Von Anne Kay
Träume sind unerklärliche, sonderbare Dinge. Sie folgen keiner Logik, sie verändern sich und werfen einen hin und her. Bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit lassen sie den Träumenden, der in ihrem Chaos gefangen ist, völlig ratlos zurück. Ihnen zu entkommen ist beinahe unmöglich, nicht bevor man aufwacht. Wenn man denn soviel Glück hat, rechtzeitig aufzuwachen …
Als sein dreißigster Geburtstag langsam näher rückte, wusste er, er hatte schon viel zu lange davon geträumt, endlich die große Liebe zu finden. Alle seine Beziehungen waren genau daran gescheitert, dass er ein solcher Träumer war. Daher war es keine große Überraschung, als er in dieser Nacht, von der Frau seines Lebens träumte.
Ein wunderschöner Engel in weißem Kleid wartete auf ihn am Strand, so sanft lächelnd und alles, was sie wollte, war, dass er zu ihr kam und ihre Hand nahm. Aber zu ihr zu kommen war nicht so einfach. Ein reißender Fluss verlief quer über den Strand, und auf die andere Seite zu kommen war lebensgefährlich. Er sah zu ihr hinüber und sie flehte ihn an, einen Weg zu finden.
Im Traum schwanger zu sein, war immer schmerzhaft für sie gewesen, besonders da sie und ihr Mann seit fünf Jahren erfolglos versuchten, ein Kind zu bekommen. Doch irgend etwas schien heute Nacht anders zu sein. Irgend etwas an diesem Traum, gab ihr Hoffnung.
Zum einen trug sie das Kind diesmal nicht in ihrem Bauch, sondern in den Händen vor sich her. Ein kleines, ungeborenes Ding, das in ihren Handflächen schlief, noch immer rot vom Blut. Es war das wertvollste, das sie je gesehen hatte.
In der Ferne hinter einem Feld sah sie das Haus ihrer Kindheit und sie wusste, dort musste sie hin, um diesen Schatz in ihren Händen, sicher und geborgen zu wissen. Aber sie musste sich beeilen, denn am Horizont hinter dem Haus, zog ein Sturm auf. Alles in ihr sagte, dass es sicherer wäre, in die andere Richtung zu gehen, weg von diesem Sturm. Aber dann würde sie das Baby nicht behalten können. Warum das so war, wusste sie nicht und sie stellte es auch nicht in Frage. Sie nahm die Gefahr in Kauf und lief los, auf das Haus zu.
Trotz seiner siebenundsechzig Jahre träumte er von seinem ersten Schultag. Er und sein bester Freund trugen ihre Zuckertüten und das obwohl sie zur Berufsschule gingen. Es war ein sonniger, sehr heißer Sommertag und dennoch sahen sie zwei Leute in Daunenjacken und mit Skiern auf dem Rücken zum Sessellift neben dem Schuleingang gehen.
Auf den Berg wollte er nicht, denn dort oben war es ihm zu kalt. Außerdem kam ihnen genau in diesem Moment ein Mädchen entgegen und in diesem Moment war alles andere vergessen. Sie sah genauso aus, wie er sich an sie erinnerte. Seine verstorbene Frau, für so viele Jahre. An diesem Tag hatten sie sich damals getroffen, in jenen Tagen des endlos scheinenden Sommers, als die Dinge noch gut und einfach waren.
Sie gingen ins Schulgebäude, kauften ein Eis am Süßigkeitenwagen und stellten sich dann an, um mit dem Riesenrad zu fahren. Überall auf dieser Kirmes mitten im Schulgebäude, liefen Lehrer umher und versuchten, die Schüler in die Klassenräume zu jagen. Aber keiner hörte auf sie. Die Kirmesbuden waren einfach viel lustiger als Schule, trotz des aufziehenden Sturms.
Die Schlange vor ihnen war noch lang, und so schnell wie sich der Himmel zuzog bezweifelte er, dass sie es noch schaffen würden, rechtzeitig an die Reihe zu kommen. Aber das mussten sie. Das Riesenrad war es, was seine Frau immer gewollt hatte. Und wenn er ihr das nicht geben konnte, würde er sie verlieren. Schon wieder.
Über Lautsprecher wurde eine Sturmwarnung verkündet, die alle aufforderte, sich in Sicherheit zu bringen. Seine Frau sah ihn an. Sie wollte mit dem Riesenrad fahren, und das würden sie auch tun, Sturm oder nicht, also blieben sie.
Er hatte es nie geschafft, seinen Vater zufriedenzustellen, nicht wenn er träumte und auch nicht wenn er wach war und versuchte, das Handwerk zu erlernen um das Familienunternehmen weiterzuführen. Wenn überhaupt war es im Traum sogar noch viel schwerer. Aber heute Nacht, nach seiner bestandenen Gesellenprüfung, schien es endlich besser zu werden.
Sein Vater lobte ihn, im Traum, dafür wie gut er seine Arbeit gemacht habe. Aber um wirklich von guter Arbeit zu sprechen, müsse er das Werkstück in die Garage schaffen, bevor der Sturm hier war. Das Stück war zu wichtig um es zu verlieren, aber es zu holen, bedeutete sich der Gefahr auszusetzen, selbst in diesen Sturm zu geraten.
So lange hatte er sich gewünscht, endlich den Respekt seines Vaters zu verdienen. Nun war er kurz davor. Er ignorierte die Gefahr und überquerte die winzige Hängebrücke, die plötzlich schon immer zwischen ihrer Garage und dem Garten gewesen war. Der Wind wurde von Minute zu Minute stärker.
