Juliane Soain
Nur noch die Hand dort hoch und den Fuß nachziehen. Gleich habe ich den Gipfel bezwungen.
Plötzlich bricht ausgerechnet das Stück heraus, an dem er sich festhält. Zum Glück hat er sein Gewicht noch nicht vollständig verlagert, sonst wäre er wohl abgesegelt. Nur noch wenige Meter, dann hat David es geschafft. Erschöpft fällt er auf den Berg, während sein Herz noch wie verrückt klopft. Was für ein irrer Trip.
Kühle Luft weht in Davids Gesicht. Ein leises Rauschen, das vom Verkehr der zugrunde liegenden Stadt kommt, dringt zu seinen Ohren vor. David schließt die Augen und denkt an einen Wasserfall, der direkt neben ihm in die Tiefe stürzt.
Als er seine Augen wieder öffnet, erwartet ihn der schönste Anblick seit Langem. Die Sonne gleitet langsam hinter den Horizont und malt den Himmel in verschiedensten Farben an.
Für diese Aussicht hat sich das Risiko eindeutig gelohnt.
David zuckt zusammen, als er eine Stimme hört: „Hey du! Was willst du hier oben? Die Aussichtsplattform ist auf dem Berg nebenan!“
Doch er kann niemanden entdecken. Neugierig sieht er sich auf der Plattform um und entdeckt einen Mann hinter einem Busch. „Entschuldigung, ich habe hier niemanden erwartet.“
Analytisch mustert David den Mann.
Seine Kleidung könnte aus dem letzten Jahrhundert stammen. Wird wohl Mitte 40 sein. Leicht angetrunken.
„Schon gut, setz dich zu mir.“, fordert ihn der Fremde mit einer Handbewegung auf.
„Willst du ein Bier?“
Kopfschüttelnd schlägt David sein Angebot aus und setzt sich hin.
Sogleich fängt der Fremde an: „Das hier war mal einst Sperrzone für den Pöbel. Hier wurden Geschäfte abgewickelt, die deine Vorstellung bei Weitem überschreiten. Heute kann jeder von dieser Aussichtsplattform nebenan diesen Ausblick genießen.“, woraufhin er David anschaut und eine Reaktion erwartet.
Ratlos schaut er ihn an und zuckt mit den Schultern.
„Selbst diese geistig eingeschränkten haben inzwischen mehr Rechte als unsereins. Früher hat man ganz andere Sachen mit ihnen angestellt.“
Seine Einstellung ist unglaublich in dieser Zeit. Schon lange ist David keiner solch radikal eingestellten Person mehr begegnet. Da erinnert er sich an einen Auszug aus den Unterlagen seines Vaters: „Wusstest du, dass ein geistig behindertes Mädchen etwas wirklich bedeutsames erfand?“
Langsam dreht sich der Fremde zu David um. Wut funkelt in seinen Augen, aber sein Blick verrät, dass er mehr hören möchte und so fährt David fort:
„Anika war ihr Name. Sie konnte sich nicht verständigen, aber sie verschlang Unmengen wissenschaftliche Bücher. Buch für Buch blätterte sie durch. Die Ärzte vermuteten, dass sie sich einfach nur beschäftigte oder es ein Tick war. Aber ihr Vater legte immer neue hin, sobald sie mit dem Stapel fertig war.“
David macht eine kurze Pause, um durchzuatmen: „Von allen unerwartet, nahm sie sich einen Zettel und einen Stift, der in ihrer Nähe lag, und zeichnete eine Skizze der F-Zelle. Gebannt starrten sie alle im Raum an.“
Seine Augen werden feucht, als er zum nächsten Satz ansetzt: „Unter die Skizze schrieb sie: Papa ich liebe dich! Danach holte ihre Behinderung sie wieder zurück.“
Schweigen herrscht auf der Plattform. Eine leichte Brise weht in ihre Gesichter. Die Blätter neben ihnen rascheln angenehm im Wind, der die Büsche umspielt. Beide blicken stur geradeaus, bis der Fremde die Stille durchbricht.
„Die F-Zelle. Jeder lernt die Geschichte über sie in der Schule. Aber an diesen Teil kann ich mich nicht erinnern“, hakt er misstrauisch nach.
„Das habe ich letzte Woche in den Unterlagen meines Vaters, zusammen mit diesem Ort hier, entdeckt.“
Schockiert blickt ihn der Mann an. Doch David lässt sich nicht irritieren und erzählt weiter.
