Von Herbert Glaser
Rob malträtierte seinen Kugelschreiber im Viertelsekundentakt. Klick – klack, klick – klack, klick – klack.
Seit einer geschlagenen Stunde versuchte er vergeblich, sich einen passenden Text einfallen zu lassen.
Ein weiterer Versuch: >Sehr geehrte Frau …<. Nein, viel zu förmlich.
Der nächste zerknüllte Zettel landete im Papierkorb.
Rob lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, um sich zu sammeln.
Die Symphonie des telefonierenden, tippenden, tintenstrahldruckenden Orchesters, gespielt von unzähligen Kollegen, brandete heute besonders heftig an seine Ohren wie aufgewühlte Meeresbrandung an schroffe Felsen.
Wie er dieses Großraumbüro hasste! Aber nachdem der Kiosk, in dem er gearbeitet hatte, geschlossen worden war, musste er sich mit Jobs wie diesem über Wasser halten.
Auf seinem Stuhl rollte er zum offenen Eingang des Büroabteils, das nur von dünnen, verstellbaren Wänden gebildet wurde, und beugte sich so weit wie möglich in den Gang. Am anderen Ende, dem Kaffeeautomaten gegenüber, arbeitete die Frau seiner Träume. Er konnte sie nicht wirklich sehen, denn die Zellenbüros waren alle exakt in einer Reihe angeordnet. Man musste schon daran vorbei gehen, um einen Blick auf die anderen Gefangenen werfen zu können.
Offener Vollzug, ging es ihm durch den Kopf, wie treffend.
„Was wird denn das“, blaffte es aus dem Abteil gegenüber, „gymnastische Übungen?“.
Ertappt richtete Rob sich auf und schaffte es gerade noch, nicht vom Stuhl zu kippen. Mit der Miene eines Menschen, der bei einer ungeheuer wichtigen Beschäftigung von etwas ungeheuer Unwichtigem gestört wurde, glitt Rob zu seinem Schreibtisch zurück.
Er musste sich etwas einfallen lassen. In etwa einer Stunde würde seine Angebetete ihren Dienst beenden, wie jeden Tag um diese Zeit.
Eine Stunde … seine letzte Chance vor den Weihnachtsfeiertagen. Ob er im neuen Jahr den Mut finden würde? Bis dahin konnte noch so viel passieren, also: Jetzt oder nie!
Konzentriere dich! Denk an das letzte Betriebsfest.
„Was haltet ihr davon“, warf sie locker in die große Runde und hob ihr Rotweinglas, „wenn wir zum `Du´ übergehen, schließlich sind wir Kollegen – ich bin Constance.“
Die Selbstsicherheit, mit der sie sich gab, schien aus einem inneren Gleichgewicht zu kommen.
Constance: Anfang dreißig, geschmeidig, mit zarter Haut, neugierigen blauen Augen und einem schwarzen Lockenkopf. Ihr Knochenbau war so ausgewogen, dass sich Rob an eine seltene Katzenrasse erinnert fühlte.
Er stand auf und betrachtete sich in einem kleinen Spiegel an der Wand. Durchschnitt, mehr nicht. Mit seiner etwas zu groß geratenen Nase und der beginnenden Glatze war er kein Hauptgewinn, das war ihm bewusst. Dafür trug er seit einiger Zeit ordentlich gebügelte Anzüge. Guter Durchschnitt also, mindestens.
Rob zog sein Sakko glatt und stellte sich auf die Zehenspitzen. Außer ein paar Hinterköpfen war nichts zu sehen.
Selbst überrascht von seiner plötzlichen Entschlossenheit trat er auf den Gang, der von Neonleuchten erhellt wurde, die sich hinter Deckenverkleidungen verbargen. Er ignorierte den Kloß in seinem Bauch und marschierte los, dem Kaffeeautomaten entgegen.
Der große Raum wirkte auf ihn wie ein Resonanzkörper, in dem alle ohne jeglichen Takt schwingenden Töne aufgenommen und verstärkt wurden. Einem Eisbrecher gleich schnitt der Bug von Robs Stirn durch das lärmende Meer.
Endlich stand er vor dem Automaten. Nur aus den Augenwinkeln hatte er Constance erspäht, sie arbeitete nur drei Meter von seinem Rücken entfernt. Robs Herz schlug rasend schnell.
Er kramte in seinen Taschen und fand … nichts … er hatte keine Münzen dabei. Panik stieg in ihm auf.
Was soll ich jetzt tun?
Natürlich könnte ich sie fragen, ob sie mich zu einem Kaffee … ob sie mir vielleicht etwas Kleingeld borgen könnte. Aber muss sie mich dann nicht für einen kompletten Idioten halten?
„Fällt dir keine bessere Anmache ein?“, würde sie bestimmt sagen … oder zumindest denken.
