

 

„Da müsste ich mich ja schämen!“

 

Das Schämen passte nicht zu einer Frau, die ihr Kind alleine großgezogen hat. Eine, die sich für keine Drecksarbeit zu schade war, um niemandem auf der Tasche zu liegen!

 

Wenn nur die morschen Knochen nicht wären, hätte sie ihre Putzstellen behalten können.

 

* * *

 

Aber dann vor vier Monaten:

Zwanzig-Uhr-Fünfzehn! Die Lottozahlen!

Ihre Zahlen!

Wurden gezogen!

Tatsächlich!

Wie oft hatte sie in all den Jahren davon geträumt …

Herlinde tänzelte auf dem abgeschabten Teppich umher und sang: „Wenn ich einmal reich wär, …“

Sie hatte den besten Sekt gekauft und Roastbeef, um den Gewinn mit ihrer Tochter zu feiern, für die Jungs hatte sie ADIDAS-Schuhe erstanden.

Die fielen ihr dankbar um den Hals.

Nun würde alles besser werden!

 

„Du verlässt den Kerl, meine geliebte Tochter; und wir kaufen uns ein kleines Reihenhaus mit Garten in der Vorstadt, eigenes Gemüse, Obst, Vitamine und gute Luft für die Kinder!“

 

„Und ich muss mir keine Arbeit suchen!“ Petras Augen strahlten wie ein glasklarer Eissee. 

 

„Aber doch! So ein Gewinn hält nicht ewig! Und die Zinsen sind gering! Kann mir mit dem Geld keine risikoreichen Anlagekapriolen leisten!“ 

 

Petras Kiefer klappte herunter: „Und ich dachte immer, Lottogewinner müssen nicht arbeiten!“

 

Das war zu viel! Schließlich hatte sie der Tochter doch den Fleiß, das Arbeiten, vorgelebt!

 

Herlinde hat der Schlag getroffen, die Lähmung sei unwiderruflich, sagte der Arzt.

 

„Dich pflegen? Das kann ich nicht!“, hatte die Tochter panisch ausgerufen, „ich bin noch jung, will mein Leben genießen!“

 

‘Mit einem Alkoholiker an deiner Seite’, hatte Herlinde bitter gedacht.

 

 

* * *

 

„Sorry“, sagte der Entrümpeler, „aber diese alte, abgenutzte Auslegeware nehmen wir nicht mit!“

 

Da war sie wieder im Hier und Jetzt. Und lenkte ihren Rollstuhl abermals zum Fenster.

Und dachte zurück, als sie ihren Mann Theodor wegen der Sauferei verlassen hatte. Da war Petra gerade Drei.

Jetzt hatte die so einen Trinksüchtigen, lebte von der Stütze, hatte längst resigniert.

 

* * *

 

ICH, Herlinde, bin fortan ein Pflegefall!

 

„Die Auslegeware kommt auch nicht mit!“, sage ICH, Herlinde, hart dem Ausräumer. Mir ist klar, dass der sich an dem Teppich nicht die Hände schmutzig machen will.

 

Er nickt erleichtert.

 

“Die neue in der Altenunterkunft ist bestimmt weniger abgenutzt“, erkläre ich ihm und blicke in sein junges Gesicht.

 

„Das Heim hat Kontovollmacht für meinen Gewinn, denn Rente und die Pflegeversicherung  reichen nicht für die Pflege dort.“

 

Er zuckt mit den Schultern.

Was soll er auch anderes tun?

 

„Sechstausend Euro haben sie mir für den Bestattervertrag gelassen“, murmele ich vor mich hin, „und vierzig Euro Taschengeld pro Monat gestehen sie mir zu.“

 

Wenn ich es schaffe, mich an der Fensterbrüstung hochzuziehen, Übergewicht bekomme, damit ich hinunterstürze, dann bekommt Petra den gesamten Gewinn.

 

Sie hat schließlich noch ihr gesamtes Leben vor sich. Und bestimmt verlässt sie dann endlich den Trinker.

 

 

ENDversion