Von Kornelia Wulf

Um seinen Körper breitet sich Dunkelheit aus. Ein Tintenschwarz, aus dem nur der Mond herausschaut. Er wirft sein Licht auf die blauen Flecken, die sich wie Perlen aufgezogen auf einer Schnur über Schultern und Rücken reihen. Hier oben muss Jan sie nicht verstecken. Alles egal, denkt er, von einem bellenden Husten geschüttelt, sich an dem scharfen Zeug in der Flasche verschluckend. Die Spätsommernacht ist schon empfindlich kalt. Doch er spürt nicht den Wind, der die Härchen auf seiner Haut zum Strammstehen zwingt. So still ist die Nacht. Nur der Kauz auf dem Buchenast – auf dem er thront wie ein Klotz – stößt eine Klageballade aus, als habe er sich in sich verloren. Verächtlich gleitet Jans Blick an dem Gefieder hinab. Was für ein plumper Körper. Wie will er fliehen, wenn ihn der Habicht packt, in seinen Nacken hackt. Die schweren Lider fallen. Ich darf nicht in seine Augen starren, es rauscht in Jans Gedanken. Wie Blasen gefüllt mit schwarzem Blut wölben sie sich aus dem weißen Federschleier. Fixieren, als ob sie ihn hypnotisieren wollen. Nein, nein, nein, ein stummer Schrei, wir haben nichts gemein und mühsam schiebt er den Hintern vor auf dem stumpfen Belag des Fünfmetersprungturms. Genauso hatte Jay auf ihn herabgeschaut, Till und Hajo wie immer Schlepptau. Als habe er sie an seine Nikes genagelt. Alles fing so harmlos an, als die drei zurück in die Achte kamen. Freiwillige Wiederholung hatte der Schmid gesagt. Aber Jan erkannte, was sich hinter ihrer Stirn verbarg. Typ Hohlbirne mit Wackelkontakt.

Er streckt seine Beine auf der Absprungfläche aus. Greift nach dem Tagebuch hinter ihm im Rucksack, und die Seiten geöffnet auf seinen Knien liest er im Schein der Sturmleuchtenflamme.

… Genau vor mich musste Jay sich setzen. Wohin auch sonst? Es waren ja nur noch fünf Plätze frei …

Jeden Tag schaute er nun auf die Bomberjacke. In die Höhlen des Todesschädels, der sich zwischen den Schulterblättern aufblähte. Und wenn Jay die Arme hinter dem bulligen Nacken verschränkte, seinen Finger dabei tief im Ohr versenkte, grinste der bleiche Kollege ihn fast freundlich an. Plötzlich, in der Mathestunde – gerade rang er mit Herrn Pythagoras – hörte Jan ein lautes Knacken. Und so sehr er sich bemühte, den Kopf zu drehen, konnte er die Tafel nur durch den Spalt unter Jays linker Achselhöhle sehen. Der nickte ihm zu. „Das kriegen wir wieder hin!“ Beinahe zärtlich umschlossen ihn Schaufelhände, in die Jans Wangen bis zu den Schläfen verschwanden. Hart und kühl fühlten sie sich an wie konservierter Kruppstahl. Aber, Peanuts. Nur drei Tage musste er die Halskrause tragen. Der Schmid hatte ihn dann nach vorn gesetzt. „Dein zarter Nacken muss halt viel Kopf tragen,“ sagte er, „und denk immer dran. Die Kleinen sind oft die Großen im Geiste.“ Lang hat Jan von diesen Worten gezehrt. Sie in seinem Mund hin und herbewegt, wie einen Fruchtdrops, der manchmal unter der Zunge klebt. Wo die Glucose die hässlichen Worte versüßte, die sein empfindliches Rückgrat erzittern ließen. Bis die Säure das Schutzschild durchbrach, das Zitronenaroma sich in die Papillen fraß, als die Getuschelspitzen ihn punktgenauer trafen.

