Raina Bodyk

Michael verlässt endlich sein Zimmer und geht zaudernd die geschwungene Treppe hinunter. Zögerlich legt er ein Ohr an die Wohnzimmertür. Dahinter ist alles still. Niemand scheint zu sprechen, weder seine Eltern noch sie – seine leibliche Mutter.

Merkwürdig, sie wiederzusehen. Im Waisenhaus hat man ihm erklärt, sie sei bei einem Fahrradunfall gestorben. Wenn sie aber gar nicht tot war, warum meldet sie sich erst jetzt? Neunzehn Jahre … Damals war er erst vier. Er kann sich kaum noch an sie erinnern. Das letzte Mal sah er sie im Krankenhaus, wo sie ihn wegen seiner Schmerzen tröstete.

Komisch, das Waisenhaus, seine Einsamkeit und die Quälereien sieht er viel deutlicher vor sich.

Sein Herz klopft bis zum Hals. Müsste er sich nicht freuen? In ihm rührt sich jedoch nur Angst vor der Begegnung. So viele Fragen steigen in ihm hoch. Ist sie es wirklich? Wird er sie erkennen? Was will sie?

 

Als er schließlich den Mut hat einzutreten, heften sich drei fragende Augenpaare erwartungsvoll auf ihn. Am liebsten würde er auf der Stelle umdrehen.

Ein Freudenschrei: „Maik!“

Die fremde Frau mit dem langsam ergrauenden Haar kommt auf ihn zugelaufen, strahlt ihn an, will ihn fest an sich drücken. Als er ihre Arme um sich fühlt, versteift er sich unwillkürlich. Er will das nicht, kann das nicht.

Aber sie weicht schon erschrocken zurück, hebt beruhigend die Hände und wispert entmutigt: „Entschuldige. Ich wollte dich nicht so überfallen. Du wirst dich ja kaum an mich erinnern.“

„Hallo, äh … Mutter!“ Gottseidank hat sie ihn nicht auch noch geküsst.

„Früher hast du ‚Mutti‘ zu mir gesagt, Maik.“

„Ich heiße Michael.“

„Michael! Okay!“ Sie schluckt enttäuscht, aber will es dem Jungen nicht noch schwerer machen. Ein komisches Gefühl: ihr kleiner Bub‘ – ein erwachsener Mann!

„Ich habe all die Jahre täglich an dich gedacht. Als man mir sagte, du seist gestorben, ist für mich die Welt eingestürzt. Aber da war immer ein bohrender, kleiner Zweifel. Es ging damals alles so hastig, ich durfte dich nicht einmal mehr sehen, um mich zu verabschieden. Ich verstand das alles nicht.“

 

Die Adoptiveltern Luise und Hermann Harsch betrachten mitleidig ihren Sohn. Sie sind froh, dass er sie bei dieser schwierigen Begegnung als Stütze dabeihaben will.

Schmerzlich fühlen sie seine innere Zerrissenheit und mischen sich ein: „Trinken wir doch erst mal in Ruhe einen Kaffee und lassen Sandra erzählen. Dass sie erst durch ihre Stasi-Akte erfahren hat, dass du lebst und bei uns bist, hat sie dir ja schon geschrieben. Sie möchte sicher alles von dir wissen, Michael. Wie du zu uns gekommen bist, was für ein schlaues Köpfchen du in der Schule warst, von deinem Studium …“

Luise wendet sich an Michaels leibliche Mutter: „Wissen Sie, am Anfang hatte er große Probleme mit seinen Mitschülern, hat sich geprügelt, immer wieder Sachen kaputt gemacht. Zuhause war er sehr verschlossen und in sich zurückgezogen. Gottseidank wurde es mit den Jahren besser.“

Michael unterbricht stürmisch: „Mir hat man gesagt, du seist tot! Wieso?“

„Du hattest einen schlimmen Unfall. Sie haben mir die Schuld dafür gegeben. Dann soll ich auch noch einen asozialen Lebenswandel geführt haben, aber das war gelogen. Man hat dich mir weggenommen und nur knapp erklärt, du seiest tot.“

 