„Danach ging es sehr schnell. Niemand hätte damit gerechnet, dass sich ein so kleines Fusionskraftwerk derart einfach konstruieren lässt. Der erste Prototyp war schnell gebaut und übertraf alle Erwartungen.“
Langsam dämmert es dem Fremden, wen er da neben sich sitzen hat: „Woraufhin der Niedergang des Geldadels kam.“
Ein Lächeln zeichnet sich auf Davids Gesicht ab: „Mein Vater traf sich hier mit Gleichgesinnten und arbeitete den Plan für die Zerschlagung des Geldsystems aus. Dann gingen sie an die Presse und verkündeten ihre Neujahrsrede.“
„Ich erinnere mich daran. Damals war ich noch ein Kind. Mein Vater war absolut schockiert, als er hörte, was dieser Mann von sich gab.“
Dann äfft der Fremde Davids Vater nach:
„Sehr geehrte Damen und Herren,
uns ist vielleicht die bedeutsamste Entwicklung der Menschheit gelungen. Was sie hier neben mir sehen ist ein Fusionsreaktor. Er lässt sich kostengünstig in beliebiger Leistungsstärke bauen. Wir haben die Pläne veröffentlicht, damit jeder Interessierte ihn nachbauen kann. Sie werden vielleicht nicht mehr in den Genuss der Freiheit kommen, die diese Erfindung mit sich bringt, aber ihre Kinder können in einer Welt leben, wie sie ihnen verwehrt blieb. […]“
Er legt eine kurze Pause ein:“ Ich habe dieses Video immer und immer wieder angeschaut.“
„Der Plan meines Vaters ist aufgegangen. Er sah es als Geschenk seiner Tochter, die er abgöttisch liebte. Er gab es weiter und schenkte allen die Freiheit. Es dauerte etwas, bis die Bevölkerung mit Fusionsreaktoren versorgt war. Strom in Hülle und Fülle für Jeden. Die Emissionen fielen innerhalb weniger Jahre auf ein Minimum. Das war auch der Moment, in dem das Machtverhältnis kippte. Die Unabhängigkeit der Leute nahm zu.“
Der Fremde fällt ihm ins Wort „Genau. Dann brach das Zeitalter der Kreativen an. Einfach zum Kotzen. Keiner konnte mehr gezwungen werden zu arbeiten. Damit überhaupt noch jemand arbeitet, musste der Anreiz enorm gesteigert werden.“
„Ja, ein kurzer Einbruch. Danach hat man den richtigen Anreiz gefunden. Es fand eine komplette Konsolidierung des Arbeitsmarktes statt. Nahezu 60 % der gesamten Arbeit ist weggefallen. Viel Arbeit, die sinnloserweise von den Menschen erledigt wurde und sie unglücklich machte. Die Forschung erlebte einen massiven Aufschwung und unvorstellbare Dinge wurde erfunden, die unser Leben nachhaltig veränderten.“
Bevor der Fremde etwas sagen kann, ergänzt David seine Aussage: „Aber man darf natürlich nicht vergessen, dass es auch viele Probleme gab. Viele wussten nichts mit ihrer gewonnen Freiheit anzufangen. Auf einmal war ihr Lebensinhalt weg. Sie hatte eine schwere Umorientierung vor sich.“
Nachdenklich sitzt der Fremde da. Es scheint fast so, als ob David einen wunden Punkt erwischt hat.
„Fremder, du wirkst so traurig. So ziellos. Inzwischen kann jeder machen, wonach es ihm beliebt. Die Grenzen sind offen. Frieden herrscht überall. Meine Schwester, an die ich mich leider kaum erinnern kann, hat dafür gesorgt. Vielleicht solltest auch du endlich mit den alten Zeiten abschließen.“
Leere breitet sich in den Augen des Fremden aus. Seit dem Zusammenbruch bin ich nichts. Vorher hatte ich alles und konnte machen, was ich wollte. Jeder spielte nach meiner Pfeife. Wieso hat mein Vater sich an diesem Abkommen beteiligt? Das eingeführte Erfahrungssystem für Jobs ist zugegebenermaßen innovativ. Jeder Job gibt eine gewisse Menge Erfahrungspunkte. Je unangenehmer der Job, desto mehr gibt es. Je mehr Punkte man bekommt, desto bessere Jobs kann man antreten. Nach einer Weile wird der individuelle Erfahrungsstand zurückgesetzt. Jeder abgeschlossene Job gibt eine Trophäe. Nur diese bleiben. Bin ich einer von denen, die sich nicht umorientieren können?
Ein Telefongespräch reißt den Fremden aus seinen Gedanken. „Ein Taxi zum alten Aussichtspunkt bitte.“
Wenige Minuten später schwebt flüsterleise ein Taxi an die Plattform heran.
Beim Überschreiten der Schwelle überlegt David kurz und dreht sich zum Fremden um: „Willst du mitfliegen?“
Verneinend schüttelt der Mann den Kopf.
Doch David lässt nicht locker. Er ist sich sicher, dass mehr als nur Hass in dem Mann steckt: „Hast du keinen Traum als Kind gehabt?“
Plötzlich schießt ihm die Erinnerung in den Kopf. Ein kleiner Junge steht vor einem brennenden Haus und bewundert die Männer, die alles riskieren um die eingesperrten Bewohner zu retten: Ich wollte Feuerwehrmann werden. Denen helfen, die in Gefahr sind. Was ist bloß aus meinem Traum geworden? Könnte ich ihn vielleicht Wirklichkeit werden lassen?
Dass sich der Fremde erinnert hat, entgeht ihm nicht. Seine Augen funkeln.
David streckt seine Hand aus: „Komm mit mir mit. Verwirkliche deinen Traum.“