Jan nimmt einen tiefen Zug aus der Flasche. In seinem Schlund scheint ein feuriger Muskel zu wachsen. Ein lautes „Gik, gik“ entfährt seiner Kehle. Der Kampfschrei des Habichts prallt an dunkle Wolkenschichten, während die Seiten zwischen den Fingern knistern.

… schon hinter dem Haselstrauch konnte ich ihn hören. „Hajo, Till, hier isser!“ Voll prolo grölte Mister Oberhohlbirne wieder. Die mit dem Kleinsten müssen halt die dicke Knute schwingen. Wie haben die mich nur gefunden …

obwohl er seine Spuren doch verwischt hatte. Nicht, wie der schlaue Fuchs, mit seinem Schwanz. Nein. Mit dem Ast! Den hatte Jan extra mitgenommen. Und mit Fernglas, Smartphone und Kladde bewaffnet, will er auch keine Beute machen, wenn er morgens im schwebenden Frühsonnenschein den Camouflagedrill über grüne Boxershorts streift. Und wenn er zur Tür schleicht am Bad vorbei, trifft er dort auf seinen Vater, der erleichtert vom ersten Harn abschlagen schläfrig murmelt „Ach Jan, von einem fremden Baum bist du wohl in unser Nest gefallen.“ Jan holt dann sein Rad aus der Garage, tritt mit Schwung in die Pedale. Und wenn das Himmelslicht rosarot durch die Baumkronen bricht, singt er das Gimpellied. Amsel, Drossel, Fink und Star. Das Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren – alles fein säuberlich spezifiziert. Schon 27 Arten kann er unterscheiden. Das Herz pumpt sich auf, luftballongleich, wenn Jan den kleinen Hain erreicht, der von einer dichten Hecke gesäumt, sein Revier von der Wiese des Waldfreibads trennt. Letzens hat er ein Loch im Zaun entdeckt, sich durch Fliederbeeren und Draht gezwängt, seine Bahnen im Becken gezogen.

Fruchtzwerg. Immer ruft er Fruchtzwerg, wie letzten Freitag, als mein Bauch an das Holz des Sprungkastens knallte. Kann der nicht endlich die Fresse halten …

und Jan schaut hinab auf die weißen Falten, die sich über den Bund seiner Badehose wölben.

… so komisch schaute Jay mich an. An wen erinnerst du mich nur, sülzte er. Hat sich dann auf die Stirn gehauen. Mann. Jetzt weiß´s ich. Charlie Brown. Der aus der Comicsammlung meines Vaters, die ich  bei Todesstrafe nicht anfassen darf. So siehst du aus. Charlie Brown, Jungs, voll der Loser. Der lässt sich von seiner Alten sogar den Football klauen

… Charlie, Chaaarlie, Chaaaarliieee! …

Manchmal stellen sie ihm nun auf dem Schulhof ein Bein. Rollen ihn über grauen Asphalt. Grell ihr Geschrei. „Ey, Charlie, du bist selbst ein Football Ei!“

Jan saugt den letzten Schluck aus der Flasche. Ein feines Brennen in seinem Magen, während ein Rülpser die Stille der Nacht ankratzt. Vorsichtig reißt er Seite für Seite heraus. Und sein Blick schwenkt hinüber zum Buchenast. Der blöde Kauz, er hockt noch dort, umrahmt vom bleichen Mondenschein.

Und aus der schwelenden Glut im Magen schießt eine wilde Wutstichflamme.

Warum hatte er es nicht mitgenommen. Eine Pumpgun. Oder – noch besser – ein Messer.