‚Unfall!‘, empören sich die beiden Harschs innerlich. ‚Die Behörden werden ihr den Jungen wohl kaum grundlos weggenommen haben. Er soll einen Topf mit heißem Wasser vom Herd gezogen und sich verbrannt haben. Sie hat nicht auf ihn aufgepasst. Wer weiß, wie es früher bei ihnen zuging.‘

Sandra fährt fort: „Ich habe inzwischen erfahren, dass man angeblich tote Kinder für Zwangsadoptionen freigegeben hat, quasi als Belohnung für treue Parteigenossen, die selbst keine bekommen konnten.“

Michael sieht seine leibliche Mutter beklommen an. Sie lächelt ihm zu, aber er bleibt zurückhaltend

Dann geht sein misstrauischer Blick zum Sofa:

„Vater, Mutter, bin ich so ein ‚Geschenk‘ gewesen? Habt ihr gewusst, dass ich einer anderen Frau gestohlen worden bin?“

„Sohn! Was denkst du von uns?! Natürlich nicht!“

 

Sandra kann sich nicht länger zurückhalten: „Luise, Sie waren doch Lehrerin und Ihr Mann sogar Parteisekretär. Sie müssen gewusst haben, was da läuft!

„Jetzt machen Sie aber einen Punkt!“, fühlt sich Hermann angegriffen. „Man wusste von unserem Kinderwunsch und hat uns gefragt, ob wir den Kleinen aufnehmen und im Sinne sozialistischer Werte erziehen wollten. Das haben wir nach bestem Wissen und Gewissen getan.“

„Ha! Diese Werte kenne ich! Meinen Sie damit etwa, Müttern vorzulügen, ihre Babys wären tot? Die Schüsse auf die eigenen Leute an der Mauer, der Stasi-Knast oder gar die Spitzel, die jeden überwachten und endlose Akten anlegten?“, kommen die Vorwürfe.

„Wir haben an das Ideal einer Gesellschaft geglaubt, in der alle die gleichen Chancen auf Bildung haben und alles dem Volk gehört. Wir wollten alles anders, besser machen nach dieser elenden Nazi-Diktatur.“

Sandra giftet zurück: „Das mit der Gleichheit habt ihr ja prima hingekriegt! Studieren durften doch nur die, die der Partei genehm waren. Wer mit D-Mark bezahlen konnte oder einen höheren Status hatte, war doch immer etwas gleicher!“

„Hört auf! Hört doch endlich auf!“, schreit Michael. Ist er unsichtbar? Es geht doch um ihn! Er fühlt sich elend, abgestoßen von der Zankerei und stürmt aufgewühlt aus dem Zimmer, knallt die Tür zu.

 

***

 

 „Puuh, endlich ist sie weg. Dennoch, wir hätten nicht streiten dürfen! Aber welchen Ton sie sich erlaubt hat! Wir sind doch nicht schuld an dem, was gewesen ist! Und so schlimm, wie die im Westen heute tun, war es auch nicht. Hier gab es echte Kameradschaft und Solidarität, die denen von drüben unbekannt waren!  Wir sind gute Eltern. Wir haben Michael auf ein anständiges und erfolgreiches Leben vorbereitet. Wir waren streng, aber gerecht. Sie sollte uns dankbar sein!“, beschwert sich Hermann bei seiner Frau.

Die nickt zustimmend und muss dann plötzlich kichern: „Manchmal habe ich aber doch an unserer Erziehung gezweifelt! Weißt du noch, wie er vor fünf Jahren beim David-Bowie-Konzert, das in Westberlin an der Mauer stattfand, beinahe verhaftet worden ist, weil er mit seinen Freunden von unserer Seite aus unbedingt dabei sein wollte? Wie die Polizei Schlagstöcke eingesetzt und sogar zwei seiner Freunde verhaftet hat? Und wie er aussah! Diese gräßlichen, langen Haare und die ausgefransten Jeans. Furchtbar! Zwei Jahre vorher hat der Junge noch mit den gleichen Leuten über den Klassenfeind und den westlichen Faschismus diskutiert!“

„Nicht zu vergessen, die Begeisterung für das englische Gekreische, dass die drüben ‚Musik‘ genannt haben! Ein Wunder, dass aus ihm so ein anständiger Kerl geworden ist. Ich bin immer noch der festen Überzeugung, dass das Mitmachen bei den Jungpionieren und später bei der FDJ den Kindern gutgetan hat. Heute ist jeder nur noch egoistisch und disziplinlos.“

„Trotzdem – gottseidank ist die DDR Geschichte. Es war vieles nicht in Ordnung. Da hat Sandra recht“, sinniert Luise.

