Von Julia Kalchhauser

Snowflirty starrt auf das Display ihres Telefons, tief versunken in Instastories und im Verfolgen der an sie verteilten Likes. Der erste Griff morgens im Bett, zum Telefon, um zu checken, wie ihr letztes Foto bei der Community angekommen ist. Wieviele neue Follower über Nacht? Wieviele Likes? Gibt es Kommentare, die bestätigen, wie hübsch sie ist? Wie trendy? Wie sexy & cool?

 

Nach dem ersten Kaffee macht sie sich zurecht. Bei manchen Frauen ihres Alters heißt das Zähneputzen, Kämmen und vielleicht Mascara auftragen. Nicht so bei Snowflirty. Dank unzähliger Make-Up Tutorials ihrer Gurus weiß sie haargenau wie man professionell contoured, baked und shaded und tut dies zu Beginn jeden Tages eine gute Stunde lang. Die nur schwach vorhandenen, weil beinahe zur Gänze weggezupften Augenbrauen wollen erstmal schwungvoll gemalt, die falschen Wimpern geklebt und die viel zu breite Nase schmal geschminkt werden. Nach einem finalen skeptischen Check im Spiegel ist Snowflirty nun zumindest soweit mit sich und ihrer Optik zufrieden, um den Tag starten zu können.

 

Doch zuerst das immer wiederkehrende Ritual: Sie lässt das Display nicht aus den Augen, in dem sie sich spiegelverkehrt sieht. Die Lippen unnatürlich schmollend zum Duckface geschürzt, die Hand, die das Gerät hält, am ausgestreckten Arm schräg gen Himmel zeigend zupft sie ihre wasserstoffblonden Extensions noch ein letztes Mal zurecht, bevor sie etwa 18 Mal den Auslöser drückt, jedes Mal eine millimeterkleine Abweichung im Winkel, Blick, Lippengeschürze. Ein Lächeln sucht man auf diesen Fotos vergebens. Die frisch gebleachten Zähne hält Snowflirty zwar schon ganz gern in die Kamera, doch findet sie sich cooler, wenn sie nicht grinst. So hat sie keine Falten um die Augen. Aus den 18 Fotos wählt sie eines aus. 

 

„Hier sieht meine Jawline am Besten aus, und die Schlüsselbeinknochen treten hervor, ich sehe fast mager aus. Großartig!“ Denkt sie, bevor sie das Foto mithilfe von facetune dennoch stark bearbeitet. Kontrast und Helligkeit erhöhen ist etwas für Anfänger; Snowflirty kennt alle Tricks und Kniffe um sich – in ihren Augen – noch mehr zu optimieren. Die eben bedachte Jawline – die gut sichtbare Kieferkontur – wird noch prominenter, die Schatten um die Schlüsselbeinknochen dunkler, das Gesicht gesamt etwas ovaler, die hohe Stirn korrigiert und die Farben der Augen eine Spur kristallblauer, als sie es tatsächlich sind. Als Snowflirty schließlich zufrieden mit dem Ergebnis ist, wird das Bild noch mit dem Maximum an 30 möglichen Hashtags versehen.

#thestruggleisreal #naturalbeauty #loveyourself #instamodel #lifestylegoals #nutzedentag und dergleichen tippt sie flink, trotz störend langer pinker Acrylfingernägel in das smarte Telefon. 

 

Und: gepostet. 

 

Heute hat sie ein Date. Nachdem der letzte vermeintlich gute Fang sie nach nur ein paar gemeinsamen Wochen verlassen hatte, mit den kryptischen Worten, dass sie ihm zu seicht sei, ist sie nun erneut auf der Suche. Sie ist überzeugt davon, dass eine Frau ihres Kalibers einen Mann verdient hat, der es zu schätzen weiß, dass sie ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit immer und überall in eine andere Liga katapultieren würde und dafür auch bereit dazu sein sollte, ihr Leben und ihren #lifestyle zu finanzieren. In einer Online-Vermittlungsbörse, deren Slogan dafür wirbt, „Singles mit Niveau“ zu vermitteln, hat sie mehrere Anwärter gefunden. Einen davon, Anwalt mit eigener Kanzlei und City Apartment, wird sie heute treffen. Wie heißt er nochmal? Markus? Martin? Manfred? Whatshisname ist gute 20 Jahre älter als Snowflirty selbst, und war auf mehreren seiner Profilfotos mit einem Sportwagen abgebildet. Und sportliche Männer fand sie schließlich immer schon attraktiv. 

