Von Ursula Riedinger

Cha schob das schwarze glänzende Stück rasch unter ihren Fellumhang. Langsam ging sie weiter, vorbei an der Werkstatt, wo ihre Brüder und ihr Vater arbeiteten. Niemand hatte gesehen, dass sie ein Stück des geheimnisvollen Materials aufgehoben hatte, das da ein paar Schritte von ihren Füssen entfernt gelegen hatte. Cha wusste genau, dass es Frauen streng verboten war, die schwarzen Steine zu berühren. Es brachte den Männern angeblich Unglück bei der Jagd. Warum sie ihn trotzdem aufgehoben hatte, hätte sie im Moment nicht sagen können. Vielleicht, weil sie immer schon fasziniert gewesen war davon. Sie hatte ihre Brüder oft darüber sprechen hören. Sie waren stolz, Pfeilspitzen-Behauer zu sein, das konnten sie nicht verbergen. Aber Frauen sollten besser nichts darüber wissen. 

Nun, sie wusste halt das eine oder andere, dagegen konnten sie nichts machen. Und nun besass sie selbst ein faustgrosses Stück. Den ganzen Tag kehrten ihre Gedanken immer wieder zu ihm zurück. Stets war sie besorgt, den Stein sicher zu verwahren bei allen Aufgaben, die ihr aufgetragen wurden. Sie wusste, dass sie dieses Geheimnis mit niemandem, auch nicht mit ihrer besten Freundin Ing teilen konnte. Erst spät abends ergab sich endlich die Gelegenheit, den Fund richtig anzuschauen. Sie hatte sich selbst ein Versteck aus Zweigen gebaut, in das sie sich ab und zu zurückzog. Noch nie war sie hier aufgespürt worden. Ganz, ganz vorsichtig zog sie das Stück, das sich kühl und glatt anfühlte, hervor. Es war wunderschön. Sie strich darüber. Es war schon teilweise behauen, hatte glatte Flächen und sehr scharfe Kanten. Erschrocken zog sie die Hand zurück, als sie sich damit in den Finger ritzte. Dann hielt sie es näher ans Gesicht und erschrak. Ein Geist blickte ihr entgegen. Der Geist des Steins war hier, um sie, Cha, zu bestrafen, weil sie es gewagt hatte, das verbotene Material anzufassen. 

„Verzeih mir, ehrwürdiger Stein, ich wollte nichts Böses tun.“

Der Geist blieb ruhig. Sie blickte nochmals zögernd darauf. Der Geist trug lange Haare so wie sie. Und ein Amulett um den Hals, so wie sie. Vielleicht war es ein weiblicher Geist, der ihr wohlgesonnen war. Sie konnte nur hoffen. Sie versteckte den Stein weit entfernt von ihrem Lager. Nichts war passiert. Aber Cha blieb angespannt. Die Bestrafung konnte irgendwann eintreffen. Als mehrere Tage nichts Aussergewöhnliches geschehen war, wagte sie den Stein wieder in die Hand zu nehmen. Der Geist war wieder da. Er lächelte.

Die Wochen vergingen. Cha war nicht bestraft worden. Im Spätsommer würde sie und andere junge Mädchen in den Kreis der Frauen aufgenommen. Cha freute sich sehr darauf, das Ritual zusammen mit Ing zu erleben. Ihre ein Jahr ältere Schwester war auch dabei. Die Mädchen verbrachten eine Woche abgeschieden in einer Höhle in der Nähe. Die alte Schamanin Sia besuchte sie jeden Tag und weihte sie in die Geheimnisse des Frauseins ein. Am letzten Tag vor dem Fest, holte die Schamanin sie einzeln zu sich. Sie sollten ihr Herz frei machen von Bösem und der Schamanin alles erzählen, was sie auf dem Herzen hatten. 

Cha war nervös. Sie musste der Schamanin vom Stein erzählen, aber sie fürchtete sich sehr davor. Als es so weit war, nahm sie das Stück, eingehüllt in etwas Stoff, mit. Die Schamanin schaute ihr lange in die Augen.

«Du hast ein Geheimnis, das dir auf der Seele liegt, Cha.»

Cha zuckte zusammen. Sie wusste es also schon. 

«Ehrwürdige Sia, ich habe etwas gefunden, das mir viel bedeutet.»

Sie reichte ihr das Handstück.

Sia schaute sie streng an. 

«Du weisst, dass du dies als Frau nicht berühren, geschweige denn besitzen darfst?»

«Natürlich weiss ich es, Ehrwürdige. Aber, aber ich …»

«Du liebst den Stein?»

«Ja, ich konnte nicht anders. Muss ich …, muss ich ihn zurückgeben?»

«Dass der Obsidian zu dir gekommen ist, hat eine Bedeutung. Darum ist es unter diesen Umständen besser, du behältst ihn für dich. Aber wichtig ist, gut darauf aufzupassen. Wenn dich jemand damit sieht, dann wehe dir. Der Stein hat viel Macht in sich. Mit der Zeit wirst du verstehen, was der Stein für dich bedeutet, was er von dir verlangt.»

«Oh, danke, ehrwürdige Sia, ich werde ihn gut hüten. Ist denn der Geist darin nicht böse auf mich?»

«Du hast einen Geist gesehen?»

«Ja, er, oder eher sie, denn sie hat Haare wie eine Frau, schaut mich immer an, wenn ich den Stein betrachte.»

Sia musste lachen. 

