Von Daniel Büttrich

„Das tut gut an der Stelle! Machen Sie dort bitte weiter. Ruhig ein wenig fester! Ja, das ist gut!“

Sie hebt kurz den Kopf leicht an. Ihre Augen sind geschlossen. In dieser Sekunde erinnert sie mich an eine Landschildkröte im Winterschlaf. Als mich ein Schwall ihres Mundgeruchs – ich tippe auf kargen Speichelfluss und mangelnde Mundhygiene – erreicht, wird mir bewusst welche Unannehmlichkeiten ich durch diesen Job über mich ergehen lassen muss. Ich drücke fester zu.

„Schön!“, höre ich ihre kehlige Stimme. Sie stöhnt.

„Das Bindegewebe in Ihrem oberen Schulterbereich ist sehr verspannt.“ Ich mime einen professionellen Masseur und hoffe, dass die Dame heute ohne zusätzliche Dienstleistungen auskommen wird.

„Reicht das?“, frage ich, nachdem ich meinen letzten Massagegriff an ihrem massigen, fettgepolsterten Rücken ausgeführt habe. Sie dreht sich um. Dann spreizt sie die Beine.

„In meiner Schublade liegen 200 Euro. Ich möchte, dass Sie mich mehr als sonst verwöhnen… Nur heute. Wissen Sie… Es ist so lange her… Wie alt sind Sie, Herr Schreiner?“ „69“. „69, so jung! In meinem Alter sehnt man sich nach so etwas. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin keine alte Schlampe! Es ist nur so, Herr Schreiner… Es geht mir um Wärme. Um tantrische Momente. Und ehrlich gesagt, ich möchte es noch einmal richtig treiben, bevor ich ins Gras beiße. Es wird eine Ausnahme bleiben, seien Sie gewiss. Unser Verhältnis wird keinen Schaden nehmen. Wir machen es, wir vergessen es! Bitte, Herr Schreiner! Ich lege noch 50 Euro drauf!“ Sie nimmt meinen gequälten Blick wahr. „Ich weiß, ich sollte Ihnen eine Million Euro für Ihre außergewöhnlichen Dienstleistungen geben. Ich lege Ihnen 100 Euro dazu. Bitte tun Sie es, mir zuliebe!“

 

Bevor ich wie jeden Samstag ins Geschäft von Frau Kammerer gehe um Lotto zu spielen, muss ich mich lange duschen. „Guten Tag, Herr Schreiner“, grüßt mich die stets unaufdringlich freundliche Besitzerin des Lottoladens. „1 Million Euro Euro gibt es zu gewinnen, Herr Schreiner.“

„So wenig!“, entgegne ich scherzhaft. Frau Kammerer lacht. Das leise Lachen dieser Anfang 60-jährigen Frau ist mir vertraut. So ähnlich hat Lisa gelacht, meine vor fünf Jahren an Krebs verstorbene Frau. Meine zusätzlichen Einnahmen erlauben es, zwei Kästchen mehr als üblich auszufüllen.

„Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Erfolg! Ein schönes Wochenende!“, verabschiedet mich Frau Kammerer. Erleichtert schlendere ich die Straße entlang. Sobald ich meinen Lottoschein samstags abgegeben habe, löst sich in mir eine während der Woche angestaute Anspannung. Ich habe das Gefühl, eine gute und sinnvolle Tat vollbracht zu haben.

 

Meine Gedanken kreisen häufig um die Frage, wie ich Geld verdienen kann. Meine Rente und Lisas Witwenrente sind gering. Ich habe gekellnert, bis ich entlassen wurde und keine geregelte Beschäftigung mehr fand. Ich habe Zeitungen ausgetragen und Kurierfahrten erledigt, um mich über Wasser zu halten und mir meine 2,5-Zimmer-Wohnung weiter leisten zu können. Ich habe überflüssige Gegenstände über eBay verkauft. Inzwischen bin ich Dienstleister für ältere Damen. Schwarz, versteht sich.