 

Snowflirty lässt sich Zeit bei der Wahl ihres Outfits. Nach mehreren Fehlversuchen entschließt sie sich für das enge Leopardenkleid, gepaart mit schwarzen Heels. Damit lag sie noch nie daneben. Perfektes Outfit, um am Samstagnachmittag Eis essen zu gehen.
Sie verlässt das Haus und lässt sich von einem stummen Uberfahrer zum Treffpunkt fahren. In diesen Schuhen kann schließlich wirklich niemand von ihr erwarten zur Ubahn zu laufen. Im Auto checkt sie nochmal den Namen ihres Dates und hat noch Zeit, um Instagram zu öffnen. 

 

„Display, Display in der Hand, wer ist die schönste im Instaland?“ Snowflirty registriert die Likes des zuvor geposteten Pics, und ist schlagartig verstimmt. Die Likes trudeln nicht in der Frequenz ein, wie sie es gewohnt ist und erwartet hat. Sie sieht das Bild noch einmal an und gerät ins Zweifeln. „Sind die Haare vielleicht nicht voluminös genug? Habe ich zu wenig Blush auf meine Wangen gepinselt? Ist mein Spray-Tan schon verblasst, oder kleben die Wimpern schief?“ Schnell ist die Front-Kamera eingeschaltet, um all das zu überprüfen. Doch dann ist keine Zeit mehr. Jetzt muss sie sich darauf konzentrieren bei Markus – so heißt er! – einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

 

Sie sieht ihn schon, als sie den Gastgarten des Eissalons betritt. Er sieht zwar gute 15 Kilo schwerer aus als auf allen Fotos, die ihn in der Dating-App zeigen, dafür aber auch gute 10 Jahre älter. Snowflirty aber konzentriert sich auf die Rolex an seinem Handgelenk, die teure Sonnenbrille im spärlichen Haar und die Italienischen Designerschuhe an seinen Füßen. Sie begrüßen und setzen sich, die Bedienung kommt, um die Bestellung entgegenzunehmen.

 

„Die Dame zuerst“ spricht der Herr, ganz galant und deutet mit einer Handbewegung auf sein Gegenüber.
„Ein Mineralwasser“ sagt Snowflirty. 

„Kein Eis? Schau mal, hier gibt‘s die tollsten Kreationen..“ Markus blättert demonstrativ durch die Fotos in der Eiskarte.

„Danke. Ich mag Süßes nicht so gern“ lügt Snowflirty, und wendet sich nochmal an die Bedienung. „Einen decaf Latte Macchiato bitte, aber laktosefrei. Und mit Süßstoff.“

Markus scheint es kurzzeitig die Sprache verschlagen zu haben, dann sammelt er sich. „Für mich bitte den Banana Split, danke.“

Die beiden führen den Smalltalk, den sie bereits über die App begonnen hatten, weiter, während sie an ihrem Kaffee nippt und er sein Eis löffelt. Doch in Gedanken ist Snowflirty bei ihrem letzten Post und überlegt nach wie vor, warum nicht mehr Leute sie und ihr Foto liken.