«Liebe Cha, der Geist bist du selbst. Wenn du dich selbst mit genügend Abstand betrachten kannst, wirst du auch andere Menschen verstehen lernen.»

«Das bin ich? Die Frau im Stein?»

Die Erkenntnis verwirrte Cha gehörig und sie war bis zum grossen Fest sehr schweigsam. Es gab so vieles, worüber sie nachdenken musste. 

Die Mädchen wurden von ihren Müttern oder anderen weiblichen Verwandten mit neuen Gewändern und neuem Schmuck ausgestattet. Sie erhielten auch einen Kopfschmuck, an dem sie als erwachsene Frauen zu erkennen waren. Es wurde reichhaltig gegessen, auch die Mädchen erhielten mehr Fleisch als sonst üblich, damit sie stark wurden. Es wurde gelacht und getanzt. Cha hatte ihre Mutter vor ein paar Jahren verloren. Seitdem übernahm ihre Tante diese Aufgabe, aber Cha verstand sich mir ihr nicht besonders gut. An ihrer Tante würde es auch sein, bald einen Mann für Cha aus einem befreundeten Stamm auszuwählen. 

Für Cha eilte dies keineswegs. Sie hatte genug ältere Freundinnen, die nicht mehr die gleichen waren, sobald sie verheiratet waren. Einige beklagten sich auch, dass nun alles nach den Wünschen des Mannes ging. Es gab auch in ihrem eigenen Stamm junge Männer, die ihr schöne Augen gemacht hatten, aber sie fand die meisten ziemliche Angeber. 

In den folgenden Wochen zog sich Cha immer mal wieder zurück, um mit dem weiblichen Geist im schwarzen Stein zu sprechen. Sie erkannte nun klar, dass sie es selbst war, aber trotzdem sprach sie zu ihr wie zu einer Fremden, bis sie mit ihr vertrauter war. 

Doch eines Tages erschrak sie, den sie erblickte im Stein anstelle ihres eigenen Gesichts einen Bärenkopf. Die Bärin riss ihr Maul auf und liess ein tiefes Knurren hören. Cha hielt den Stein ganz fest. 

«Liebe Bärin, tu mir nichts, ich werde dich immer verehren und verspreche dir eine Opfergabe, wenn du mich beschützt.»

«Abgemacht, Cha,» brummelte die Bärin, und das Gesicht von Cha spiegelte sich wieder im Glasstein. 

Die alte Schamanin rief Cha zu sich. 

«Hattest du vor kurzem eine ungewöhnliche Begegnung?»

«Woher weisst du …, ehrwürdige Sia?»

Sia lächelte mit ihrem fast zahnlosen Mund. Sie öffnete ihren Lederbeutel, den sie um den Hals trug, und zeigte Cha einen Bärenzahn.

«Mein Schutztier hat zu dir gesprochen. Weisst du, was das bedeutet?»

«Nein, ehrwürdige Schamanin.»

«Dann denk darüber nach.»

Cha fürchtete sich nicht mehr vor der Bärin. Sie verstand, dass Sia ihr auf diese Art eine Botschaft sandte. Eines Abends schaute sie sich im Spiegel des Obsidiansteins an und erkannte neben ihrem Antlitz eine Rassel, ein Symbol der Schamanin.

«Ehrwürdige Sia, ich kann doch nicht … Ich bin noch viel zu jung.»

«Fürchte dich nicht, Cha, du wirst alles lernen. Ich werde es am nächsten Treffen der Stammesführer verkünden.»

Chas Tante machte immer wieder Bemerkungen, dass sie am Treffen der Stammesführer auch einen Mann für Cha auswählen würde. Cha wurde nervös. Was, wenn sie gleich verheiratet würde, ohne dass sie etwas dazu sagen konnte?

Das Treffen kam und am ersten Abend erschien die alte Seherin mit ihrer Rassel. Es wurde still.

«Verehrte Stammesführer, ich habe eine Mitteilung zu machen. Die Geister haben zu mir, die ich nun alt und gebrechlich geworden bin, gesprochen, und mir eine junge Schamanin geschickt, die in den nächsten Jahren alles von mir lernen wird, was sie wissen muss. Ihr Symbol ist der mächtige Obsidianstein.»

Gemurmel ringsherum.

«Es ist die junge Cha, die im Spiegel des Obsidians mit den Geisterwesen kommunizieren wird.»

«Sie hat eine Pfeilspitze gestohlen, uns fehlt ein Handstück,» riefen jetzt einige junge Handwerker, unter ihnen auch Chas Brüder Loi und Elu. «Sie bringt Unglück über uns, wenn sie als Frau einen Stein besitzt.» 

Unwilliges Gemurmel ringsherum.

Sia rief die Stammesmitglieder zu Ruhe. 

«Ruhe, jetzt. Das Wort ist gesprochen. Die Geister gewähren uns Schamanen Zutritt zu allem, was wichtig ist. Nur durch dieses schwer erworbene Wissen können wir dem Stamm dienen.»

Langsam ebbten die unwilligen Rufe ab. 

Sia nahm Cha zur Seite und überreichte ihr einen Lederbeutel.

«Hier, für deinen Obsidian, so kannst du ihn stets auf dir tragen.»

Cha lächelte. Dann flüsterte sie Sia zu: 

«Danke Sia, ich werde mich anstrengen, um alles von dir zu lernen. Aber das Beste ist, ich muss den jungen Mann nicht heiraten, den meine Tante für mich ausgesucht hat.»

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