Von Monika Heil
Sie hätte eine Stunde eher aufstehen müssen! Sie hätte sich nicht noch die Haare waschen sollen! Sie hätte pünktlich aus dem Haus gehen müssen! Sie hätte einen zeitigeren Zug nehmen sollen. Dann hätte sie anschließend einen Bus früher erwischt. Hätte, hätte, hätte! Tina ärgert sich maßlos. Wieder einmal haben alle guten Vorsätze nichts genützt. Ich komme zu spät, denkt sie. Mist! Es ist immer dasselbe. Sie wirft einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. Zum fünften Mal in den letzten drei Minuten. Vor einer halben Stunde war sie im Café Lilienthal verabredet gewesen. Was soll Uwe nur von ihr denken? Ihr erstes Date mit dem netten Chatpartner aus dem Literaturforum und sie kommt zu spät.
Endlich – Haltestelle Marktplatz. Tina springt aus dem Bus, macht drei schnelle Schritte und bleibt plötzlich stehen. Ein junger Mann, der es offenbar sehr eilig hat, rempelt sie unsanft an. Tinas Stadtplan rutscht ihr aus den Händen. Sein Eis am Stiel kleckert auf ihr T-Shirt.
»Kannst du nicht aufpassen, du Penner?«, herrscht sie den Fremden an und bückt sich.
»Wieso ich? Wer ist denn wie eine Trotteline stehen geblieben? Wie kann man nur so blöd sein und mitten auf dem Bürgersteig eine Vollbremsung machen«, kontert er wütend und bückt sich ebenfalls. Sie greifen gleichzeitig nach dem Stadtplan. Tinas Arm streift das Eis. Der junge Mann lässt es endgültig fallen.
»Jung und blond, na super!«
»Blödmann. – Danke.«
Sie hat ihren Stadtplan zurück. Der junge Mann steht behände wieder auf. Kopfschüttelnd eilt er weiter. Tina kickt den Eisrest mit dem Schuh in den Rinnsteig und versucht erneut, sich zu beruhigen. Plötzlich kommt ihr ein schrecklicher Gedanke. Und wenn das jetzt Uwe war? Wie vom Blitz getroffen, bleibt sie schon wieder abrupt stehen. Sie merkt, dass ihre Wangen rot anlaufen, ihr Adrenalinspiegel steigt. Quatsch! Das wäre ja wirklich ein blöder Zufall. Das gibt es nur im Film.
Wo ist jetzt das Café? Sie kennt sich hier nicht aus. Da entdeckt sie die Schriftzeichen an der Fassade eines gelb getünchten Fachwerkhauses. Sie atmet bewusst langsam ein und aus, setzt sich in Bewegung, umrundet einen kleinen Springbrunnen, weicht bunten Blumenrabatten aus und heftet ihren Blick auf das Gebäude. Da sieht sie ihn zum zweiten Mal. Er hat das Café erreicht, öffnet die in Ocker gestrichene Eingangstür und verschwindet im Inneren des Hauses. Tinas Herz schlägt Trommelwirbel. Das ist Uwe! Ich geh´ da jetzt nicht rein! Der Spinner ist Uwe? Und wenn nicht? Alter passt, Figur? Kenne ich nicht. Trotzdem, das ist Uwe. Sieht gut aus, der Typ.
Jetzt steht Tina vor dem Café, wagt einen flüchtigen Blick durch das Fenster. Entschlossen öffnet sie schwungvoll die Tür. Das Café ist klein. Nur sechs Tische. Zwei sind unbesetzt. Die beiden alten Damen gleich neben dem Eingang schauen missbilligend von ihren Tortenstückchen auf, ohne die Unterhaltung zu unterbrechen. Der glatzköpfige, schlanke Mann am nächsten Tisch scannt ihre Figur mit den Augen und lächelt sie aufmunternd an. Anfang Dreißig, Anzugträger, uninteressant. Ihr Blick springt weiter. Der Grauhaarige am Fenster sitzt vor einem aufgeschlagenen Buch und rührt unaufmerksam in seinem Kaffee. Uwe – wenn er es denn ist – hat sich einen Platz an der Wand gesucht, wo eine rote, gepolsterte Bank die schmale Raumbreite einnimmt und vor der zwei kleine Tische nebeneinander stehen. Mann, sieht der gut aus, stellt Tina erneut fest. Noch einmal holt sie tief Luft, verstaut den kleingefalteten Stadtplan in ihrer Hosentasche. Nur Mut, denkt sie und geht zu seinem Tisch.
»Entschuldigung, ich kann das so nicht stehen lassen. Tut mir leid, dass ich Sie so angeblafft habe, da draußen.«
Sie lächelt ihn gewinnend an. Uwe lächelt zurück. Wow, was für ein Blick! Der junge Mann steht auf, weist mit der Hand einladend zu dem Stuhl an seinem Tisch. Tina plumpst auf das Polster.
»Nein, nein, ich muss mich entschuldigen. Ich war in Gedanken und habe Sie nicht aus dem Bus steigen sehen. Ich war unhöflich. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
»Gern. – Frieden?« Sie strahlt ihn an.
»Frieden.« Er winkt der Bedienung. »Bitte noch einen Kaffee zusätzlich.«
»Oh, Mohnkuchen, lecker«, murmelt Tina, als die Kellnerin kurz darauf serviert.
»Möchten Sie auch ein Stück?«
»Um Gotteswillen! Wissen Sie, wie viele Kalorien das sind?«
»Bei Ihrer Figur, ich bitte Sie. Da kann das doch kein Thema sein.«
Die Bedienung bleibt abwartend stehen. Der junge Mann teilt seinen Charme zwischen den beiden Frauen auf.
