Von Gerhard Schönbeck
Da war was! Nein, doch nicht. Oder doch? Da, schon wieder! Ein Kratzen unterm Bett! Eindeutig! Und wieder weg. Was zur Hölle war das?
Da stand es. Groß, behaart, acht Augen, Zähne wie Fleischermesser. Aus der Stirn wuchsen mächtige, gedrehte Hörner wie beim Leibhaftigen persönlich… Genauso hatte er es sich als Kind immer vorgestellt. Er konnte sich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, es jemals wirklich gesehen zu haben. Von ihm geträumt, ja, aber… Egal, das half ihm jetzt auch nichts mehr. Langsam wandte er den Kopf und sah dem Ungeheuer direkt in die Augen. Gelbgrün und furchteinflößend starrten diese zurück. Doch seltsamerweise empfand er keine wirkliche Angst mehr. Das hieß, er war sich der Ausnahmesituation vollkommen bewusst, es war ihm klar, dass ihm ein schreckenerregendes Wesen gegenüberstand. Er hatte sich schlicht und einfach zu fürchten, aber etwas war anders als früher. Ein kaum merkliches Zucken im massigen Gesicht des Unwesens, die Klauen leicht verkrampft… Wenn er es genau ansah, sah er einen riesigen, komplexbeladenen Fellberg vor sich.
„Hallo“, begann das Monster zögernd.
„Hallo.“
„Kannst du dich noch erinnern?“
„Ja, durchaus. Du hast mir damals ganze Nächte den Schlaf geraubt.“
„Tut mir wirklich leid. Ich bin Karlheinz.“
„Robert… Angenehm.“
„Ich war mir ehrlich gesagt nie bewusst, wie belastend das für dich gewesen sein muss. Ich fühle mich furchtbar.“
„Ach, halb so wild.“
„Neinnein, es war schrecklich, was ich dir angetan habe. Ähm… Möchtest du vielleicht darüber reden?“
„Hmm, eigentlich habe ich kein Problem mehr damit.“
„Bist du sicher? Überleg’s dir. Es wird dir gut tun.“
„Mach dir keine Sorgen, von meiner Seite aus ist alles klar. Wirklich. Ich habe mich jetzt nur ein bisschen erschreckt, das ist alles. Ist ja schon einige Zeit her. Und eigentlich bin ich auch ziemlich müde.“ Robert versuchte ein ausdrucksstarkes Gähnen.
„Na dann…“ Karlheinz blickte leicht geknickt drein. Mit treuherzigem achtfachem Augenaufschlag suchte er Roberts Blick. Interessanterweise funktionierte das Kindchenschema offensichtlich auch bei Ungeheuern. Der imaginäre Engel auf Roberts Schulter entschied den Kampf für sich.
„Möchtest du denn darüber…“ setzte er an.
„Au ja, das wäre fein!“ Das Monster nickte eifrig.
„Na gut, dann… Gehen wir in die Küche? Ich mache dir schnell einen Kamillentee.“
Mühsam nahm Karlheinz am Küchentisch Platz. ‚Was mache ich hier eigentlich‘, dachte Robert und unterdrückte ein Gähnen. Hoffentlich dauerte es nicht allzu lang, der folgende Tag versprach auch so schon anstrengend genug zu werden. Robert warf einen kurzen Blick nach hinten. Erwartungsvoll sah das Monster zu, wie er am Herd hantierte. Es räusperte sich verlegen und suchte nach einem geeigneten Gesprächseinstieg.
„Und… Wie läuft es gerade so bei dir?“
„Kann mich eigentlich nicht beschweren. Arbeit gut, viel zu tun, zur Zeit halt Single. Aber stört mich auch nicht großartig. Hier bitte.“ Robert stellte dem Monster eine dampfende Tasse hin und setzte sich ihm gegenüber. Kurzes Schweigen. „Und bei dir?“ nahm Robert den Faden höflich wieder auf, um den gesellschaftlichen Konventionen Genüge zu tun.
