Von Andreas Schröter

Sicher, es gibt immer wieder Menschen, die in verschwörerischem Ton sagen: „Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als man denkt.“ Stellen Sie sich dazu Trommelwirbel vor, Christopher Lee bedrohlich von unten fotografiert in dem Film über den kopflosen Reiter, „Sleepy Hollow“, oder meinetwegen auch Nebel in einem dunklen Wald – so wie im ZDF, wenn eine Sendung ab 16 kommt. Gut und schön, aber glauben diese Menschen wirklich an den Spruch? Ich frage Sie ganz persönlich: Wenn ich Ihnen nun erzählen würde, dass die Figuren in den allermeisten Gesellschaftsspielen Seelen haben, würden Sie das glauben? Nein, oder? Na sehen Sie! Aber dann werfen Sie auch bitte nicht mit solchen Sprüchen wie oben um sich!

Und doch ist es so. Dass Spielfiguren eine Seele haben, meine ich. Ich sehe schon jetzt die Überschrift im SPIEGEL: „Vom geheimen Leben der Dinge. Wissenschaftler finden Sensationelles heraus.“ Oder so ähnlich – ich bin schließlich kein Journalist. Und ich weiß auch nicht, wann diese Überschrift kommt – vielleicht erst in 100 Jahren. Aber sie kommt, irgendwann kommen uns die Menschen auf die Schliche. Ich zum Beispiel bin die Figur „Grün Drei“ im Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel der Familie Schneider, die irgendwo in Dortmund-Kurl wohnt. Fragen Sie mich nicht nach der genauen Adresse. Ich habe sie schlicht vergessen. Wir sind schon zu lange bei den Schneiders.

Oh, bevor ich Ihnen meine überaus traurige Geschichte enthülle, sollte ich noch voranschicken, dass natürlich nicht alle Spielfiguren gleich intelligent sind. Die von Monopoly zum Beispiel sind strohdoof, obwohl sie mit Riesen-Geldbeträgen jonglieren, die von Halma sind unberechenbar und falsch, und die langen Stäbe von Mikado sind aggressiv und besserwisserisch. Und die von „Invasion of the Cow Snatchers“ haben schlicht gar keine Seele. Das gilt übrigens auch für Schachfiguren. Das hätten Sie jetzt nicht gedacht, oder? Bei denen geht’s doch schließlich immer um das Allerhöchste, wozu der Geist fähig ist.

Egal, eindeutig am weitesten entwickelt sind wir Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figuren. In jeder Hinsicht. Das gilt für Logik, Wissen, die emotional-soziale Intelligenz, Empathie und noch viel mehr.

In der Zeit, als ich noch glücklich war – als wir alle 16 Figuren noch glücklich waren –, spielte die Familie Schneider fast jedes Wochenende Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Wir kamen an Licht und Luft, hatten viel Bewegung, Spaß und Abwechslung. Naja, vielleicht verklärt man auch Manches im Nachhinein. Natürlich ist unser Leben ein enormer psychischer Stress: Wenn man kurz vorm Heimathafen rausgeworfen wird, ist man den Tränen nahe. Immer! Und wenn der Mensch, der glaubt, einen zu führen, einfach keine Sechs würfelt und man partout nicht auf die Piste kommt, ist das genauso entsetzlich. Man kommt sich so minderwertig vor. Und dann diese Schicksalsentscheidungen, die man treffen muss. Zum Beispiel: Mein Mensch hat eine Drei gewürfelt. Soll ich „Gelb zwei“ vor mir rauswerfen, oder soll ich den Zug „Grün eins“ überlassen, der näher am Hafen steht und damit „Blau vier“ eliminieren könnte? Entscheiden Sie das mal innerhalb von Sekundenbruchteilen. Denn – und das ist eine weitere Sache, die in die Kategorie „Himmel und Erde und so weiter“ gehört – nicht die Menschen sind es, die das Spiel spielen, es sind wir Figuren, die es tun. Gut, okay, die Menschen müssen das Spiel, in dessen Verpackung wir liegen, herausholen, sie müssen es aufbauen, und sie müssen würfeln. Aber dann senden wir ihnen einen blitzschnellen Impuls, der ihnen eingibt, welchen Zug sie machen sollen. Wenn nur eine Figur von einer Farbe im Spiel ist, ergibt sich dieser Zug von selbst, und wir müssen nicht eingreifen. Wir tun es nur, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt.

Natürlich halten die vier Figuren, die zu einer Farbe gehören, wie das berühmte Pech und Schwefel zusammen. Nichts kann uns trennen, wir steh’n zusammen in Gedeih, Ehr‘ und Verderb‘ – so ähnlich geht ein Lied, das wir (per Gedankenübertragung) immer singen.