»Trotzdem. Nein, wirklich nicht. Vielen Dank.«
Meine Güte, wie banal ist das denn, denkt Tina. Sie beschließt, zur Sache zu kommen. Vorsichtig fischt sie den aus dem Internet heruntergeladenen Stadtplan – das vereinbarte Erkennungszeichen – aus ihrer Hosentasche und legt ihn deutlich sichtbar auf den Tisch.
»Sie sind fremd hier in der Stadt?«
»Sie nicht?«
Der junge Mann schüttelt den Kopf.
Zwei in einer fremden Stadt.
Der neue Roman ihres Lieblingsschriftstellers.
Ihr Chatpartner und sie haben nächtelang darüber diskutiert, sind sich dabei emotional immer näher gekommen. Trotz der großen Entfernung. Ist er es nicht, oder tut er nur so, weil der Anfang so total daneben war? Irritiert hört sie:
»Wollen Sie wenigstens mal kosten?«
»Mmh? Was? Ach so. Ja. Danke.«
Der junge Mann schiebt mit der einen Hand die mit einem Happen Mohnkuchen beladene Gabel vor ihr Gesicht. Die andere hält er schützend darunter. Die Geste lenkt sie prompt ab. Wie Mammi früher, denkt sie und sperrt den Mund auf. Jetzt füttert mich Uwe. Wenn er es denn ist. Mannomann. Der wird bestimmt mal ein super Vater. Tina schließt die Augen und kaut.
»Hhm, köstlich. Meine Oma backte Mohnkuchen. Wo gibt es denn den heute noch?«
»Na hier.«
»Fräulein, bitte zahlen«, reißt sie Mister Anzugs harscher Tonfall aus ihren Kindheitserinnerungen.
»Hallo Schatz«, hört sie unmittelbar danach eine weibliche Stimme und reißt die Augen auf. Eine dunkelhaarige Hochschwangere steht an ihrem Tisch, beugt sich herab, küsst Uwe und lacht.
»Übst du schon wieder, du werdender Vater? Füttern mit Gabel kommt viel später. Willst du uns nicht bekannt machen?«
»Äh, ja, Gabriele, meine Frau und äh, ja, wie heißt du eigentlich?«
»Tina. Und du?«
»Uwe. – Komm, setz dich, Schatz. Also, weißt du, das war nämlich so, Tina und ich haben uns eben erst kennengelernt, also nicht hier, sondern da draußen.« Uwe stottert. Gabriele schaut ihren Mann aufmunternd an. Tinas Gedanken schlagen Purzelbäume. Also doch. Oder nicht?
Der Mann im Anzug hat gezahlt. Beim Aufstehen schaut er kurz zu den drei jungen Leuten und stutzt. Tina. Tina Lange? Sein Blick fällt auf den Stadtplan. Jetzt wird ihm plötzlich klar, sie hat ihn nicht versetzt. Sie hat sich nur verspätet. Mehr als eine halbe Stunde. Er hasst Unpünktlichkeit.
»Hallo Tina«, sagt er laut und mischt Ironie in seine Stimme. »Und noch ein Uwe. Was es doch für Zufälle gibt. Schönen Tag noch.«
Weg ist er. Die Tür fällt geräuschvoll hinter ihm ins Schloss. Die beiden alten Damen schütteln synchron unwillig die Köpfe und monologisieren dann weiter aneinander vorbei.
Uwe Mahler! Tina springt auf, bleibt nach zwei Schritten abrupt stehen. Sein Stadtplan, ihr Erkennungszeichen, liegt neben der ausgetrunkenen Kaffeetasse. Eine Fliege läuft darauf hin und her, als suche sie einen bestimmten Weg.
»Aber, wieso …?« Mehr kommt nicht. Weitere Wörter leisten Widerstand.
Der Grauhaarige schlägt mit einem leisen Seufzer sein Buch zu und winkt mit einem Fingerschnipsen die Kellnerin herbei. Tina schaut irritiert hinüber und erkennt überrascht das ihr vertraute Cover des Romans.
Zwei in einer fremden Stadt.
Was geht hier vor?, kreiselt es unaufhaltsam durch ihre Gedanken.
***
Aufatmend tritt Uwe Mahler hinaus auf den belebten Marktplatz und schlendert langsam zu seinem Auto. Die wirkt im Chat viel intelligenter, denkt er und hakt den Vormittag ab.
***
Tina setzt sich wieder an ihren Platz und atmet dreimal tief ein und aus. Und plötzlich kann sie nicht anders, sie muss lachen. Sie lacht und weiß nicht, warum. Erst leise, dann immer lauter. Ihre Fröhlichkeit steckt an. Selbst die beiden alten Damen schmunzeln. Als der Grauhaarige Anstalten macht zu gehen, spricht Tina ihn an.
»Entschuldigung, ich sehe, Sie lesen den neuesten Roman von Frank Fischer. Wie gefällt Ihnen das Buch?«
»Geht so. Habe schon Besseres von ihm gelesen.«
»Mir hat es gefallen«, wirft Gabriele ein.
Während die beiden Frauen eine lebhafte Diskussion über den Roman beginnen, isst Uwe in Ruhe seinen Mohnkuchen auf. Das ist nicht sein Thema.
***
Eine Stunde später sitzt Tina glücklich und zufrieden wieder im Zug nach Hause. Dass sich Uwe Mahler aus dem Forum ausklinken wird, ist ihr klar. Es stört sie nicht. Sie hat die Handynummern von dem anderen Uwe und seiner Gabriele. Die beiden Frauen haben offensichtlich eine Wellenlänge und den gleichen Lesegeschmack. Sie freut sich auf Gabrieles versprochenen Anruf in den nächsten Tagen. Bis dahin wird sie Trügerische Idylle gelesen haben.
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