„Das waren doch nur Anfangsschwierigkeiten.“

 

Michael platzt ungestüm herein: „Ich ziehe aus!“

„He! Nicht so schnell, junger Mann!“, stoppt Luise ihn. „Hast du dich eigentlich von deiner Mutter verabschiedet?“

„Ja. Wir treffen uns morgen. Es tut mir leid, was ihr passiert ist. Aber was stellt sie sich vor? Soll ich mich zwischen ihr und euch entscheiden? Ihr seid doch meine Eltern.
Aber was ich sagen wollte: Ihr wisst doch, ich wollte demnächst sowieso zu Dieter in die WG ziehen. Ich habe ihn vorhin angerufen. Ich kann schon morgen kommen. Ein Zimmer ist gerade frei geworden. Da kann ich alles erst mal sacken lassen und in Ruhe nachdenken.“

 

***

 

Sandra erkennt ihn schon aus der Ferne an seinem schlaksigen Gang und den langen Beinen. Er ist so groß geworden!

„Maik – nein, Michael! Wie schön! Setz dich. Wir haben uns so viel zu erzählen.“

„Hallo!“

Sie merkt genau, dass er eine Anrede vermeidet und beruhigt ihn: „Nenn mich einfach ‚Sandra‘. Ich gebe zu, ich würde mich sehr über ‚Mutti‘ freuen. Ich verstehe aber, dass du das nicht möchtest.“

Michael stößt einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Für ihn hätte es sich wie Verrat an seiner Mutter angefühlt. Sie wäre bestimmt gekränkt gewesen.

„Danke, Sandra!  Hör zu, es tut mir leid, aber ich komme mit dieser Situation nicht klar. Ich möchte meine Eltern nicht verletzen. Sie waren immer für mich da. Was erwartest du von mir? Ich kenne dich doch gar nicht!“

Sandras Gesicht erstarrt vor Schmerz, erzählt von verzweifelter Enttäuschung, verlorener Hoffnung – und Liebe.

„Du warst doch schon vier! Erinnerst du dich denn an gar nichts?“

Michael senkt den Kopf: „Nein. Vielleicht habe ich die Vergangenheit verdrängt. Du warst für mich tot, dann das gräßliche Heim, neue Eltern …“

Seine Mutter zwingt mit sichtbarer Anstrengung die aufsteigenden Tränen zurück. Sie will es ihm nicht noch schwerer machen.

„Pass auf, wir machen es so: Ich fahre morgen zurück nach Freiburg. Das wird das Beste sein. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Wenn du dich entscheidest, mich nicht in deinem Leben haben zu wollen, dann werde ich es akzeptieren, so weh es auch tun wird. Ich habe dir aber noch ein Geschenk mitgebracht.“

 

***

 

Michael vertieft sich erneut in das ledergebundene Album. Hat er die falsche Entscheidung getroffen, als er seine richtige Mutter wegfahren ließ, ohne sie näher kennenlernen zu wollen?

Die alten Schwarz-Weiß-Fotos erscheinen ihm immer vertrauter. Er glaubt, die Küche und das einfach eingerichtete Wohnzimmer wiederzuerkennen. Erinnerungen blitzen in ihm auf:

Ein Schnappschuss zeigt die Zeichnung einer Mutter mit ihrem Kind und darüber eine riesige, strahlende Sonne. Die hat er ihr doch mit seinen neuen Stiften zum Muttertag gemalt! Und da sitzt er in der Badewanne. Eine jüngere Sandra kniet daneben und sie spielen mit bunten Schiffchen. Wie fröhlich sie da aussieht! ‚Und so hübsch!‘, lächelt er unwillkürlich.

 

***

 

Sandra liest lächelnd das Gekritzel auf der kitschigen Ansichtskarte:

      Mutti, komme Samstag mit dem Nachmittagszug. Gruß Maik.