Als er sich gestern mit Patty traf. Eindeutig die Schönste in der 8a. Dieser Kastanienglanz, dieses weiche Haar – sein Hirn fühlte sich voll wattig an. Ganz früh war sie in sein Revier gekommen. Als die Sonnenmundwinkel noch müde zuckten. Den Kopf an seine Brust gelehnt, hat sie zu ihm heraufgeschaut. „Wow, wie geil! Was du alles weißt.“ Er atmete den Duft, diese salzige Süße, schmeckte Omas Honigkuchen, glasiert mit ein paar Tropfen frischen Schweiß. Gebettet auf seiner Camouflagejacke, sind die Finger unter die Bluse gekrabbelt, wo sie ihren Schlupfwinkel fanden. Ruhten dort aus auf gewellter Haut, die sich rasch hob, wieder absenkte, während Pattys Hand ihn aufwärts lenkte. Zu den zwei kleinen Kissen, milchig weiß, in die er gerade versinken wollte, als Jan den Waldboden aufstöhnen hörte.

„Sieh an, sieh an.“ Drei fiese Grimassen warfen riesige Schatten. „Der Charlie treibts nicht nur mit den Vögeln.“

Vergeblich versuchte er sich an ihn festzuklammern. An den Zauber des Moments, von dem Jan sich wünschte, er ende niemals, als Patty aufsprang, die ihre Arme über der Brust verschränkend mit einem Mix aus Wut und Wimmern zwischen den Buchen verschwand.

Vor Jans Augen wallte ein roter Schleier. Voll schlug er zu. Voll in die bleiche Schädelfresse, während Jay ihm den Bomberjackenrücken zuwandte, bis ihr Grinsen sich in den Stoff einbrannte. Schließlich hatte das auch der Schmid gesagt, „Wehr dich doch endlich“, als er ihn um Hilfe bat. Der Jay hat nur kurz aufgelacht. „Uuh, Charlie, ich bibbere vor Angst!“, bevor Jan sie an Fesseln und Armen spürte. Ihre Kruppstahlhände. Premiumqualität. Über Baumwurzeln, Blätter, spitzem Gestein haben sie ihn durch den Hain geschleift. Bis vor das Geäst des Haselstrauches, das sich empfindlich in Schultern und Rücken bohrte. Dort ließen sie ihn einfach fallen, auf ein paar Ballen. Klumpig und schwarz sah sie aus, die Hinterlassenschaft des Keilers.

„Mann, du stinkst!“ Und Jays Worte zerbrachen die innerste Schranke. Die aus dem durchscheinenden Porzellan gebrannte. „Nie wieder wird die Patty dich anpacken!“

Einen Moment lang – pure Stille – selbst der Kauz vergisst zu atmen – bis der Jan zur Seite greift und ein Tagebuchblatt in den Händen hält. Er faltet exakt, Kante auf Kante, obwohl die Finger verdächtig zittern. In der Grundschule war Jan Origamimeister. Ein Geheimnis. Das sagt er keinem. Zärtlich streicht er über die knisternden Ecken, die sich spitz und lang an den Seiten ausstrecken. „Ja, ja, ich weiß es, mein tapferer Kranich. Starke Flügel sind dir gewachsen, die können dich sogar bis Afrika tragen.“ Weit holt Jan aus. Gibt ihn frei. Ruft „See you later. Vielleicht in Spanien.“

Er richtet sich auf dem Sprungturm aus. Die Muskeln eisern angespannt, versucht er die Welt am Wackeln zu hindern. Die Arme ausgebreitet bis zum Anschlag, beugt er die Knie und gibt den Adler. Bei dem er Mama stets schimpfen hört, wenn sie ihn beim Yoga übt und dabei die Knochen verbiegt. Dann hebt er ab. Jan fühlt die Luft. Kühl wie ein sanfter Seidenhauch umflattert sie seinen zitternden Körper, nur für einen Wimpernschlag, an dem er versucht, sich festzuklammern, bevor ihn ein Sturzflug abwärts zieht. Und er gleitet vorbei an dem weißen Schild, aufgestellt am Beckenrand.

Wegen dringender Sanierungsarbeiten wird das Waldfreibad bereits am 10.09.2022 geschlossen. Wir freuen uns, Sie im Mai 2023 hier wieder begrüßen zu dürfen.

 

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