Er zerzauste ihm die Haare und wehte ihn fast von den Felsen, über die er auf die andere Seite des Flusses kommen wollte. Aber der Wunsch seine Liebste zu erreichen, trieb ihn weiter und irgendwie erreichte er das andere Ufer. Er musste sie beschützen, vor dieser Gefahr. Er musste ihr Held sein. Aber der dunkle Himmel hing gefährlich tief, und es sah ganz und gar nicht mehr wie ein normaler Sturm aus.
Tiere aus den umliegenden Wäldern sprangen an ihr vorbei, auf der Flucht vor dem Sturm. Rehe, Hasen, sogar Seehunde. Am Horizont sah sie wie sich die Masten der Boote im Wind bogen und erinnerte sich nicht daran, dass es nie einen Hafen nahe ihres Kindheitshauses gegeben hatte. Der Sturm hatte das Haus selbst bereits erreicht und es war noch immer zu weit weg, um rechtzeitig dorthin zu kommen.
Eine Böe traf sie von hinten und warf sie nach vorn. Gerade noch so fing sie sich auf, so dass sie das Kind nicht verlor. Der Schmerz als sie sich die Knie aufschlug war nicht wichtig. Nur das Kind war wichtig. Über ihr näherte sich der Sturm, schneller und schneller, und doch fiel nicht ein Tropfen Regen. Das war kein Regensturm. Nur diese bedrohlich dunkle Masse, die sie zu jagen schien, um sie und das Kind zu verschlingen. Aber sie durfte dieses Kind nicht verlieren. Nicht jetzt, da sie es endlich hatte. Dieses Kind war alles, was sie immer gewollt hatte.
Das Riesenrad schwankte bereits im Wind und die Betreiber verkündeten, dass es aus Sicherheitsgründen geschlossen würde. Er sah in die Augen seiner Frau und sie drehte sich bereits von ihm weg. Nein. Das durfte er nicht zulassen. Er drängte sich an dem Wachposten vorbei und huschte in die Kabine, die Hand seiner Frau niemals loslassend. Sie lächelte und das war alles, was zählte.
Als er einen Blick nach oben warf, hing der dunkle Himmel bereits so tief, dass er die obersten Kabinen zu verschlucken begann. Er wusste genau, was das bedeutete und doch ließ er die Hand seiner Frau nicht los, bis das Riesenrad sich in Bewegung setzte und sie nach oben trug.
Natürlich war die kleine Hängebrücke nicht groß genug, ihn und das Werkstück zu tragen aber sie war der einzige Weg, es in Sicherheit zu bringen. Also schob er es hinüber und irgendwie erklärte sich die Brücke bereit, zumindest für sein Werkstück genug Platz zu lassen. Allerdings nur um diesen direkt danach wieder zu nehmen, so dass er selbst kaum noch einen einzigen Fuß aufsetzen konnte.
Unter sich sah er den Fluss, der zu einem gewaltigen Wasserfall wurde und über sich nichts als Schwärze. Eine Schwärze, die näher und näher kam. Er schob, mit aller Kraft und er wusste, es war Selbstmord, weiter zu versuchen, dieses Werkstück zu retten. Wenn er überleben wollte, hätte er jetzt weglaufen müssen. Aber dies hier war die eine und einzige Chance, endlich seinen Vater stolz zu machen, das einzige, was er sich immer gewünscht hatte.
Als er seine Liebste endlich erreichte, flüchtete sie in seine Arme, so verängstigt. Er war ihr romantischer Held, wie in den Büchern. Aber wie um alles in der Welt sollte er sie nun retten? Das, was sie da bedrohte hatte kein Gesicht. Es war nur ein rasendes, unerbittliches Etwas, das gekommen war um ein Leben zu fordern, egal welches es auch sein würde.
Sie sah ihn an, flehend und er wusste, sie wollte leben. Sie wollte, dass er ihr Held war und natürlich, würde er das sein. Es war alles, was er immer hatte sein wollen. Also schob er sie hinter sich und stellte sich diesem Sturm aus Dunkelheit.
Die Dunkelheit war direkt über ihr und das Baby in ihren Händen weinte nicht einmal. Als ob es wüsste, sie würde es beschützen, egal was es kosten würde. Und natürlich würde sie das.
Sie legte das Baby in eine kleine Höhle, nicht größer als ein Kaninchenbau. Dort würde es sicher sein, das wusste sie, und stand auf. Das Dunkel würde ihr folgen, auch das wusste sie, und wenn es das tat, würde es das Baby vergessen. Das Baby würde leben und das war das einzige, was wichtig war.
Sie rannte, so weit und so schnell sie konnte. Und als sie weit genug gelaufen war, blieb sie einfach stehen, bereit, verschlungen zu werden, in dem Wissen, dass wenigstens ihr Kind leben würde.
Es war beängstigend und erleichternd zugleich, zu sehen, wie diese Dunkle Masse immer näher kam. Er wusste, es würde sie verschlingen, aber er wusste auch, er würde mit seiner geliebten Frau zusammen sein, wenn es passierte. Sie hielt seine Hand, so wie sie es immer getan hatte, und er ließ nicht los. Er würde sie nie wieder loslassen.
Er hatte das Ende der Brücke so gut wie erreicht, als er wusste, die Zeit war abgelaufen. Es war hier und es würde sein Opfer einfordern. Aber wenn es noch eine Sache gab, die er tun musste, damit sein Vater endlich stolz auf ihn war, dann würde er es tun. Also gab er seinem Werkstück einen letzten Stoß um es auf die andere Seite in Sicherheit zu bringen. Erst dann ließ er los.
Manche Träume sind sehr lebhaft. Einige davon so real in ihrer Lebhaftigkeit, so beängstigend, dass Menschen zitternd aus ihnen erwachen, manchmal weinend und manchmal sogar schreiend.
Menschen, die auf diese Weise aufwachen, sind die, die gerade noch entkommen konnten. So viel Glück haben nicht alle …