Und doch: Es gibt da etwas, das ich nicht verhindern konnte, es hat sich einfach in den ersten fünf Jahren bei den Schneiders eingeschlichen. Kurz gesagt, und warum soll ich um den heißen Brei herumreden?!: Ich bin verliebt. In „Blau Eins“. Für Sie als schnöder Mensch mögen wir Figuren ja vielleicht alle gleich aussehen, aber dem ist ganz eindeutig nicht so. „Blau Eins“ ist grazil, feinfühlig und insgesamt von einem Liebreiz, der mich schlicht umhaut. Ich könnte vor ihr niederknien, falls meine Beschaffenheit das zulassen würde, was sie nicht tut. So muss ich mich darauf beschränken, ihr immer wieder Signale zu senden – ganze Batterien von roten Rosen per Gedankenübertragung sozusagen. Leider ist Madame etwas zickig. Sie zeigt mir die kalte Schulter, will nichts von meinen Liebesbekundungen wissen. Einmal hat sie sogar zurückgemorst, sie fühle sich von mir bedrängt. Ich möge sie doch bitte in Ruhe lassen. Ich sei ein Stalker. Natürlich lasse – oder ließ, doch davon später – ich mich davon nicht unterkriegen. Gut Ding braucht eben Weile: Kapriziöse Spielfiguren wollen erobert sein.

Ganz anders ist „Gelb vier“. Wir zwei sind auf einer Wellenlänge, morsen über Filme, Theaterstücke, die Politik Trumps oder den Brexit. Sie fragen sich, wie wir so etwas mitkriegen können. Die Schneiders hören viel Radio, und wir hören mit. Manchmal haben wir auch das Glück, dass sie das Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel nicht gleich wegräumen und ein bisschen fernsehen, und wir schauen mit. „Gelb vier“ und ich haben auch denselben Humor. Zu den alten Dick-und-Doof-Filmen könnten wir uns kringelig lachen, wenn wir das wirklich könnten. Aber – herrje – ich liebe sie eben nicht. Ich liebe die zickige „Blau eins“. Dabei hat mir „Gelb vier“ durchaus zu verstehen gegeben, dass sie sich den weiteren gemeinsamen Lebensweg mit mir vorstellen könne. Ich habe mit Ausflüchten geantwortet. Dass wir Figuren in einem Brettspiel sind und die Zeit einfach noch nicht reif für eine solche Ehe sei. Kein Standesamt der Welt würde das anerkennen. Noch nicht. Sie hat in den folgenden Tagen viel geweint, und auch ich habe mich nicht gerade wie ein Held gefühlt.

Dann kam jener schicksalhafte Abend. Und allein beim Gedanken daran könnte ich meine nicht vorhandenen Hände immer noch vors Gesicht schlagen und lauthals weinen. Ich stand nur zwei Felder von meiner großen Liebe „Blau eins“ entfernt, die sich ihrerseits nur noch ein Feld vor dem sicheren Hafen befand. Mein Mensch würfelte – natürlich und ausgerechnet – eine Zwei. Ich spürte, wie alle 16 Figuren den Atem anhielten und gespannt darauf warteten, wie ich mich wohl entscheiden würde. Denn das Gerücht, dass ich bis über beide Ohren in „Blau eins“ verliebt war, hatte bereits die Runde gemacht. Dann sandte ich den Impuls an „Grün Eins“, der seinerseits nur zwei Felder vor „Gelb vier“, meiner Vertrauten, stand – aber noch sehr am Anfang des Parcours –: „Schlag zu!“ „Grün Eins“ gab den Impuls an unseren Menschen weiter. Das alles musste innerhalb von kürzester Zeit geschehen, denn sonst hätte der Mensch womöglich noch eine eigene Entscheidung getroffen. Und das will ja niemand. „Gelb vier“, meine Vertraute, deren Schicksal ich nun mit meiner Entscheidung besiegelt hatte, flog in hohem Bogen vom Feld, und ich spürte gleich mehrere Impulse gleichzeitig in meinem Kopf: den herzzerreißenden Schrei von „Gelb vier“, der nicht trauriger hätte sein können, ein verschämtes Kichern von 13 Figuren und ein genervtes Ausatmen von „Blau Eins“, meiner Angebeteten.

Nach etwa zehn Minuten war das Spiel zu Ende, die vier Menschen, die es gespielt hatten, stritten sich, warfen uns unsanft in die Spielkiste und stellten sie ins Regal. Nun muss ich dazusagen, dass wir aus eigener Kraft nahezu unbeweglich sind. Allein in dem kurzen Moment, in dem wir in unsere Box geworfen werden, haben wir die Möglichkeit einer geringen Einflussnahme, wo wir zu liegen kommen. Ich selbst war noch zu sehr mit meinen widerstreitenden Gefühlen beschäftigt, um mich selbst irgendwohin zu drehen. Sollte ich zu „Gelb vier“, die sich demonstrativ von mir wegrollte, um um Verzeihung zu bitten? Oder sollte ich mich an „Blau eins“ heranrobben, um ihr weiter meine Liebe zu demonstrieren. Doch sie rollte sich ebenfalls genervt von mir weg. Nach wenigen Sekunden war alles vorbei. Wir lagen, wo wir lagen, und würden erst dann wieder die Chance haben uns – minimal – zu bewegen, wenn unsere Menschen erneut „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“ spielten. Ich war etwas abseits der anderen Figuren zu liegen gekommen. Man kann sagen: Ich war mutterseelenallein.

Dieser Zustand dauert nun seit über einem Jahr an. Die Schneiders spielen kein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht mehr. Ich habe keine Worte, um Ihnen verständlich zu machen, wie sehr mir die Gespräche mit „Gelb vier“ über Kino und Theater und vor allem unser gemeinsames Lachen fehlen. Die Dinge haben sich verändert. Heute wäre ich sofort bereit, den gemeinsamen Lebensweg mit ihr zu teilen.