 

Als sie sich nach etwa einer Stunde verabschieden, da Markus plötzlich ein dringender Termin eingefallen ist, stöckelt Snowflirty Richtung Straße, um sich ein Uber zu bestellen. Während sie wartet, checkt sie wiedermal ihre Likes und ist nicht erfreut. Sie tut, was sie versucht hat zu unterlassen: sie schaut auf die Profile der drei angesagtesten Instamodels ihrer Stadt, die ebenfalls mehrmals täglich neue Beiträge posten und sieht mit steigender Wut die Anzahl derer Likes. @influencia @dementia und @malefizencia haben ganz klar weitaus mehr Likes und Followers als @snowflirty. Wutentbrannt starrt sie aufs Display, als ihr Uber bereits auf der anderen Straßenseite hält. Mit dem pochenden Rauschen ihres Bluts in den Ohren stöckelt sie los, und da ggrrsschh…

 

Mehrere Wochen später, im vierten Stock des unglamourösesten Krankenhauses, öffnet eine stark verwandelte Snowflirty ihre Augen. Sie ist verwirrt, weiß nicht, wo sie ist, wie sie dorthin gekommen ist. Durstig greift sie zum Wasserglas neben dem Bett und nimmt einen großen Schluck. Da wird der junge Pfleger, welcher gerade das Leintuch des Bettes gegenüber wechselt, auf sie aufmerksam. 


„Na, ausgeschlafen?“ Er lächelt, als er an ihr Bett herantritt und Geräte und Infusionen überprüft.

„Hmm … glaub schon“, erwidert Snowflirty unsicher. „Was ist denn passiert? Ich kann mich an nichts erinnern.“ Sie greift sich nachdenklich an die Schläfe.

„Du wurdest von einer Straßenbahn erfasst, hattest aber sehr viel Glück. Ein paar Knochenbrüche und eine kleine Gehirnblutung durch den Aufprall … aber im Detail soll dir das lieber ein Arzt erklären.“ Er hält nach wie vor Blickkontakt.
Snowflirty schaut gebannt in seine Augen, wo sie ein Funkeln entdeckt, dem sie gern nachgehen würde. 

„Ok, danke.“ Sie nimmt die Info auf, ohne zu fühlen, dass das ihre eigene Geschichte sei.

„Dann sag ich mal dem Onkel Doc Bescheid, dass die schlafende Schönheit von Zimmer 407 erwacht ist“, flötet der Pfleger und verlässt das Zimmer mit einem kleinen Hopser in seinem Gang. Aber nicht ohne ihr zuvor noch ein Lächeln über die Schulter zu werfen, welches sie beinahe wieder direkt ins Koma befördert. 

 

„Schlafende Schönheit“, sinniert sie amüsiert. „Schönheit“, denkt sie. Schönheit? Schönheit! schießt es ihr ein und sie blickt suchend um sich. Kein Telefon, kein Spiegel in greifbarer Nähe. Sie nimmt das Wasserglas und betrachtet ihre Spiegelung. Komplett ungeschminkt, die Extensions rausgewachsen, das Haar fettig, der Ansatz viel zu dunkel, die Nägel an ihren Fingern kurz und Natur pur. Natur pur auch ihre Wimpern und Augenbrauen. Ihr erster Impuls ist es im Erdboden versinken zu wollen oder sich zumindest unter der Decke zu verkriechen. So lag sie hier nun diese ganze Zeit? Wie lange nur schon?

 

Ja, so lag sie hier, denkt sie schließlich, nachdem der erste Schock abgeklungen ist. Für alle sichtbar. Aber sie liegt nur noch hier, weil sie atmet und lebt. Der Versuch mit einer Straßenbahn kuscheln zu wollen kann weitaus tragischer enden. Eine Welle der Rührung schwappt über sie; sie schämt sich dafür, womit sie bisher ihr Leben verbracht hat. Dafür, welche Dinge ihr so unglaublich wichtig schienen. Dinge, die so einfach zu kriegen sind wie künstliche Nägel oder Haare sind nunmal auch genauso einfach und schnell wieder weg. Sie haben keinen Wert, keine nachhaltige Bedeutung. Somit sind solche Dinge vielleicht doch nicht so wichtig wie die Person dahinter, überlegt Snowflirty.

 

Apropos Person dahinter, denkt sie. Sie spürt das Verlangen die Person hinter dieser höchst unsexy Pflegeruniform kennenzulernen. Den, der sie Schönheit nannte, als sie so „nackt“ und verletzlich war, wie es eine Frau, die es gewohnt ist, sich hinter Schichten an Make-Up, Farbe und so manchen künstlichen Körperteilen zu verstecken, nur sein kann.

 

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