Von Andrej Bill

„Ein gesunder Baum“, sagte mein Vater, „lebt von seinem Stamm. Der Stamm wächst mit jedem Jahrestrieb. So trägt er sein Astwerk.“ Ich schaute auf den Familienstammbaum vor mir, der seit neunzehnhunderdreiundreißig vier Generationen darstellte. „Denk immer daran, wenn du unser Familienbuch siehst: Jeder Zweig, jeder Ast lebt vom Stamm und wird zum Stamm.“ Ich erinnere mich gut an diese Gespräche. Mein Vater pries seine kleine Weisheit wöchentlich, ja täglich kurz bevor er aus der Tür schwang, um zur Arbeit zu fahren. Er war nicht oft Zuhause, denn mein Vater war eine dieser unverzichtbaren Größen eines Betriebs, ein Unersetzlicher.

Der Betrieb, in dem meine Vater arbeitete, ein großes Sägewerk, stand international solide auf seinen Beinen. „Ein Gigant und Friedensbringer“, wie mein Vater sagte. Er müsse daher regelmäßig auch ins Ausland fahren. Wohin er aber fuhr und zu welchem Zweck unterstand größter Geheimhaltung. Nur manchmal konnte ich einen geräuschlosen Blick in sein Ankleidezimmer werfen, um ihm beim Packen seines Koffers zu beobachten. Es war für alle Witterungen das gleiche Gepäck – weiße, lange oder kurze Hosen, lustige Hemden, vereinzelt bunt und mit Bäumen verziert, Wanderschuhe und braune Sandalen. Ich stellte mir dann als kleiner Junge vor, wie mein Vater schweißgebadet Bäume fällt, sie zu Sägespänen zerkleinert und zum Abtransport bereit macht. Ich stellte mir seine Arbeit sehr rege vor und verfiel dabei in einen euphorischen Trancezustand, dem kleine Kinder zumal verfallen. Sein elegantes Äußeres, gepaart mit solch harter und gefährlicher Arbeit, versetzte mich ins Schwärmen. Ich gestehe, ich konnte es kaum erwarten, als noch einzelner Ast des Familienstamms ebenfalls zum Stamm zu werden.

Mit 12 Jahren entschied ich dann, dass meine Fantasie mich nicht mehr befriedigte. Ich wollte Tatsachen sehen! Also beschloss ich eines Tages, erstmalig meinen Vater auf der Arbeit zu besuchen. Es waren Herbstferien, mein Vater war kürzlich zurück von einer längeren Reise und verließ das Haus gegen 10 Uhr. Ich ging kurz nach ihm zu unserem Schuppen und fuhr mit meinem Fahrrad zum südöstlichen Ende der Stadt. Dort lag der „Ur-Betrieb“, die ersten Lagerhalle, in denen schon Ur-Großvater sein Werk verrichtet hatte. Am Betrieb angekommen, den ich nun endlich zum ersten Mal betrat, sah ich eine Vielzahl großer Gebäude. Sie waren einförmige Betonklötze, mit kleinen Fenstern in etwa zehn Metern Höhe ausgestattet, die knapp unter den Dächern eingebaut waren. Aus den Fenstern erklangen Maschinengeräusche, welche im zügigen Rhythmus wiederkehrend ein Hin und Her, oder Auf und Ab von mir damals unbekannten Treiben verrieten. Also ging ich unbemerkt am Eingangs-Schlagbaum vorbei und betrat eine der Fabrikhallen. Mein Herz schlug schneller, meine Sinne wurden schärfer und ich konnte es kaum erwarten, meinen Vater zu entdecken. Mein Zustand spitzte sich ins Nervöse zu, Geräusche wurden lauter, Stimmen begannen zu schallen und drangen wie ein überwältigendes Wesen in mein Ohr.