 

Helga wohnt im vierten Stock. Sie ist 78 Jahre alt. Helga war mit meiner Ehefrau Lisa befreundet. Die beiden konnten sich stundenlang über Backrezepte und Balkonpflanzen unterhalten. Ich höre, wie Helga mit ihrer Katze Pauli spricht, ihre Hausschlappen sucht und sich schließlich langsam auf die Tür zubewegt.

„Hallo Anton“. Im Hintergrund dröhnen die Fernsehnachrichten und Pauli schreit nach Futter.

„Komm rein. Ich muss Pauli noch schnell Happi-Happi geben.“ Helgas Maine-Coon-Katze besitzt einen unstillbaren Appetit. Mich kann der riesige Kater nicht ausstehen. Er lässt sich nur von Helga streicheln, mich hält er fauchend auf Abstand. Helga zieht die Tür ins Schloss. Sie keucht. Jede kleinste Bewegung scheint ihr Mühe zu bereiten. Ich sollte mich glücklich schätzen, in meinen Alter so gesund zu sein.

Wenn ich nur nicht unentwegt daran denken müsste, wie ich an Geld gelangen kann, um mir meine Wohnung weiter leisten zu können. Meine Wohnung, die immer noch so eingerichtet ist, wie zu der Zeit, als Lisa noch lebte…

 

„Heute lade ich dich auf einen Kaffee ein, Anton.“ Ich nicke und lächle. „Danke, Helga, beim nächsten Mal zahle ich.“ Der Satz ist ein Ritual bei unseren monatlichen Treffen. Helga lädt mich immer ein. Sie ist sehr vergesslich.

 

Am Zeitungskasten machen wir eine kurze Pause. Helga stiert auf die Überschriften. „Hast du von den Bankräubern gehört, die inzwischen 1 Million DM erbeutet haben?“

„Ja, ich hatte davon gehört!“ Seit Monaten sprengt ein maskiertes Trio Geldautomaten in süddeutschen Städten in die Luft. Kurzzeitig habe ich den unanständigen Gedanken, mich den Bankräubern anzuschließen und hege stille Bewunderung für die Verbrecher.

„Eine furchtbare Bande!“ rufe ich laut aus und erschrecke unabsichtlich Helga. „Jaja! 1 Million DM! Gestern haben sie die Bank im Nachbarort ausgeraubt!“, schimpft sie.

„1 Million Euro, Helga, nicht DM“, verbessere ich sie grinsend.

„Ach, du weißt doch, die guten alten Zeiten!“

 

Im Schneckentempo bewegen wir uns vorwärts zum Café Gugelhupf. Auf dem Weg liegt meine Bank, und ich nutze die Gelegenheit, um Kontoauszüge zu holen. Für Leute wie mich, die begrenzte finanzielle Mittel haben, ist das Geld ein roter Leitfaden im Leben. Das ist traurig, weil dieser Umstand unfrei und abhängig macht. Ich stehe am Geldautomaten und denke an meinen letzten Urlaub mit Lisa. Italien, Rimini. Lange her, aber schön. Um nicht wehmütig zu werden schaue ich mich nach Helga um. Auf ihren Gehwagen gestützt steht sie vor der Tür und spuckt langsam auf den Boden. Es geht ihr sichtbar schlecht. Ich nehme den Kontoauszug aus dem Automaten und blicke beiläufig auf meine Ein- und Ausgänge, und als ich ihn schon falten möchte bekomme ich einen Schreck. Die Zahl, die sich sofort in mein Bewusstsein eingebrannt hat, lautet: 1.111.111 Euro. Einemillioneinhundertelftausendeinhundertelf. Ich halte den Kontoauszug so nah wie möglich unter meine Nase und lese die Zahl halblaut vor. Ich schiebe meine Karte erneut in den Automaten. „Keine neuen Umsätze“. Ich blicke wieder auf meinen Kontoauszug. Meine Hände zittern, mein Puls rast. Ich mag zwar ein Idiot sein, aber Zahlen lesen kann ich.