„Naja, Monster halt, nicht?“ fing Karlheinz an, „Kinder erschrecken, je härter desto besser. Ich meine, zu den Zeiten, als ich dich noch heimgesucht habe, habe ich mir nie wirklich darüber Gedanken gemacht. Es war der naturgegebene Lauf der Dinge. Und außerdem war ich jung und halbstark. Was wir uns in unserer Bande damals geleistet haben, Mannmannmann… Fast jeden Abend kam einer mit einer haarsträubenden Idee und dem Nachsatz: ‚das bringst du nicht!‘. Und ob wir’s brachten. Ohne mindestens fünf, sechs vollkommen verstört schluchzende Kinder pro Nacht haben wir uns nie zufrieden gegeben.“ Das Monster redete sich richtig warm. „Aber irgendwann denkst du dir das erste Mal ‚wofür das ganze?‘ Und dann… He, hörst du mir überhaupt zu?“
„Was? Jaja.“ Robert schreckte aus einem wohligen Dösen hoch. „Ich war nur gerade kurz mit den Gedanken woanders, verzeih.“
„Keine Ursache. Und dann wird dir eigentlich erst richtig bewusst, dass das Lebewesen mit Gefühlen sind. Also, die Kinder jetzt. Die tragen da unter Umständen wirklich seelische Schäden davon.“
„Mhm“, machte Robert. „Hör mal, ich würde dir ja gerne weiter zuhören, aber ich muss morgen früh raus und…“
„Aber du kannst nichts, absolut nichts dagegen tun“, plapperte Karlheinz weiter drauflos, seinen Gesprächspartner konsequent ignorierend, „immer wirst du in diese Rolle gedrängt. Wie gern hätte ich mich später einmal mit den Kindern über das revolutionäre Frauenbild in Hänsel und Gretel oder musikalische Wechselwirkungen zwischen Krieg der Sterne und Peter und der Wolf unterhalten, aber nein, jedes Mal nur weit aufgerissene Augen und Geschrei. Auf die Dauer ist das wirklich, wirklich frustrierend. Kurzum, alles, was früher einen Heidenspaß gemacht hat, war irgendwann nur noch sinnentleert und öde, verstehst du?“
„Mja“, murmelte Robert resignierend.
„Tja… Wenn ich nur eine Idee hätte, was ich machen könnte…“ Karlheinz blickte unschlüssig in die Ferne.
„Geh zu einem Spezialisten“, hörte Robert sich vollautomatisch sagen. Schlagartig hellte sich die Miene des Monsters auf. „Das ist es! Vielleicht muss ich wirklich an mir etwas ändern. Richtig an mir arbeiten… Therapien, Gruppensitzungen und so, vielleicht gibt es ja eine anonyme Monsterrunde – und dann Volkshochschulkurse in Pädagogik… Natürlich! Ich bin die ganze Zeit am Jammern und sehe das Offensichtliche nicht.“ Begeistert rieb das Monster die Hände. „Das wird toll, richtig toll, was meinst du? Hey, wach auf!“
„Wie? Ich bin wach!“ fuhr Robert hoch.
„Du solltest mehr schlafen“, konstatierte Karlheinz besorgt. Robert stutzte für einen Moment, fing sich aber schnell wieder. „Verzeih“, sagte er müde, „kommt nicht wieder vor. Sprich nur weiter.“
„Ich bin eigentlich durch für den Moment. Das hat echt gut getan.“ Das Monster atmete tief durch. Robert warf einen Blick auf die Küchenuhr. Halb vier.
„Freut mich“, sagte er erschöpft, „aber jetzt muss ich wirklich…“
„Das müssen wir unbedingt wiederholen! Ich muss dir doch erzählen, wie es bei mir weitergeht. Die nächsten Wochen habe ich ohnehin nichts Großartiges vor. Treffen wir uns morgen wieder hier?“
Du liebe Güte.
„Ähm…“
„Großartig! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, endlich jemanden zum Reden zu haben. Das wird super!“ Der Küchensessel schnellte nach hinten, als Karlheinz sich ruckartig erhob und auf das Schlafzimmer zusteuerte. Robert folgte ihm, nichts Gutes ahnend.
„Ich lege mich schlafen“, verkündete das Monster vergnügt, „wir sehen uns dann morgen, ja?“ Zufrieden rollte es sich unter das Bett und schlief postwendend ein. Wenige Augenblicke später war nur noch ein sanftes Schnarchen zu hören. Robert legte sich hin und starrte verzweifelt an die Decke. An Schlaf war nicht zu denken.
„Ja… Bis morgen.“