Benebelt und berauscht betrachtete ich die Menschen genauer. Ich suchte mir also eine Stelle auf einer kleinen Empore aus – ich vermute vor lauter Geschäftigkeit nahm mich kaum eine Person wahr – und betrachtete die anwesenden Männer bei ihrer Arbeit in der stillen Hoffnung, in einem von ihnen meinen Vater zu entdecken. Die werktätigen Arbeiter und einige wenige Arbeiterinnen trugen blau-schwarz karierte Arbeitshemden aus dicker Baumwolle, große, die Augen völlig bedeckende Brillen und dicke Handschuhe. Ich erinnere mich noch gut daran, wie komisch ich mir meinen Vater in dieser Ausrüstung vorstellte und verfolgte mit Freude die angestrengten Bewegungen der Arbeiter. So wollte ich ihn entdecken, denn die Brillen machten eine Identifikation anhand der Gesichter unmöglich. Die Art und Weise, wie die Männer Baumstämme in große Trichter huben, wie sie am anderen Ende der Maschinen herausfahrende Holzspäne sammelten, eines nach dem anderen in völliger Selbstvergessenheit konzentriert teils nochmals zersägten, teils nur noch hobelten und schlussendlich in großen Nebenhallen lagerten, erfasste meine Aufmerksamkeit in einen  unbändigen Sog. Zunächst kamen mir die Menschen zutiefst lebendig vor und ihre Arbeitsprodukte hatten eine Besonderheit angenommen, die ich nie zuvor beim Blick auf Holzspäne erkannte. Es war, als ob auch die Holzspäne lebendig wurden. Es klingt verrückt, doch diese Holzspäne bekamen für mich Augen, Nasen und Münder, die mir zulächelten. Und auch die Menschen schienen keine gewöhnlichen Menschen zu sein. Manche von ihnen hatten anstatt einer rechten Hand, eine Säge, die am Körper fest verwurzelt war. Andere hatten gleich zwei solcher Sägearme. Manche wurden gar ganz zu einem einzigen gezähnten Blatt aus gehärtetem Stahl, das sich an Holzspäne angelehnt vorbeugte und in leichte Schwingungen versetzte.

Es ist zugegeben ein seltsames Erlebnis, das so deutlich und phantastisch wohl nur einem Kind erscheinen kann. Ich starrte also auf dieses mich fesselnde Schauspiel, als mich eine junge Frau in Arbeitskleidung entdeckte und zur Rede stellte, was ich an diesem Ort zu suchen hätte. Ich antwortete kurz, ich suchte meinen Vater, nannte seinen Namen, worauf hin die Frau mich zunächst belustigt, dann verdutzt ansah, um mich schließlich in die „Zentrale“, wie sie sagte, zu bringen.

Dort angekommen war ich zunächst erstaunt über den Kontrast zu den Fabrikhallen, in denen mich die junge Frau gefunden hatte. Ich konnte den Gegensatz Dank ihr förmlich spüren, denn in unserer neuen Umgebung befiel sie sichtlich Unbehagen. Sie sagte schüchtern zu einer jungen, uniformen Dame am Empfang, die einem Roboter glich, sie hätte mich gefunden, dass ich wohl meinen Vater suchte, nannte, errötend, seinen Namen und verließ uns ohne viel Worte. Die uniforme Frau erklärte mir monoton, ich solle ihr folgen. Sie führte mich zu einem von acht Fahrstühlen und drückte, nach einer abermals vergewissernden Prüfung meines Gesichts, etwas zögerlich auf den obersten Knopf.

Angekommen im obersten Stockwerk, steigerte sich abermals meine Verwunderung. Beim Gang entlang eines endlos scheinenden Flures, sah ich links und rechts kleine Zimmer, in welchen müde Gestalten vor Computern saßen und verloren auf ihre Bildschirme starrten, während überall Telefone klingelten, die um das Vierfache die Zahl an Zimmern überstiegen. Zum Glück, dachte ich damals, saß mein Vater auch in keinem dieser Räume Die Menschen dort hatten vier Ohren und Augen, zwei Münder und dafür keine Hände; lediglich eine PC-Maus rechts und Tastatur links lugten aus ihren Anzugärmeln heraus. Die Gesichter dieser Kreaturen waren blass, mit weißunterlaufenen Augen. Sie schauten, beschienen vom Bildschirmlicht, unbeteiligt vor sich hin, ihre Münder sprachen gleichzeitig mit mir unbekannten Wortabkürzungen in die unzähligen Hörer.