„Anton! Kommst du?“, höre ich Helgas krächzende Stimme hinter der Scheibe. Durch meinen Kopf schießen Bilder wie Pfeile hin und her. Ich sehe Lisa, lebendig auf dem Balkon, dann tot im Sarg, zu entsetzlichen Grimassen verzerrte Gesichter meiner Massagedamen während des Orgasmus, Frau Kammerer vor dem Lottoladen und dann… Italien, Meer, Strand.  

„Ich komme gleich!“ rufe ich Helga zu, die mir nun hinter der Scheibe wie eine Bewohnerin einer anderen Welt erscheint. Eine Welt, die ich soeben verlassen habe. Ich hebe 1000 Euro ab. „Das ist ein Anfang“, beginne ich ein Selbstgespräch mit mir. „Jeden Tag 1000 Euro abheben, das ist doch ein guter Plan“.

„Brauchen Sie noch lange?“, fragt ein Herr hinter mir, den ich nicht bemerkt hatte.

„Warten Sie schon lange?“, frage ich zurück. „Nein. Aber wenn Sie fertig sind, würde ich gerne an den Automaten“. „Ich bin schon weg!“, rufe ich, offenkundig beschwipst von zu viel Glückshormonen. Ich laufe aus der Bank heraus, an der verdutzten Helga, die ich mit weit aufgerissenen Augen und Mund anschaue, vorbei, kollidiere mit einem Laternenpfahl, stehe auf, brülle „Hurra!“ und laufe weiter. Ich laufe und laufe, wie in jungen Jahren, als ich in meiner Schule auf der Langstrecke der Schnellste war. Ich laufe zu meiner Wohnung, sprinte die Treppenstufen hinauf, packe unseren Reisekoffer, werfe mir eine Jacke um, setzte mir eine Sonnenbrille auf, nehme meinen Autoschlüssel und haste in die Garage zu meinem Auto.

 

Kurze Zeit später bin ich auf der Autobahn und singe alte Wanderlieder. Die Landschaft fliegt an mir vorbei. Ich fühle mich wie in einem Hochgeschwindigkeitszug. Ich sehe Berge und merke wie mein Atem seit langer Zeit wieder frei fließt, weil ich entspannt bin. Bald bin ich in Österreich, fahre am Großglockner vorbei. Im nächsten Augenblick passiere ich ein Schild mit dem Namen „Udine“. „Signor Presidente, io, ora, mi chiamo Antonio“, feixe ich. Venedig, Bologna. Schließlich Rimini….

 

Ein leichter, angenehmer Wind bläst mir von der Seite ins Gesicht. Eine ältere Frau stapft durch den Sand. Ihre Füße werden vom Meereswasser umspült. Ich möchte das Meer später auch spüren. In der Abenddämmerung. Wie durch das Objektiv einer Kamera betrachte ich die Szenerie. Heute bin ich Regisseur. Ich sitze im Stuhl. Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts. Meer und Strand, dazwischen kleine Punkte. Das sind die Menschen.

 

Ich bin nicht alleine. Ich habe immer den Himmel und das Meer geliebt. Die von Schriftstellern so oft beschriebene Weite und Freiheit. Ich fühle mich geborgen und endlich wieder geliebt, wenn ich auch nicht weiß von wem. Vielleicht von mir selbst? Unsere Heimat hat weder Himmel noch Meer. Diese Freiheit könnte ich nicht so genießen, wenn die Zeit mich nicht mitgenommen hätte. Zuerst hat sie beschleunigt und jetzt steht sie still. Wie ich. Wie wir beide. Lisa ist bei mir, in der kleinen Urne, die auf dem Stuhl neben mir steht.

 

Der Zeitpunkt ist gekommen. Ich gehe auf das Meer zu, bis ich bis zu den Knien im Wasser stehe. Ich öffne die Urne und kippe sie ganz leicht. Nach und nach verlässt du die Urne. Ich lasse dich frei, wir trennen uns endgültig. Oder lässt du mich frei?

 

Nächste Woche werde ich in deutschen Tageszeitungen lesen, dass ein Bankangestellter eingeschlafen ist und versehentlich 1 Million Euro an einen deutschen Rentner ausbezahlt hat. Sachen gibt es!

 

Ich werde bleiben. Am Meer. Hier bin ich frei.