Rob drehte sich abrupt um, kam ins Straucheln, streifte Constances Trennwand, erhaschte kurz ihren Blick, bemerkte ein Lächeln und stolperte seiner schützenden Zelle entgegen, empfindlich geworden wie ein Einsiedlerkrebs, der ohne sein Muschelgehäuse das Meer durcheilt.
Erleichtert sank er auf seinen Stuhl, schlug die Hände vor das Gesicht und drückte die Finger so fest auf die geschlossenen Augen, dass die Farben an der Innenseite seiner Lider explodierten.
Dann schüttelte er den Kopf aus und wartete, bis sich die Gedanken in seinem Schädel beruhigt hatten, wie Billardkugeln nach einem Eröffnungsstoß.
Vielleicht war es gar kein Mitleidslächeln, versuchte er, sich Mut zu machen. Und überhaupt, jetzt ist schon alles egal, schlimmer kann es nicht mehr kommen.
Er startete das mail-Programm, begann zu tippen und … hielt inne.
Nicht per email! Wenn das jemand liest … und außerdem: Privates über den Firmencomputer … das gibt Ärger.
Mit dem Mut der Verzweiflung tippte er in sein Smartphone.
>Liebe Constance, könntest du dir eventuell vorstellen, zu einem gegebenen Zeitpunkt mit mir …< DELETE.
>Wäre es dir irgendwann vielleicht möglich, dass du mit mir …< DELETE.
>Ich wäre sehr glücklich, wenn es dein Zeitplan hergibt …< DELETE.
Rob sackte in sich zusammen. Mit geschlossenen Augen schickte er ein Stoßgebet zum Himmel – ein kleines Tauschgeschäft mit dem lieben Gott.
Letzter Versuch! >Liebe Constance, ich würde dich sehr gerne zum Essen einladen. Kenne einen hervorragenden Italiener. Freue mich auf deine Antwort. LG vom Kollegen aus Büroabteil 89.<
Im Adressbuch tippte er auf ihre Nummer, die er während des Betriebsfestes aufgeschnappt hatte und danach auf send. Na also, die SMS war unterwegs.
Völlig erschöpft drehte Rob sich langsam mit seinem Stuhl hin und her, den Blick unentwegt auf sein Smartphone gerichtet.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrten seine Lebensgeister zurück. Er stand auf, trat auf den Gang und zuckte zusammen. Constance war aufgestanden und ging in Richtung … Ausgang.
Das war`s. Es ist aus. Sie will nichts mit mir zu tun haben, ich habe es gewusst.
Überraschenderweise ging sie jedoch an der Treppe zum Ausgang vorbei und weiter auf das Büro des Chefs zu.
Auch das noch, sie beschwert sich und ich bekomme eine Abmahnung. Oder … schlimmer noch, eine Kündigung wegen sexueller Belästigung. Ich bin geliefert.
Mit hängenden Schultern betrat Rob wohl zum letzten Mal seine Bürozelle und ließ seinen Blick wehmütig über die wenigen Einrichtungsgegenstände schweifen. Lange stand er reglos da, bevor er resigniert begann, die Schubladen nach persönlichen Dingen zu durchsuchen.
„Heute Abend um acht würde es mir sehr gut passen.“
Rob starrte Constance an wie einen Eisbären, der sich im tropischen Dschungel verirrt hatte.
„Aber …“, stammelte er, „ich dachte, Sie … du warst beim …“
„Entschuldige, ich wollte dir gleich antworten, aber ich musste noch schnell auf die Toilette.“ Ihre Stimme war melodisch wie der Klang einer gut gestimmten Geige.
Rob starrte sie mit offenem Mund an.
„Also, wenn es heute Abend ungünstig ist, dann …“
„Nein … doch … äh, heute Abend wäre toll. Soll ich dich … ich meine wo …? Ich hole dich natürlich ab, wenn es dir recht ist.“
„Das wäre schön, hier ist meine Adresse.“
Sie reichte ihm eine Visitenkarte. „Wie ist eigentlich dein Vorname?“
Rob sah sie an, als ob sie ihn um die Erklärung der Relativitätstheorie gebeten hätte.
„Mein Vorname … also ich heiße … alle nennen mich nur Rob.“
„Na gut, geheimnisvoller `Rob´, dann haben wir schon Gesprächsstoff für heute Abend. Ich freue mich. Also bis später.“
„Ich werde da sein … um acht … bei dir und … danke!“
Ungläubig betrachtete Rob Constances anmutigen Gang, bis sie wieder in ihrem Büroabteil verschwunden war. Die Geräuschkulisse im Großraumbüro summte lieblich wie eine Stimmgabel.
Tänzelnd bewegte er sich an seinen Platz zurück und dankte dem Himmel für diesen wunderbaren Tag.
Für Rob war Weihnachten bereits heute.
ENDE
Version 3