Am des Flures stand eine Wendeltreppe, die ich hinaufging. Sie führte mich zu einer schraffierte Glaswand. Auf ihr stand zu meinem Erstaunen in weißen Buchstaben deutlich der Name meines Vaters geschrieben. Dahinter ein weißer Querbalken und dann erneut in weißer Schrift: „Konferenzraum“. Ich staunte nicht wenig und ging nach freundlicher Bitte der jungen Frau hinein.

Ich tappte schüchtern, doch mit aufrichtigem, neugierigem Blick in den Raum. Eintretend sah ich vor mir eine Runde von acht schwarz gekleideten und hochgewachsenen, älteren Männern. Sie alle ähnelten sich in ihren harten Gesichtszügen und der saugenden Tiefe in ihren wachen Augen. Sie verliefen unersättlich ins Bodenlose. Ihre Köpfe hatten kaum Fett an sich und eine dünne Hautschicht, sodass sie stark an Totenschädel erinnerten. Mir war, als könnte mir jederzeit der Kopf abgebissen werden, denn das Gebiss der Männer war gefüllt von Haifischzähnen! Überlegen sie mal, was für eine Angst ich hatte! Jedenfalls befürchtete ich, mein Vater war erneut nicht unter den Männern zu finden, weil diese ihn am Morgen blutrünstig zerfleischt hatten! Nach einem kurzen Moment der Stille, in dem mich einige der brutalen Gestalten gierig beäugt und langsam umkreist hatten, sagte einer der Männer, seine Gesichtszüge aus einer Starre lösend, feierlich: „Tatsächlich, er ist es!“

Die Gruppe ließ ein gleichmäßiges und ohrenbetäubendes Gelächter von sich. Sie beratschlagten sich und fragten derweil laut in die Runde, was ich denn dort zu suchen hätte, was dem wilden Willi (Wilhelm war der Vorname meines Vaters), dem alten Störenfried, diesmal für ein Streich einfiele, um gleich wieder in ein zufriedenes, hämisches, Lachen zu verfallen. Sie berauschten sich zusehends an ihren Einfällen, bis mich schließlich einer von ihnen fragte, was denn nun mein Auftrag sei. Ich brauchte eine Weile, um mich zu sammeln, während mich die bodenlosen Augen ungeduldig fixierten und sich eine voller Erwartungen drückende Stille aufbaute, die in meinen Ohren dröhnte. Meine Antwort, dass ich nur meinen Vater suchte, der weder in einer Fabrik, noch in einem Empfangssaal, noch in einem Bürozimmer zu finden sei, schien ihnen zu gefallen. Erneut erreichte mich ein lautes Gelächter, ja eine Art Rausch befiel die Männer, bis mich ein vom triefendem Speichel kaum verständlicher Schrei erreichte: „Aber dein Vater ist doch nicht H I E R! Dein Vater ist doch E I G E N T Ü M E R! Und dazu noch unser Größter. Du findest ihn nicht B E I den Dingen, weil er I N den Dingen steckt!“ Die vor Lachen schäumenden Totenköpfe begannen sich um mich herum zu drehen. Immer schneller, löste sich ein Kopf nach dem anderen ab, bis ich nur verschwimmende Farbstreifen erkennen konnte. „Sägt ihn ab“, flüsterte ich, „sägt meinen Namen ab!“

Heute arbeite ich als Holzfäller. Menschen aus den Sägewerken helfen mir beim Fällen, Menschen aus den Büroräumen zeigen uns, wo wir Sägen müssen. Den Konferenzraum gibt es nicht mehr. Stattdessen treffen sich alle vor den Schlagbäumen. Sie alle, einst Namenlose, helfen mir, denn wir Fällen nicht bloß Bäume. Wir trennen Namensschilder von Baumstämmen. Wir teilen.